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E-Book

Evidenzbasierte Psychiatrie

Methoden und Anwendung

AutorStefan Weinmann
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl164 Seiten
ISBN9783170266094
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Die Menge an verfügbaren Therapien in der Psychiatrie wird immer größer. Gleichzeitig erhöht sich auch die Komplexität der klinischen Entscheidungssituationen. Damit Therapeuten in der Lage sind, die wissenschaftliche Evidenz, die unterschiedlichen Behandlungsverfahren zugrunde liegt, beurteilen zu können, sind methodische Kenntnisse unerlässlich. Dieses praxisorientierte Werk führt in die kritische Beurteilung von Studien, Reviews und Leitlinien ein. Anhand typischer Beispiele aus der psychiatrischen Literatur wird gezeigt, wie eine Beurteilung der Qualität und Anwendbarkeit therapiebezogenen psychiatrischen Wissens möglich ist.

Dr. Dr. Stefan Weinmann arbeitet als Arzt und Gesundheitswissenschaftler in der Abteilung Psychiatrie II der Universität Ulm im Bezirkskrankenhaus Günzburg.

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Leseprobe

1 Allgemeine Grundlagen und Prinzipien einer Evidenzbasierten Psychiatrie


1.1 Einleitung


Evidenzbasierte Psychiatrie zu betreiben bedeutet, sich der Grundlagen für klinische Entscheidungen in der Psychiatrie und ihrer methodischen Beschränkungen bewusst zu sein und die hochwertigste gegenwärtig verfügbare Evidenz zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren für konkrete Fragestellungen zu nutzen. Eine Evidenzbasierte Psychiatrie ist eine Psychiatrie der nachvollziehbaren und transparenten Entscheidungen. In jedem Fall werden die Präferenzen der Patienten miteinbezogen und zunehmend auch die Begrenztheit der verfügbaren Ressourcen in Rechnung gestellt. Eine Evidenzbasierte Psychiatrie legt ihre Informationsgrundlagen offen und macht sie einer Diskussion zugänglich. Evidenzbasiert zu behandeln bedeutet nicht, lediglich randomisierte kontrollierte Studien oder Meta-Analysen zu verwenden.

Die Prinzipien der Evidenzbasierten Medizin (EBM) wurden in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt, um Therapeuten bei klinischen Entscheidungssituationen in der Medizin in der Auswahl und Durchführung von Interventionen zu unterstützen. Die Basis bildete eine Methodenlehre aus den frühen 60er Jahren, die als klinische Epidemiologie bezeichnet wird (Feinstein 1985). Die EBM hat den Anspruch, dem Kliniker die zum Zeitpunkt der Behandlung beste wissenschaftliche Grundlage für ärztliche Entscheidungen zur Verfügung zu stellen (Haynes et al. 1996). Sie ist jedoch keine Methode zur Durchführung klinischer Forschung.

Die Grundfertigkeiten, um für eine klinische Fragestellung eine evidenzbasierte Lösung zu finden, können in vier Bereiche eingeteilt werden:

  1. Präzise Definition der Fragestellung oder des Problems,
  2. Planung und Durchführung einer effizienten Literatursuche, um die beste verfügbare Evidenz aus wissenschaftlichen Untersuchungen zu identifizieren,
  3. Kritische Beurteilung der gefundenen Evidenz,
  4. Berücksichtigung der Evidenz – und Abschätzung der Auswirkung ihrer Anwendung – im Kontext der konkreten Situation des Patienten, dessen Präferenzen und der verfügbaren Ressourcen.

