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Evangelikal: von Gotteskindern und Rechthabern

AutorHansjörg Hemminger
VerlagBrunnen Verlag Gießen
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783765574436
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
'Ein Wissenschaftler reist aus einem fernen Land nach Deutschland, um den religiösen Stamm der Evangelikalen zu erforschen. Gleich zu Anfang muss er feststellen, dass der Stamm kein geschlossenes Siedlungsgebiet hat, sondern dass in Deutschland Dutzende von religiösen und unreligiösen Stämmen durcheinander wohnen ...' Wer sind die 'Evangelikalen'? Sind sie mit dem wahren und richtigen Christentum gleichzusetzen, wie manche ihrer Vertreter meinen? Sind sie gefährliche christliche Fundamentalisten, politisch erzkonservativ und mit einem Weltbild aus vorigen Jahrhunderten, wie in den Medien oft dargestellt? Hansjörg Hemminger hat sie aus der Perspektive eines fi ktiven Völkerkundlers unter die Lupe genommen.

Hansjörg Hemminger, geb. 1948, Dr. rer. nat. habil., studierte Biologie und Psychologie in Tübingen und Freiburg und habilitierte sich auf dem Gebiet der Verhaltensbiologie des Menschen. Er war Weltanschauungsbeauftragter der Evangelischen Kirche in Württemberg.

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Leseprobe

2. Gegen die Verächter des Glaubens

Die Gründer der „Evangelical Alliance“ wandten sich gegen die aufgeklärte Theologie und gegen die Verweltlichung (Säkularisierung) der großen Kirchen. Deshalb kritisieren sie bis heute den historisch-kritischen Umgang mit der Bibel, die Offenheit der Landeskirchen bzw. der EKD gegenüber der religionsfernen Umwelt, vor allem die Aufweichung von moralischen Normen und herkömmlichen Lebensformen, die sie als biblisch begründet verstehen. Für die Analyse muss aber unterschieden werden zwischen den historischen Erfahrungen auf der einen Seite, die zur Entstehung der evangelikalen Bewegung führten, und den vielfältigen Reaktionen dieser Bewegung auf der anderen Seite. Die historische Erfahrung war und ist, dass die Geltung des christlichen Glaubens als Grundlage von Lebensordnung und Lebenssinn in der Neuzeit in Europa verloren ging. Der Prozess ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Diese Erfahrung ist in gewisser Weise einfach und monumental; sie betrifft nicht nur die neuzeitlichen Erweckungsbewegungen, die Freikirchen, Pietisten usw. Sie betrifft alle Christen und die gesamte westliche Kultur. Die Reaktionen darauf, die sich in der evangelikalen Bewegung bündeln, sind eine andere Sache. Sie sind vielfältig und zum Teil gegensätzlich. Oft sind sie nachvollziehbar und fruchtbar, manchmal auch nicht. Einige Reaktionen sind ein Spiegelbild des gesellschaftlichen Wandels, sind also selbst weltlich und modern.

