Um zu klären, inwiefern die heutige Gesellschaft für die Entwicklung und Verbreitung des Extremsports verantwortlich ist, können modelltheoretische Ableitungen auf Grundlage gesellschaftstheoretischer Erkenntnisse vorgenommen werden.
Extremsportliche Freizeitaktivitäten folgen einer gesellschaftlichen Entwicklung, die seit der frühen Neuzeit im Zuge des Modernisierungsprozesses eine schwindelerregende Dynamik entfaltet hat. In der Leistungsgesellschaft wie im Extremsport zählen die Leitwerte Bewegung, Tempo und Beschleunigung. Gefragt sind außerdem Flexibilität und Geschicklichkeit beim Überwinden von Hindernissen, die Meisterung aller Gefahren und Lösung aller Probleme. Der Extremsport reagiert zwar einerseits auf Defizite des (post-)modernen Berufs- und Alltagslebens wie z.B. Abwechslung, Aufregung und Körpereinsatz, zugleich lässt er aber auch jene Mentalität und jenen Sozialcharakter einüben, der von den so genannten „Erfolgsmenschen“ der Gesellschaft erwartet wird (vgl. Hartmann, 1996, S. 80/81). Das Ziel ist immer die Steigerung der momentanen Leistung.
Auch der Umgang mit dem Körper im Extremsport folgt den Prinzipien der modernen Leistungsgesellschaft: Disziplin, Ausdauer, eine hohe Frustrationstoleranz und der Verzicht auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung. „Die Lektion, die dem Bürger der modernen Gesellschaft von Kindesbeinen an eingebleut worden ist, bewährt sich nicht nur im Berufsleben, sondern auch in seiner ‚freien’ Zeit: Nur rastloses Tun sichert Erfolg“ (Handschuh-Heiß, 1996, S. 173). Der Körper eignet sich damit als Investitionsobjekt, denn an ihm lassen sich die investierten Anstrengungen sichtbar als in eigener Regie bewirkte Erfolge verbuchen, was diverse ökonomische Bereiche auf den Plan ruft (vgl. Handschuh-Heiß, 1996, S. 173/174). Der Extremsport repräsentiert die Leistungsgesellschaft also auf vorbildliche Weise.
Nach Beck (1986) besitzt die moderne Gesellschaft eine hohe Affinität zum Risiko. Diese Modernisierungsrisiken „sind ein pauschales Produkt der industriellen Fortschrittsmaschinerie und werden systematisch mit deren Weiterentwicklung verschärft“ (Beck, 1986, S. 29). Waren die Risiken von früher eher individuelle, persönliche Risiken, die der Einzelne oder eine Gruppe auf sich genommen hat, zeichnet sich das moderne Risiko durch seine Globalität aus. Diese Risiken gefährden das Leben auf dieser Erde, und zwar in all seinen Erscheinungsformen (vgl. Beck, S. 29). So wird auf der individuellen Handlungsebene die Fähigkeit überlebenswichtig, „Gefahren zu antizipieren, zu ertragen, mit ihnen biographisch und politisch umzugehen“ (Beck, 1986, S. 101). Der Umgang mit Angst und Unsicherheit wird in der Risikogesellschaft also zu einer zivilisatorischen Schlüsselqualifikation.
Auf den ersten Blick erscheint es als paradox, dass Mitglieder der Risikogesellschaft dann auch noch freiwillig ein sportliches Risiko eingehen und damit die Unsicherheit in ihrem Leben noch vergrößern. Bei näherer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass das gesellschaftliche Risiko nicht mit dem individuellen Wagnis verwechselt werden darf. Während man in das eine hineingeboren wird, wählt man das andere aus freien Stücken (vgl. Neumann, 2003, S. 100). Die Frage nach dem „Warum“ wird von Rummelt (2003) mit der Interdependenzthese beantwortet. Diese These geht davon aus, dass das Makrosystem Risikogesellschaft das Subsystem Risikosport bedingt. Was im Risikosport als positiv wahrgenommen wird, wird im Alltags- und Berufsleben oftmals als Schwäche angesehen. Im Risiko- und Extremsport finden Menschen also das vor, was sie in der Risikogesellschaft suchen: Hier dürfen Ängste benannt, Emotionen ausgelebt und Schwächen zugegeben werden. Extremsportler beschäftigen sich mit einer überschaubaren Aufgabe, erhalten unmittelbare Erfolgsmeldung und Anerkennung, besitzen Selbstverantwortung, usw. Gleichzeitig erlernen sie jene Eigenschaften, die in der heutigen Risikogesellschaft notwendig sind, wie Risikobereitschaft, Leistungsbereitschaft, Erfolgswillen, Entscheidungsfreude, Flexibilität, Fitness etc. Diese Indikatoren sind eben nicht nur im lebensbedrohlichen Risikosport notwendig, sondern auch (über)lebenswichtige Anforderungen im Berufsleben der Risikogesellschaft. Mit entsprechenden Risikoerfahrungen ausgestattet, ist man für die Risiken der Risikogesellschaft besser gewappnet als ohne sie. In einer auf Risiko eingestellten Gesellschaft wird die Bereitschaft, Risiken einzugehen, zunehmend trainiert, gefördert und belohnt (vgl. Rummelt, 2003, S. 210/211).
