Eine Studie von Jean-Michel Guy aus dem Jahr 2000 belegt, dass neben anderen kulturellen Bereichen vor allem die französische Filmkultur in der französischen Bevölkerung „solide verankert“ (Guy zitiert nach Lüsebrink 2004: 111) ist. Dieser hohe kulturelle Stellenwert bezieht sich jedoch nicht nur auf eine elitäre Gruppe, sondern ist in der breiten Masse etabliert und hat somit gegenüber anderen Künsten einen Sonderstatus (vgl. Walter 2004: 111).
Betrachtet man die identitätsstiftende Funktion von Medien, wie sie Anderson oder auch die Mediologie argumentiert, so ist der Film zunächst jedoch ein vergleichsweise junges Medium. Im Laufe des 19. Jahrhundert hatten sich viele europäische Staaten bereits „zu Nationen ideologisiert“ (Hayward 2005: 5) und erst am Ende dieses Jahrhunderts der Nationalismen ist die Erfindung des Kinos zu datieren (Anno 1895). Dabei fällt die Erfindung des Films in die Zeit eines ideologischen Scheidepunktes. So verortet Hayward die 'Geburt' des Films zwischen einem Zelebrieren des Nationalismus und einer ersten Reflexion des Konstrukts Nation und verweist somit auf die Juxtaposition der Erfindung.
Dieses Umdenken geht einher mit dem Ende der Kolonialzeit und einer gleichzeitig übereifrigen Militarisierung vieler Staaten (vgl. ebd.: 5). Es ist gleichzeitig die Dekade des Fin de siècle, in der ein Zerfall der Kultur befürchtet wurde. Diese Dekade, die sich von 1890 bis zum ersten Weltkrieg erstreckt, prägte sowohl Frankreich als auch das restliche Europa. Sie kennzeichnete vor allem eine Abwendung des Realen hin zum Imaginären- eine Tendenz, die sich besonders in den Künsten artikulierte. So schuf sie „Räume der Phantasie“ und produzierte eine „neue[n] Wahrnehmung von Körper, Raum, Zeit und Klang“ (Lubkoll 2002: 7). Nicht zufällig wurde der Film als projiziertes Medium dabei einer besonderen Rolle innerhalb der Gesellschaft zuteil und erzeugte ein narzisstische Geflecht zwischen Medium und nationaler Identität.
Der französische Filmkritiker Jean-Michel Frodon behauptet, dass die Veranlagung von Kino und Nation dieselbe sei, da beide auf dem Prinzip der Projektion beruhen. Genauso wie Kino mit der lichtmechanischen Projektion von Bildern arbeitet, entsteht nationale Identität aus der kollektiven Projektion von Idealbildern einer Gemeinschaft. Ähnlich formulieren Shohat und Stam in Anknüpfung an Kracauer und Jameson ein „nationales Imaginäres“, eine „gemeinschaftliche Einbildungskraft“, die, unter anderem, durch Bilder des Kinos entsteht. Hier treten der Grundgedanke Andersons und die erwähnten Ansätze zum Verhältnis von Raum und Identität wieder zum Vorschein, den Hediger und Schneider (2004) wie folgt auf das Kino anwenden: Aufgrund der Produktion von Bildern, die das 'nationale Imaginäre' anfüttern, ist der Zusammenhang von Film und Nation als ein „operatives Konzept“ zu verstehen - operativ in dem Sinne, dass hiermit gewisse Praktiken der Ex- und Inklusion einhergehen. Diese Praktiken sind diskursiver Natur, haben ein explizites „Wir-Gefühl“ zur Folge und führen nicht zuletzt zu einer affektiven Variante des Zugehörigkeitsgefühls zu einer Nation. Oft sind vermeintlich neutrale Filme „semantische Doppelagenten“ (Hediger/Schneider 2004: 221), die nationale Pro-jektionen von nationaler Geschichte mitliefern. Film fungiert dabei als ein Ort des nationalen Gedächtnisses, als der so genannte „lieux de mémoire“, um den Begriff des französischen Kulturhistorikers Pierre Nora aufzugreifen (vgl. ebd.: 216ff).
Dieses nationale Gedächtnis wird im Film durch Narrative transportiert, die vor dem Hintergrund nationaler Narrationen zu betrachten sind. Denn diese treten in zweierlei Gewand auf: Entweder, der Film stellt eine Literaturverfilmung dar und nimmt somit direkt Bezug auf ein nationales literarisches Kulturgut. In diesem Fall wird der kulturelle Artefakt in den Filmtext überschrieben und gelangt als nationalspezifische Narration auf dem Bildschirm. Vor allem in der französischen Filmgeschichte sind es Literaturverfilmungen, die als klassische Narrative wahrgenommen werden, wie beispielsweise die zahlreichen Adaptionen der Zola Novellen[3]. Oder der Film ist unabhängig von der Literaturgeschichte und liefert eine explizite oder implizite Konstruktion der Nation (vgl. Hayward 2005: 9).