Kirche, Glaube und die Ringparabel

Wie kam es zum Geltungsverlust von Glaube und Kirche etwa seit der historischen Zäsur des Dreißigjährigen Kriegs? Es ist hier nicht möglich, diese vielschichtige Entwicklung über Jahrhunderte nachzuzeichnen, aber einige Grunddaten müssen angeführt werden. Im 18. und 19. Jahrhundert traten innerweltliche Sinngebungen in Konkurrenz mit dem Christentum, zuerst ein aufgeklärter Vernunftglaube, der zu einem Wissenschafts- und Fortschrittsglauben wurde und revolutionäre politische Bewegungen inspirierte, vor allem bei der Gründung der USA und in der Französischen Revolution. Dann entstanden säkulare Ideologien wie Nationalismus, Sozialismus, Kommunismus usw. In der Konkurrenz mit diesen innerweltlichen Sinngebungen lösten sich die heilsgeschichtlichen und die überweltlichen (transzendenten) Inhalte des Christentums für viele Menschen auf, und zwar anfangs vor allem in der gebildeten Schicht der Bevölkerung, unter den Eliten. Der entscheidende Punkt war, dass die menschliche Vernunft zum Maßstab dessen wurde, was als wirklich und wahr gelten konnte. Und da die Wissenschaft sich auf die Letztinstanz der „Vernunft“ berief, setzte man das „wissenschaftliche Weltbild“ mit der Wahrheit gleich. Die evangelische Theologie folgte zum Teil dieser Entwicklung. Ein früher Vertreter ihres Aufklärertums war Hermann Samuel Reimarus (1694 bis 1768); die Titel seiner Hauptwerke sprechen für sich: „Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion“ erschienen 1754, darauf folgte 1756 die „Vernunftlehre als eine Anweisung zum richtigen Gebrauch der Vernunft in der Erkenntnis der Wahrheit“. Sein wichtigstes Werk erschien erst nach seinem Tod, nämlich die „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“. Diese religionskritische Schrift, die jede Form von Offenbarung als unvernünftig ablehnt, konnte er aus Furcht vor staatlichen und kirchlichen Repressionen nicht publizieren. Allerdings wurde Gotthold Ephraim Lessing (1729 bis 1781) stark von dieser Schrift beeinflusst, die er denn auch postum herausgab. Seine Ringparabel aus dem Drama „Nathan der Weise“ (1779) ist vermutlich der bekannteste und wirksamste Ausdruck des aufgeklärten Vernunftglaubens in Sachen Religion:

Ein Mann besitzt einen Ring, der seinen Träger „vor Gott und den Menschen angenehm“ macht. Da er drei Söhne hat und keinen von ihnen enttäuschen will, lässt er vor seinem Tod zwei Kopien des Rings machen und vererbt jedem Sohn einen Ring mit der Versicherung, er sei der echte. Die Söhne versuchen nach dem Tod des Vaters vor Gericht zu klären, wer den echten Ring bekommen hat. Der Richter weist sie ab mit der Begründung, dass der echte Ring den Träger anderen Menschen angenehm werden lässt. Wenn das bei keinem der drei Söhne der Fall sei, sei der echte Ring wohl schon lange verloren gegangen. Deswegen sollen alle drei Söhne glauben, ihr Ring sei der echte, und sich bemühen, seine gute Wirkung herbeizuführen.

Die Parabel zielt auf die drei damals bekannten großen Religionen Christentum, Judentum und Islam. Lessing erfand die Geschichte nicht, sie geht vermutlich auf das spanische Judentum zurück. Es ist klar, was Lessing seine Hauptfigur Nathan damit sagen lässt: Die Religionen sind nicht danach zu beurteilen, ob sie die Wahrheit über Gott und Welt sagen, sondern nach ihrer Fähigkeit, den Menschen zu verbessern. Entscheidend ist nicht die Erkenntnis Gottes, sondern „die Erziehung des Menschengeschlechts“ – so lautet der Titel des philosophischen Hauptwerks Lessings (1780). Und dazu können, so Lessing, die drei großen Offenbarungsreligionen gleichermaßen dienen. Oft wird gesagt, die Ringparabel sei als eine Begründung für religiöse Toleranz zu verstehen. Das ist nur eingeschränkt richtig. Die Parabel relativiert religiöse Wahrheiten grundsätzlich und orientiert das menschliche Leben um: Ziel ist es nicht mehr, den Willen Gottes zu tun, sondern einen neuen, besseren Menschen zu erzeugen. Religion ist dann gut, wenn sie den Menschen veredelt. Diese Haltung führt zwar auch zu religiöser Toleranz; aber nur nebenbei. An sich lässt sich Toleranz anders begründen, nämlich zum Beispiel mit dem Gebot Gottes, der Frieden will. Aber in der Folge der Aufklärung setzte sich weitgehend der lessingsche Toleranzbegriff durch. Für die Mehrheit unserer Zeitgenossen bedeutet Toleranz deshalb nicht, einen Menschen anderer Religion um Gottes willen zu achten und mit ihm Frieden zu halten. Toleranz bedeutet, in religiösen Fragen nicht zwischen wahr und falsch zu unterscheiden.