Extremsportler „tauschen Sicherheit gegen Unsicherheit ein und suchen ‚Sonntags-Risiken’, die sie in der Sonntagswelt für beherrschbar und für beeinflussbar halten, nicht aber diejenigen in der Alltagswelt“, so Rummelt (2003, S. 211). Man sucht somit Stress, Konflikte, Gefahren und Unsicherheiten im Risikosport, um Stress, Konflikten, etc. in der Gesellschaft zu entgehen. Extremsport ist also auch die Suche nach einem neuen Lebenssinn, einer neuen Lebensalternative und -perspektive. Denn Risikosport ist vor allem in Sinn-Notstandszeiten Sinngeber, die Risikogesellschaft jedoch Sinnnehmer. Bei der Ausübung von Extremsport flieht man somit vor fremdbestimmten Konflikten, um mit neuen, aber selbstbestimmten Konflikten diese Flucht zu legitimieren und gleichzeitig eigene Identitätsprobleme zu lösen. Der Extremsport kann somit als symbolisches Handlungsmuster ungelöster individueller aber gesellschaftlich determinierter Konflikte der Risikogesellschaft gedeutet werden (vgl. Rummelt, S. 212/213).
In den letzten drei Jahrzehnten wird als Zeichen eines allgemeinen Epochenwandels oftmals die „Ästhetisierung der Lebenswelt“ angeführt. Stark vereinfacht bedeutet dies, dass sich die Subjekte in den reichen westlichen Ländern nicht mehr primär zweckorientiert, sondern ästhetisch auf ihren Alltag beziehen. Dabei stilisieren sie ihre Lebensvollzüge auf unterschiedliche Art und Weise. Nach Schulzes „Erlebnisgesellschaft“ (1992) hätten in der postmodernen Gesellschaft soziale und regionale Herkunftswelten an verhaltensnormierender und orientierender Kraft eingebüßt. Außerdem hätten sich durch das Anwachsen des Einkommens und der damit vollzogenen Überwindung klassenspezifischer Notlagen die Handlungsspielräume für den Einzelnen enorm erweitert. Für das Individuum eröffnet sich somit die Chance, das Leben nach eigenen Neigungen und Vorlieben zu gestalten. Dabei kommt es ihm nicht mehr auf das Erreichen äußerer Erfolge an, sondern auf die Steigerung seines inneren Erlebens. Das Alltagsdenken folgt also nicht mehr dem Grundsatz der Zweckrationalität, sondern demjenigen der Erlebnisrationalität. Statt, wie früher, der äußeren Situation unterworfen zu sein, arrangieren sich die Subjekte heutzutage diese Situation so, dass sie ihnen angenehme Erlebnisse verspricht (vgl. Alkemeyer, 1995, S. 57/58). Als Leitidee und Basismotivation der Lebensgestaltung steht das Motto: „Erlebe dein Leben“ (Schulze, 1992, S. 59). Die Folge einer solchen Erlebnisrationalität ist die verstärkte Hinwendung des Subjekts zu sich selbst. Der Sport ist in Hinblick dessen ein hervorragendes „Selbstverwirklichungsmilieu“. Gerade die erlebnisorientierten Sportarten wie die Natur-, Extrem- und Abenteuersportarten repräsentieren u.a. diesen alltagsästhetischen Erlebnistyp (vgl. Neumann, 1999, S. 104, zitiert nach Schulze, 1992). In diesem Sportbereich erhalten das Selbsterleben und die Reizintensität eine besondere Ausprägung. „Mit dem „Kick“, den man erleben will und auf den es ankommt, setzt sich gewissermaßen eine neue Währungseinheit des befriedigenden Sport- und Selbsterlebens durch“ (Rittner, 1995, S. 29).
Nach Schuster (2004) eignet sich die Regulationstheorie von Ipsen (1991) besonders gut, um die westlich geprägte Gesellschaft zu beschreiben und in Zusammenhang mit Extremsport zu bringen. Diese Theorie stellt die gesellschaftlichen Veränderungen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor sich gehen, in einen Zusammenhang mit technischen und ökonomischen Veränderungen. Im Blickpunkt steht dabei der Prozess der fortschreitenden Rationalisierung. So teilen die Regulationstheoretiker die Zeit ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute in drei Phasen ein: Die vor-fordistischen Phase wird zeitlich auf etwa 1850-1918 festgesetzt und ist durch die zunehmende Rationalisierung der Landwirtschaft und der Vereinfachung der Nahrungsmittelversorgung gekennzeichnet. Im Fordismus, der von Ende des Ersten Weltkrieges bis Anfang der 1970er Jahre reicht, breitet sich das Ideal der Bequemlichkeit in der Gesellschaft aus und beginnt sämtliche Lebensbereiche zu durchziehen. Das herausragende Merkmal dieser Phase ist die Massenproduktion, die mit einer Standardisierung der Produktion, strengen Auflagen bei der Nahrungsmittelproduktion, veränderten Konsumgewohnheiten und der Kommodifizierung der Haushalte, sowie der gesamten Arbeits- und Lebenswelt einhergeht. Hinzu kommt, dass die Menschen nun auch mehr Freizeit haben. Die 70er...