Prolog
Warum fühlt sich eine Regierungschefin mitten in der Nacht von Kollegen in Geiselhaft genommen? Warum wird ein distinguierter Volkswirtschaftsprofessor morgens um vier zum Fußballfan? Was lässt einen erfahrenen Unterhändler der Bundesregierung nervös in den Fahrstuhl flüchten? Was passiert wirklich, wenn sich Staatspräsidenten, Premierminister und Kanzler in Brüssel hinter verschlossenen Türen treffen?
Die in den Nachrichten verbreiteten Bilder von Europagipfeln kennt jeder: zwei gute Dutzend überwiegend dunkle Anzugträger plus wenige Damen, die sich zum Familienfoto auf die vom diplomatischen Protokoll sorgfältig mit Kärtchen markierten Plätze stellen. Vorne mittig die Staatspräsidenten, weil sie laut Protokoll den höchsten Rang haben, ringsherum die Premierminister. Ganz am Ende die Kanzler, das sind die protokollarisch am wenigsten wichtigen Chefs. Da stehen sie dann, 28 nationale Persönlichkeiten, zusammen mit den Präsidenten der Kommission, des Parlaments, des Rates. Sie lächeln oder nicken einander zu, wenden sich ab, schweigen – und entscheiden über die Zukunft von 506 Millionen Bürgern auf dem Kontinent.
Aber wie gehen die Mächtigen Europas abseits des Protokolls miteinander um? Wer bestimmt, wo es langgeht? Und wie wurden in den Krisenjahren von 2009 bis Mitte 2013 die Weichen gestellt? Beinahe monatlich kamen die Staats- und Regierungschefs in dieser Zeit zusammen, statt wie zuvor einmal im Quartal. Spannende und arbeitsreiche Zeiten für uns Brüssel-Korrespondenten. Nach der dramatischen Gipfelnacht des 29. Juni 2012 wächst unser Entschluss, dieses Buch zu schreiben.
Der 29. Juni 2012 ist die Nacht, in der Deutschland zuerst in der Fußball-Europameisterschaft gegen Italien und anschließend Bundeskanzlerin Angela Merkel die Deutungshoheit über die Nachrichten aus Brüssel verliert. Die Nacht, in der sich der besonnene Mario Monti spontan zur Squadra Azzurra, der italienischen Nationalmannschaft, bekennt und die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt sich in Geiselhaft genommen fühlt, weil die Südstaaten ultimativ Hilfe für ihre Banken einfordern. Die Zusammenkunft, die Angela Merkel veranlasst, nächtliche Pressekonferenzen einzuführen, um statt anderer selbst die Morgennachrichten zu Hause zu beherrschen, und damit ihren Stab in große Nervosität versetzt.
Unsere Geschichten stützen sich auf direkte Quellen. Auf Notizen, die dafür ausgewählte Diplomaten von Gipfelgesprächen anfertigen. Sie notieren, was gesprochen wird.
Es ist uns gelungen, streng vertraulich gehaltene Gipfelprotokolle zu lesen, die Einblick geben, wie es zugeht, wenn die Mächtigen zusammen am Tisch sitzen. Wer wem zur Seite springt. Ob es sie gibt, die Allianzen Nordeuropas gegen Südeuropa. Ob Merkel tatsächlich immer gewinnt und Frankreichs Staatspräsident François Hollande so schwach ist, wie es scheint. Und was Österreichs Kanzler Werner Faymann überhaupt bewegen kann.
Wir analysieren, wie 28 nationale Egoisten ihre heimischen Interessen auf europäischer Bühne verteidigen und wie sie dabei zu den größten Lobbyisten ihrer Heimatländer werden. Und wir gehen der Frage nach, ob Achim Greser und Heribert Lenz, deren Karikaturen regelmäßig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt werden, den Bürgern aus der Seele sprechen, wenn sie sagen: »Brüssel, das ist für uns so etwas wie eine Bad Bank, in der alles Schlechte und Giftige aus Europa gelagert wird und die dann niemand haben will.«
Für unser Buch haben wir mit einigen der Mächtigsten gesprochen, sowie mit hohen Beamten, Diplomaten, Sherpas und den Bürokraten im Maschinenraum der Europäischen Union. Nirgendwo sind Reporter so nahe bei Angela Merkel, dem britischen Premierminister David Cameron, François Hollande, Werner Faymann und ihren Kollegen wie in dem grauen Brüsseler Ratsgebäude. Oben sitzen 28 gewählte nationale Chefs, unten warten die Reporter. Zwischen den beiden Sphären wandeln EU-Diplomaten als Überbringer geheimer Botschaften. Sie erzählen nicht nur Brisantes, sondern auch Menschliches. Wie Spitzenpolitiker schon mal hadern, weil alles so kompliziert ist in Europa. Sie »sei an den Grenzen ihres fachlichen Verständnisses angelangt«, zitieren die Protokollanten Angela Merkel in einer schwierigen Verhandlungsphase über die neuen Bankenregeln beim EU-Gipfel am 26. Oktober 2011.1 Sie erzählen, dass der zyprische Präsident Dimitris Christofias gelobt werden will, weil er fast die Hälfte seines Kabinetts weiblich besetzt hat. Wie David Cameron die Einführung des Euro mit seiner Lebenszeit verknüpft. Wie froh einige Kollegen heimlich waren, dass Premier Silvio Berlusconi mit am Tisch saß, weil der Italiener »nicht so intellektuell daherkommt und die Anspannung gelegentlich durch einen Witz auflockert«.