Die aufgeklärte Religion der Gebildeten

Der berühmte Theologe Friedrich Daniel Schleiermacher (1768 bis 1834) geht in seiner bedeutendsten Schrift „Über die Religion – Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ bereits 1799 davon aus, dass sich viele, wenn nicht die meisten gebildeten Zeitgenossen vom christlichen Glauben verabschiedet hatten. Ideologische Massenbewegungen wie in der Französischen Revolution, wie in Sozialismus und Nationalismus führten auch zu Kirchenfeindlichkeit in breiten Bevölkerungsschichten. Demgegenüber hielt die staatliche und kirchliche Obrigkeit an der Geltung von Kirche und Glauben zumindest äußerlich fest. Aber die „natürliche Religion“ bzw. die „vernünftige Verehrung Gottes“ wurde im gebildeten Bürgertum vorherrschend. Die evangelischen Kirchenleitungen (die damals Staatsorgane waren) dachten und handelten oft ähnlich. Ein Beispiel ist Johann Joachim Spalding (1714 bis 1804), der in Berlin als Konsistorialrat großen Einfluss hatte. Sein Frühwerk „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“ (1748) hatte das damals in der Theologie verbreitete Ziel, den christlichen Glauben von „widersinnigen Dogmen“ zu befreien. Das Wesen des Christentums sei, so meinte er, durch Vernunft zu ermitteln. Und ganz im Sinn Lessings bestünde dieses Wesen darin, den Menschen besser zu machen. Für Spalding fallen deshalb Glaube und Moral mehr oder weniger zusammen.

Eine Generation später war es für Johann Wolfgang von Goethe (1748 bis 1832), dessen geistiger Einfluss auf die deutsche Kultur kaum überschätzt werden kann, bereits kein Problem mehr, sich öffentlich kritisch zum christlichen Glauben zu äußern. Er sei, so schrieb er dem Theologen Kaspar Lavater (1748 bis 1801) in Zürich, zwar weder ein Widerchrist noch ein Unchrist, aber ein eindeutiger Nichtchrist. Goethe konnte mit dem „widersinnigen Dogma“ des Kreuzesgeschehens nichts anfangen und die Gottheit Jesu (Dreieinigkeitslehre) empfand er als Aberglauben. Daraus leitete er aber – wie die meisten seiner Zeitgenossen – keine Kirchenfeindlichkeit ab, sondern er hielt die Kirche für das Volksleben für unverzichtbar. Sie sollte allerdings vernünftige Wahrheiten über Gott und Mensch lehren und für moralische Maßstäbe eintreten. Ähnlich stand es in England und von dort kamen maßgebliche Impulse für die evangelikale Bewegung.

Die bürgerliche Lebensordnung setzte in England bis in das 20. Jahrhundert hinein die Mitgliedschaft in der Church of England und den Besuch des Gottesdiensts am Sonntag voraus. Glaube im christlichen Sinn, also eine Hoffnung auf Heil von Gott her und die Frage nach Gottes Willen für das eigene Leben, war damit nicht unbedingt verbunden. Dem stand eine Geschichte erwecklicher Bewegungen gegenüber, die mit den Puritanern des 17. Jahrhunderts beginnt, innerhalb der Staatskirche den Methodismus hervorbrachte und bis zu den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts reicht. Um 1800 waren große Teile der englischen Kirche vom Methodismus geprägt; sie bildeten die „evangelical party“ bzw. die „low church“. Man muss sich die Spannung zwischen ihnen und einer konventionellen Kirchlichkeit vor Augen führen, die als staatstragend verstanden wurde, um die Entstehung der evangelikalen Bewegung richtig einzuordnen. (Es gab allerdings auch andere Hintergründe, über die noch zu reden sein wird.) Man darf den Einfluss der „evangelical party“ auf die englischsprachigen Gesellschaften nicht unterschätzen. Er war durch die Puritaner und Methodisten weit größer als in Deutschland. Und da viele der „Dissenter“ in die USA auswanderten, um der kirchlichen Obrigkeit zu entgehen und ihren...

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