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E-Book

Ewige Jugend

Eine Kulturgeschichte des Alterns

AutorRobert P. Harrison
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783446250130
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Man ist nur so alt wie man sich fühlt - stimmt das? Unser Geburtsjahr sagt noch lange nichts darüber aus, wie es um unseren Körper steht oder wie wir selbst und andere Menschen uns wahrnehmen. Unser Alter, so Robert P. Harrison, hängt von der Welt ab, in der wir leben. Unsere Welt treibt einen verhängnisvollen Kult um die Jugend. Wenn eine alternde Gesellschaft die ewige Jugend für sich reklamiert, gibt es am Ende überhaupt keine Jugend mehr. Literatur und Philosophie liefern Harrison reiches Material für originelle Denkanstöße, immer ist bei ihm die Lust am Lesen auch die Lust zu denken. Sein Buch ist eine Kulturgeschichte des Alterns und meinungsstarke Gegenwartsdiagnose zugleich.

Robert P. Harrison, geboren 1954 in Izmir in der Türkei. Nach dem Studium in Frankreich und in den Vereinigten Staaten lehrt er heute französische und italienische Literatur an der Stanford University in Kalifornien. Bei Hanser erschienen zuletzt: Gärten. Ein Versuch über das Wesen des Menschen (2010) und Ewige Jugend. Eine Kulturgeschichte des Alterns (2015).

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Leseprobe

 

ERSTES KAPITEL

 

ANTHROPOS

 

 

 

Das faszinierende Phänomen
des Alters


 

Nichts im Universum, und wäre es ein Neugeborenes oder das Universum selbst, ist ohne Alter. Ein Phänomen, das nicht altert, ist nicht von dieser Welt. Und wenn es nicht von dieser Welt ist, ist es auch kein Phänomen.

Im Grunde ist unser Verständnis vom Wesen des Alters recht bescheiden, vielleicht weil sich unser Verstand eher in der Auseinandersetzung mit Gegenständen im Raum entwickelt hat als mit den verborgenen Feinheiten von Wachstum, Dauer und Akkumulation. Gewiss fällt es uns leichter, Zeit zu verräumlichen – sie als lineare oder chronologische Abfolge von Jetzt-Momenten zu denken –, als die vieldimensionalen, einander überlagernden Zäsuren des Alters zu ergründen. In der Tat neigen wir beharrlich dazu, Alter auf »Zeit« zurückzuführen, aber was ist Zeit anderes als eine ungeheure Abstraktion, ein flatus vocis? Erst das Alter liefert der Zeit ein Maß für Realität.

Die scharfsinnigsten Philosophen denken Alter als eine Funktion der Zeit; eine sorgfältige phänomenologische Analyse zeigt jedoch, dass wir Zeit als eine Funktion des Alters denken sollten. Immerhin ist noch jeder bisherige Zeitbegriff in gewisser Weise gealtert, also einem Alterungsprozess unterworfen. Gleiches gilt für die Ewigkeit, die ebenfalls der allgemeinen Sterblichkeit der Phänomene unterliegt. Ewigkeit erscheint uns heute nicht mehr als das, was sie für Platon war, als er und seine griechischen Zeitgenossen den Blick zu den Sternen erhoben. Ebenso wenig empfinden wir sie wie Dante, wenn er und die Christen seiner Zeit die himmlischen Sphären betrachteten. In der Tat ist Ewigkeit eine Vorstellung, die in unserem sich immer weiter ausdehnenden Kosmos keinen Platz hat, in einem Kosmos, von dem wir heute annehmen, dass er einen Anfang hatte und schließlich auch ein Ende haben wird. Insofern können wir sagen, dass Ewigkeit im Grunde aus unseren phänomenologischen Horizonten verschwunden ist, dass sie sich existentiell überlebt hat.