Wer die Protokolle der Gipfel liest, kann die Erschöpfung nachvollziehen, die die Chefs befällt nach endlosen Diskussionen. Oder muss still lächeln, wenn nach immer neuen Plädoyers für milliardenschwere Konjunkturpakete Angela Merkel freundlich anmerkt, »dass man gerade auf Mikroebene viel für Wachstum tun könne«. Man hört sie dabei denken: Jungs, stopp jetzt, macht zuerst mal zu Hause was.
Wir waren dabei, als die Finanzkrise begann und der später sieglose Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, noch Bundesfinanzminister war und selbst nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman beinahe selbstherrlich erklärte, diese Bankenkrise sei eine rein amerikanische Angelegenheit. Wir kennen die Vorschläge für eine europäische Arbeitslosenversicherung, die europäische Rente und das europäische Kindergeld und erzählen, warum dies alles gut versteckt in den Schreibtischladen der Europäischen Kommission liegt. Wir haben recherchiert, warum die Tabakindustrie Milliarden Euro an Brüssel und die Mitgliedsstaaten zahlt und warum die Europäische Kommission ein breites Einfallstor für Interessenvertreter jeglicher Art ist. Und wir haben nachgerechnet: 35000 Mitarbeiter hat die Europäische Kommission, Tausende sind Übersetzer für eine der 24 Sprachen, die in der Europäischen Union gesprochen werden. Alle europäischen Behörden zusammen haben 60000 Beamte – für 506 Millionen Bürger. Im unmittelbaren Landesdienst des Landes Berlin stehen 116000 Beamte (für 3,5 Millionen Bürger). Die Stadt Wien beschäftigt knapp 50000 Beamte und Vertragsbedienstete (für 1,7 Millionen Bürger). Das amerikanische Heimatschutzministerium, eines von vielen Ministerien der USA, beschäftigt 240000 Menschen.
Europas überbordende Bürokratie ist ein hartnäckiger Mythos. Ebenso wie die Vorstellung, dass die da in Brüssel, diese überbezahlten Beamten, sich krude Dinge ausdenken, die sich wie eine Plage in den 28 europäischen Ländern ausbreiten.
Wir sagen: Das stimmt so nicht.
Alles, was in Brüssel an Gesetzen, Verordnungen und anderem entschieden wird, basiert grundsätzlich auf Vorschlägen, die aus den nationalen Hauptstädten kommen. Die Europäische Kommission ist so etwas wie die Gesetzeswerkstatt der nationalen Regierungen. In der Behörde entstehen Rechtstexte, die danach abgestimmt werden unter den 28 nationalen Hauptstädten und meistens auch im Europäischen Parlament. Wer durch die teilweise futuristischen Gebäude der europäischen Institutionen läuft, fühlt sich schnell an Fritz Langs Filmklassiker Metropolis erinnert. An die Arbeiter im Maschinenraum. Emsig eilende, hin und her laufende, hoch und runter fahrende Beamte. Fahrstühle, Türen, Flure. Jeder verrichtet die immer gleichen Vorgänge. Redet über die immer gleichen Themen. Unwirklich für jeden, der nicht im europäischen Metropolis lebt. Es gibt die Welt hier und die Welt dort – und genau das ist eine der großen Gefahren, denen die Europäische Union ausgesetzt ist. Die Bürger fühlen sich nicht gemeint, wenn von Europa die Rede ist.
Wir erzählen, wie die Chefs im Krisenjahr 2008 ihre heimischen Banken so beschützen, wie sie in den 50er Jahren ihre Stahlwerke und in den 70er Jahren die Autohersteller protegierten. Und warum dieser Fehler die Währungsunion 2012 beinahe in den Bankrott trieb. Wir wissen, wie der Euro-Rettungsfonds zufällig mit 440 Milliarden Euro gefüllt wurde, und wir beschreiben, warum die Europäischen Verträge der Kitt der Gemeinschaft sind. Europas Verträge sind nicht dafür da, Punkt für Punkt eingehalten zu werden. Sie sind die Seele einer Gemeinschaft aus 28 sehr unterschiedlichen Ländern, von den Sonnenstränden Griechenlands bis zum Industriehafen Rotterdam oder von Lettland bis Portugal, die sich gegenseitig versprochen haben, friedlich miteinander zu leben, Handel und Wandel miteinander zu betreiben. Verträge geben den 28 Ländern einen Rahmen, in dem sich alle wiederfinden können. Die Nationen Europas müssen großzügig miteinander umgehen, um zusammenleben zu können. Die Krise hat dazu geführt, dass sie sich ihrer eigenen Verletzlichkeit bewusst geworden sind.
Brüssel ist ein Spiegelbild der Europäischen Union. Im Europa-Viertel rund um den Place Schuman schiebt sich Betonplatte für Betonplatte ein neuer Palast aus dem Boden. Touristen versuchen aus den Bussen einen Blick auf die EU zu erhaschen. Doch ein identitätsstiftendes Symbol wie das Brandenburger Tor in Berlin oder das Weiße Haus in den Vereinigten Staaten gibt es nicht.
240 Millionen Euro soll der neue Sitz für den Präsidenten des Europäischen Rates und seine Mitarbeiter am Place Schuman kosten. Seit der Erweiterung der Union um die neuen Mitglieder in Ost- und Mitteleuropa platzt das alte Gebäude aus allen Nähten. Natürlich ist die Großbaustelle inzwischen verspätet, wann genau eröffnet wird, ist offen....