Wie eingangs bereits erwähnt, geht mit der Profilierung der Imagination einer Nation, eines nationalen Gedächtnisses und nationalen Idealbildern eine Abgrenzung zu anderen Nationen einher. Schlesinger (2000) führt in diesem Zusammenhang Crofts an, der die Herausbildung nationaler Filmkulturen seit jeher als eine Alternative zum allseits präsenten Hollywood-Kino versteht. Er verweist auf die Notwendigkeit, nationale Filmkultur immer auch vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen zu betrachten und behauptet: „Indeed, it is precisely the extra-territorial cultural pressure of Hollywood's production, imported to a national space, that sets up the contemporary issue of national cinema“ (Schlesinger 2000: 24). Die größte Herausforderung für nationale Filmkulturen ist Schlesinger zufolge die Tatsache, dass der Hollywood-Film nicht als 'das Andere' gegenüber dem nationalen Film, sondern als der populäre Überbau allgemeiner Filmkultur betrachtet wird (vgl. ebd.: 24ff).
Aus diesem Grund begreifen es viele Staaten als kulturpolitische Aufgabe, die nationale Filmkultur zu schützen und sich von anderen Filmkulturen abzuheben. Higson sieht hierin eine weitere Form der Projektion nationaler Identität:
„One of the ways in which the nation talks to itself, and indeed seeks to differenciate itself from others, is in terms of state policy […,] as governements continue to develop defensive strategies designed to protect and promote both the local cultural formation and the local economy .[….] Such developments have traditionally assumed, that a strong national cinema can offer coherent images of the nation, sustaining the nation at a ideological level, exploring and celebrating what is understood to be the indigenous culture.“ (Higson 2000: 69)
Ein Beispiel hierfür ist das Maß, in dem sich ein Staat um die Restaurierung einheimischer Filmproduktionen bemüht. Denn je nach dem, wie sehr ein Staat sich um eine solche Instandhaltung bemüht, kann die nationale Filmkultur erhalten bleiben und tradiert werden. Glasze und Meyer (2009) formulieren es mit den Begriffen Andersons, wenn sie die Funktion von Kulturpolitik als eine „Reproduktion einer „imagined community“ und damit [als] Legitimation politischer Gemeinschaften[...]“ (Glasze und Meyer 2009: 194) betrachten. Allerdings bemerkt Pivasset (1971), dass in diesem Kontext die Verarbeitung nationaler Themen im Kino immer auch von der jeweiligen politischen Ausrichtung der Nation und dem entsprechenden Umgang mit historischen Themen abhängig ist (vgl. Pivasset 1971: 341).
Insgesamt ist der jeweilige Zusammenhang zwischen nationaler Kulturpolitik und dem Film bzw. Kino ein wichtiger Aspekt, unter dem nationales Kino zu analysieren ist. Daher soll dies an späterer Stelle der Arbeit an der französischen Filmpolitik vorgenommen werden. Ein weiteres Konzept dazu, nach welchen Kriterien ein nationales Kino noch zu betrachten ist, macht das „Konzept der National-kinematografien“. Dieses soll nachfolgend kurz umrissen werden, um verdeutlichen zu können, welche weiteren Kriterien für die vorliegende Arbeit relevant sind.
Aufgrund der Bedeutung des Kinos für das Konzept der Nation, haben sich die Filmwissenschaften schon seit langer Zeit um einen Beitrag zu der soziologischen Fragestellung, wie das (nationale) Bewegtbild einen Beitrag zur Vergesellschaftung führt, bemüht. Heutzutage sind dahingehende Analysen grundlegender Bestandteil soziologischer Untersuchungen zur Formierung nationaler Identitäten (vgl. Schlesinger 2000: 29).
Jedoch sind auch Entwicklungen innerhalb der internationalen Filmkultur ein Grund für die Beschäftigung mit dieser Fragestellung. Vor allem der Sektor, der Film als Kunst betrachtet, verstand es relativ früh, durch das Label des Filmautors/ der Filmautorin einen Film mit einer nationalen Marke zu versehen. Diese Handhabung fand ihren Höhepunkt in den 1960er Jahren: Die Wirtschaft reagierte auf das Konzept der Autorenschaft, das die französische Nouvelle Vague ins Leben gerufen hatte, indem anglophone Verlage anfingen, Literatur über nationale Kinematografien zu ver-öffentlichen. Auf diese Weise hat es sich durchgesetzt, angelehnt an die Literatur-geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, Filme in Zusammenhang mit Kategorien nationaler Kennzeichnung zu ordnen: nationale FilmemacherInnen, Entstehungsort des Films, technischer Fortschritt des nationalen Filmmetiers, nationale film-geschichtliche Aspekte, etc. (vgl. Crofts 1998: 385). Hediger und Schneider entwerfen aufgrund dieses Sachverhalts die Begriffstriade „Film-Nation-Autor“. Diese kann unter anderem herangezogen werden, wenn man die stark nationalstaatliche Ausrichtung bei großen Filmfestivals, wie Cannes, erklären will: Bis in die 1950er Jahre wurden die Beiträge der teilnehmenden Länder nicht von einer künstlerischen Kommission ausgewählt (wie es heute...