Diese Fertigkeiten in ihren Grundzügen zu erlernen, ist vergleichsweise einfach. Die kontinuierliche effiziente und kritische Beurteilung der verfügbaren Evidenz während der praktischen Arbeit erfordert jedoch mitunter intensives und zeitaufwändiges Studium. Nicht alle Therapeuten sind daran interessiert, breite klinisch-epidemiologische Fertigkeiten zu erwerben, da in ihren Augen eine gute psychiatrische Versorgung auch ohne diese Kenntnisse möglich ist. An der Berechtigung und Erfordernis, die Forschungsliteratur systematisch in der Auswahl und Durchführung psychiatrischer Therapien zu berücksichtigen, wird heute allerdings kaum mehr gezweifelt.

Eine Alternative zur kontinuierlichen Bewertung von Primärstudien während der klinischen Arbeit ist die Nutzung sekundärer Evidenzquellen, in denen die Originalliteratur von anderen verlässlich bewertet wurde (evidenzbasierte Ressourcen). In diesen Zusammenfassungen werden die ausgewählten Studien einem methodischen Filter unterworfen, der einen minimalen Qualitätsstandard gewährleisten soll. Auch für diese Strategie der Nutzung empirischer Erkenntnisse sind jedoch Grundfertigkeiten der Evidenzbasierten Medizin unverzichtbar. Denn erstens ist die Fähigkeit, medizinische Originalliteratur und die Qualität evidenzbasierter Ressourcen zu beurteilen, ein Teil des Anspruchs der Patienten auf optimale Therapie. Zweitens werden Ärzte zunehmend mit Strategien konfrontiert, die Veränderungen des therapeutischen Handelns zum Ziel haben. Diese können die Implementation von Leitlinien in einer Klinik, Maßnahmen zur Verringerung der Medikamentenausgaben oder pharmazeutische Werbung für neue Arzneimittel sein. Nur wenn Grundfertigkeiten der Interpretation der medizinischen Literatur vorhanden sind, kann beurteilt werden, ob diese Strategien mit der besten verfügbaren Evidenz im Einklang sind. Drittens ist abzusehen, dass für eine erfolgreiche medizinische Karriere künftig nicht nur gebietsbezogenes Fachwissen, sondern auch methodische Kenntnisse entscheidend sein werden. Wenn auch nicht in voller Ausprägung, ist es doch möglich, dass ein Teil eines pessimistischen Szenarios wahr werden könnte: dass es bald zwei Arten von Ärzten geben wird – solche, die Leitlinien erstellen, und andere, die Leitlinien anwenden. Die entscheidende Möglichkeit, mitgestalten zu können, besteht im Erwerb von Grundfertigkeiten in Evidenzbasierter Medizin.

1.2 Zum Begriff der Evidenz in der Psychiatrie


Jede empirische Beobachtung einer Beziehung zwischen verschiedenen Ereignissen ist eine mögliche Form von Evidenz. Unstrukturierte Beobachtungen individueller klinischer Verläufe nach einer medizinischen Intervention, physiologische Experimente als auch multizentrische randomisierte Studien sind Quellen der Evidenz. Unsystematische klinische Beobachtungen sind jedoch besonders stark mit den Unzulänglichkeiten menschlicher Informationsverarbeitung behaftet. Nicht-randomisierte Studien ohne verblindete Zielgrößenerhebung bringen Interpretationsprobleme mit sich, da beispielsweise die Abgrenzung zum natürlichen Krankheitsverlauf, zu Placeboeffekten und zu den Auswirkungen von Begleitbehandlungen schwierig ist. Auch die Erwartungen der Therapeuten und der Patienten und das Ausmaß sozialer Erwünschtheit im Verhalten und in den Berichten der Patienten sind schwer von der eigentlichen Wirkung der Intervention abzugrenzen. Diese und weitere Arten von Bias im Sinne von Verzerrungen werden durch methodisch ausgefeilte Studiendesigns abgeschwächt oder vermieden. Daher kann eine Hierarchie der Stärke der Evidenz auf der Basis der methodischen Qualität entwickelt werden, welche insbesondere das Ausmaß des Risikos von Verzerrungen berücksichtigt (Tab. 1.1) (Guyatt & Rennie 2002). Diese Hierarchie ist nicht absolut. Wenn Behandlungseffekte sehr deutlich, groß und konsistent sind, können große Beobachtungsstudien überzeugendere Evidenz liefern als kleinere randomisierte kontrollierte Studien (RCTs). Es gibt jedoch viele Beispiele für Beobachtungsstudien mit vielversprechenden Ergebnissen, denen größere RCTs widersprochen haben. Ein Beispiel hierfür ist das sogenannte Debriefing. Debriefing ist eine psychosoziale Intervention für Einzelpersonen oder Gruppen, welches zum Ziel hat, diejenigen, die mit außergewöhnlichen Situationen oder Traumata konfrontiert wurden, emotional zu entlasten. Einige frühe Studien erbrachten positive Ergebnisse (Robinson et al. 1993; Shapiro et al. 1990), methodische hochwertige RCTs zeigten jedoch die bestenfalls fehlende oder sogar schädliche Wirkung dieser Intervention (Bisson et al. 1997; Wessely et al. 2000; van Emmerick et al. 2002). Daher sollten derartige nicht-experimentelle Studien immer vorsichtig interpretiert werden, wenn RCTs vorliegen oder möglich sind.