In seinem Buch L’Évolution creatrice (1907) hat der französische Philosoph Henri Bergson überzeugend nachgewiesen, dass die traditionelle Philosophie dazu neigt, Zeit eher geometrisch als organisch zu denken. Doch trotz all seiner tiefen Gedanken über la durée und die organische Form hat Bergson niemals eine Philosophie des Alters vorgelegt. Er entwickelte lediglich eine andere Philosophie der Zeit – eine, die eher auf biologischen als auf chronologischen Mustern beruhte. Sein Beitrag war ohne Zweifel ein bedeutsames Korrektiv, doch das Phänomen des Alters ist umfassender als das, was die Biologie dazu beisteuern kann. Denn Menschen sind biologische Wesen, die transbiologische Institutionen erschaffen; mit den Institutionen aber kommen kulturelle und historische Elemente ins Spiel, die bei Bergson und den meisten anderen Philosophen weitgehend außer acht blieben.

Alle Lebewesen gehorchen dem organischen Gesetz von Wachstum und Verfall, und in dieser Hinsicht stellen Menschen keine Ausnahme dar. Dem Rätsel der Sphinx zufolge gehen wir am Morgen auf vier Beinen, mittags auf zweien und, wenn wir lange genug leben, am Abend auf dreien. Ödipus jedoch entdeckte, kaum dass er in der Gewissheit, das Rätsel gelöst zu haben, in Theben angekommen war, dass die Dinge weit komplizierter liegen. Schließlich beginnt die Geschichte bereits vor der Geburt und geht nach dem Tod weiter. Anders gesagt, im Unterschied zu anderen Lebewesen wird anthropos in menschengeschaffene Welten hineingeboren, deren historische Vergangenheit und Zukunft weiter reichen als die Lebensspanne des einzelnen. Diese Welten, deren Gesamtheit die Griechen als polis bezeichneten, gründen auf einem institutionellen und kulturellen Gedächtnis, das ihren Bewohnern ein historisches Alter verleiht, welches seiner Natur nach ein ganz anderes ist als das biologische Alter. Da kein menschliches Wesen außerhalb solcher Welten mit ihren Vermächtnissen und Traditionen lebt, können wir sagen, dass die Menschen ihrer Natur nach »heterochron« sind, also über verschiedene Arten von Alter verfügen: ein biologisches, ein historisches, ein institutionelles, ein psychologisches. Nach und nach werden wir sehen, wie diese verschiedenen »Alter« miteinander verschränkt sind – sowohl auf der Ebene der Individuen als auch der Kulturen; halten wir hier einfach fest, dass in dem Moment, in dem anthropos die Bühne betritt, das Phänomen des Alters an Komplexität mindestens ebenso zunimmt wie in dem Moment, als das Leben auf unserem Planeten zum ersten Mal eine Spur hinterließ.

Derjenige Denker, von dem man eine brisante Philosophie des Alters erwarten würde, zumal was ihre menschliche Komponente angeht, ist Martin Heidegger. Heidegger dachte über Zeit radikaler nach als jeder Philosoph vor oder nach ihm. Doch auch er hatte – wie die metaphysische Tradition, an deren Überwindung er arbeitete – wenig über das Alter zu sagen. Heidegger lehrte uns, dass Zeit zeigend ist – dass sie einer Art Bewegung oder kinesis entspricht, die es dem Phänomen ermöglicht, zu erscheinen und von Gedanken und Worten erfasst zu werden. Er lehrte uns ebenfalls, dass die entbergende Dynamik der Zeit in der endlichen Zeitlichkeit des Daseins gründet. Weshalb er keine Anstrengung unternahm, die Zeitlichkeit des Daseins mit seinem Alter zu verknüpfen, und sei es in der nächstliegenden Bedeutung von Lebensphasen, ist schwer zu ergründen; denn wenn es um die existentialen Bestimmungen des Daseins geht, ist das Alter ebenso grundlegend wie Geworfenheit, Entwurf, Verfallenheit, Sein zum Tode und Mitsein. Gleichwohl bleibt das Dasein aus unerfindlichen Gründen in Sein und Zeit wie auch in Heideggers späterem Denken seinem Wesen nach alterslos.