Bei der sogenannten n=1-randomisierten Studie wird ein Patient in verschiedene Paare von Behandlungs- und Kontrollperioden randomisiert. Mindestens drei Perioden sollten durchlaufen werden. Der Patient erhält zunächst eine Prüf- oder Kontrollintervention und im Anschluss daran die alternative Therapie. Die Reihenfolge, in der der Patient die Interventionen erhält, wird randomisiert. Patient und Arzt sind gegenüber der Therapie verblindet. Die RCT wird solange fortgeführt, bis Arzt und Patient sich über die Wirkungen und unerwünschten Wirkungen der Prüfintervention einig sind. Da es sich um eine individuelle Studie handelt, kann sie, wenn sie überhaupt machbar ist, sehr starke bis definitive Evidenz für die Wirksamkeit eine Therapie bei einem konkreten Patienten liefern. N=1-RCTs sind jedoch nicht sinnvoll, wenn eine Therapie eine Heilung herbeiführt, wenn Effekte einer Therapie über längere Zeit anhalten, auch ohne dass die Intervention fortgeführt wird, oder wenn ein selten auftretendes Ereignis durch die Therapie verhindert werden soll.

In der Psychiatrie spielen sie keine große Rolle, da der Leidensdruck durch die Symptome oft sehr groß ist, und die Zeit und Zustimmung des Patienten für eine Individualstudie oft nicht vorhanden sind. Daher sollen n=1-RCTs hier nicht besprochen werden.

Von „patientenrelevanten Ergebnisparametern“ spricht man dann, wenn der Patient eine für ihn wichtige Veränderung verspürt, oder eine für ihn wichtige Veränderung eintritt, die nicht zu bemerken ist. So sind z. B. Surrogatparameter wie Laborwerte meist nicht direkt patientenrelevant, wenn sie nicht konsistent mit der Mortalität oder Morbidität der Patienten verknüpft sind.

Tab. 1.1: Eine Hierarchie der Stärke der Evidenz für therapeutische Interventionen (modifiziert nach Guyatt & Rennie (Hrsg.) (2002) User‘s Guide to the Medical Literature. A Manual for Evidence-Based Medicine. Chicago, The American Medical Association Medical Press, S. 7)

  • Individualstudien, randomisiert (n=1-RCT)
  • Systematische Reviews randomisierter kontrollierter Studien (RCTs)
  • Einzelne RCT
  • Systematische Reviews von Beobachtungsstudien, die patientenrelevante Ergebnisparameter verwenden
  • Einzelne Beobachtungsstudie mit patientenrelevanten Ergebnisparametern
  • Physiologische Studien und Experimente
  • Unsystematische klinische Beobachtungen

1.3...


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