Ich finde das verwunderlich, denn man könnte doch sagen, das Alter verhalte sich zur Zeit wie der Platz zum Raum. Nirgendwo in seinem Werk ist Heidegger überzeugender als dort, wo er aufzeigt, wie der Platz in seiner situierten Begrenztheit dem Raum vorausgeht. In musterhaft phänomenologischer Manier führt er vor, wie der wissenschaftliche Begriff eines homogenen Raumes aus der Öffnung des Daseins auf das »Da« seiner eigenen Hingehörigkeit hervorgeht oder von ihr ermöglicht wird. Man hätte von Heidegger eine ähnliche Analyse dazu erwartet, wie das Alter in seiner existentialen und historischen Ursprünglichkeit als Maßstab, wenn nicht als Quelle der endlichen Zeitlichkeit des Daseins und des chronologischen Begriffs der Zeit figuriert. Eine solche Analyse hätte ihm Gelegenheit geboten, zu zeigen, dass das stets endigende Wirken der Zeit in der Entfaltung des Alters und durch sie stattfindet, Tag für Tag, Jahr für Jahr, Ära für Ära und Epoche für Epoche. Leider erwägt Heidegger nirgendwo in seinem Werk das Alter als die Grenze der Endlichkeit, die es der Zeit erlaubt, in ihrem Zeigecharakter die Welt der Phänomene zu entbergen.

Lassen Sie mich kurz den Versuch machen, zu verdeutlichen, was alles, phänomenologisch gesprochen, außer acht bleibt, wenn es uns nicht gelingt, Zeit in Alter zu fundieren oder erstere aus letzterem herzuleiten.

Ich möchte mit der Feststellung beginnen, dass jedes Phänomen sein Alter oder, besser gesagt, seine Alter hat. Weshalb der Plural? Weil Entitäten erst zu Phänomenen werden, wenn sie wahrgenommen, intendiert oder begriffen werden. Daher bringt das Phänomen mindestens zwei voneinander unabhängige, aber miteinander verschränkte Alter zusammen: das Alter der Entität und das Alter des Begreifenden. Ein Junge und sein Großvater mögen in einem Urwald an der nordwestlichen Pazifikküste ihre Augen auf denselben Riesenmammutbaum richten, sie werden gleichwohl nicht dasselbe Phänomen sehen. Aufgrund ihres unterschiedlichen Alters erscheint es dem Jungen anders als dem Älteren. Der Himmel über mir bietet heute mehr oder weniger das gleiche blaue Schauspiel wie von jeher, doch seinem Alter nach ist es nicht derselbe Himmel. Als ich sieben war, war er das Band zwischen meinem Körper und dem Kosmos; mit zwanzig erschien er mir als eine Abstraktion; heute ist er die Kuppel zu einem Haus, von dem ich weiß, dass ich es nicht mehr allzu lange bewohnen werde; in Kürze wird er die Antwort darauf sein, was heute noch eine Frage bleibt.

Es führt zu nichts, wenn man sagt, ich »projizierte« mein Alter auf die Phänomene. Der Himmel ist mir immer als etwas Altersloses erschienen; und doch erscheint mir seine Alterslosigkeit, während ich altere, jeweils anders. Mein einziger Zugang zum Himmel und zur Welt der Phänomene überhaupt geht von meinem eigenen nichthimmlischen Alter aus. Wenn Identität Selbstgleichheit in der Zeit meint, dann ist das Alter das latente Element, das ein Differential in die Identitätsgleichung und damit in die Erscheinung der Dinge einbringt. Um denselben Gedanken etwas anders auszudrücken: Ich verleihe nicht dem Phänomen mein Alter; vielmehr erreicht mich das Phänomen vermittels der Rezeptions- und Perzeptionsformen, die zu meinem Alter gehören. Man könnte es auch kantischer ausdrücken und sagen, dass Zeit in der Kindheit und im Erwachsenenalter nicht dieselbe Anschauungsform ist oder dass die Einbildungskraft Zeit in der Jugend anders schematisiert als im Alter.

Gerard Manley Hopkins’ Gedicht »Spring and Fall«/»Frühling und Herbst«, in dem sich ein älteres lyrisches Ich an ein junges Mädchen wendet, drückt poetisch aus, was ich prosaischer über den Altersunterschied in der Selbstbekundung des Phänomens dargelegt habe:

 

Margaret, are you grieving

Over Goldengrove unleaving?

Leaves, like the things of man,...

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