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E-Book

Fahrtenbuch des Wahnsinns

Unterwegs in der Pendlerrepublik

AutorClaas Tatje
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641130749
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Odyssee zwischen Frühstück und Abendbrot

33 Millionen Deutsche pendeln zur Arbeit. Jeder Einzelne schreibt dabei eine eigene Pendlerbiografie, doch alle erzählen von den gleichen Negativerfahrungen: Pendeln kostet Zeit, Nerven und Geld; nicht selten geht die Fahrerei auf Kosten von Gesundheit, Familie und Beziehung.

Alle Partner und Kinder der Tages- und Wochenendpendler mitgezählt, ist so gut wie jeder mit dem Nomadendasein in Berührung. Das ewige Hin und Her macht eine Wesensart unserer Gesellschaft aus, die nicht nur Pendler betrifft, sondern Wirtschaftsfaktor und Politikum ist - und eine große Unbekannte in unserer Mitte.

Claas Tatje geht dem Prinzip Pendeln auf den Grund: Macht es uns krank? Ist es überflüssig im Netzzeitalter? Wer profitiert? Und wie sieht die Zukunft des Pendelns aus? Seine detaillierte Inventur des Themas beantwortet die Frage, ob es in puncto Pendeln Zeit ist, die Notbremse zu ziehen - und ist nicht zuletzt ein Survival-Guide für alle Pendler.

  • Odyssee zwischen Frühstück und Abendbrot
  • 33 Millionen Deutsche sind Pendler
  • Erstes Buch zum Brennpunkt-Thema Pendeln


Claas Tatje, Jahrgang 1979, studierte Wirtschaftswissenschaften und absolvierte anschließend die Deutsche Journalistenschule in München. Von 2008 bis 2012 war er Wochenendpendler zwischen Brüssel und Hannover, inzwischen endet seine Fahrt zur Arbeit bereits in Hamburg. Dort ist er Wirtschaftsredakteur der ZEIT.

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Leseprobe

Abfahrt

Hannover, 22. Juli. 2 Uhr morgens. Ich eile durch den Stadtteil List. Vorbei an der Wohnung, die im Tatort immer dann zu sehen ist, wenn Charlotte Lindholm nach Hause kommt, an der Reinigung, die Hemden für 1,49 Euro wäscht und bügelt, am Bistro Adesso, wo noch die italienische Mama der Familie kocht, und an der Bäckerei, deren Inhaber mal mit der Zubereitung eines Rehrückens »Das perfekte Dinner« auf VOX gewonnen hat. Auf dieser Straße bündeln sich täglich Erinnerungen und Gedankenfetzen: an Silvesternächte, die Taufe meiner Tochter und den Start in den Dänemarkurlaub. Und ich Idiot lasse all das mal wieder hinter mir.

In jener Nacht habe ich den Abschied von meiner Frau und der gerade einjährigen Tochter tatsächlich möglichst weit hinausgezögert. Widerwillig am Nachmittag den kleinen Koffer gepackt, dann in den Fahrplan geguckt und den Zug für 19:31 Uhr reserviert. Ich muss nach Brüssel. Ein Interview steht am nächsten Mittag an. Doch an diesem Sonntagnachmittag war die Luft mild, der Grill schon heiß und die Nachbarn kamen vorbei. Um 19 Uhr dann mein Entschluss: Nachtzug nach Köln, dann weiter nach Belgien.

Um 2:31 steige ich ein, wähne mich allein im Großraumwagen, doch welch Irrtum. Er ist voll! Junge Kerle im Schlafsack, Männer im dunklen Anzug und Frauen mit Augenrändern. Die meisten lehnen sich an Fenster und an Koffer. Es ist vollkommen egal, wann ich mich in diesem Land auf den Weg mache. Die Pendler sind schon da. Sie bevölkern Flughäfen, Bahnsteige und Autobahnraststätten, sichern Aral, Le Crobag und Volkswagen das Überleben. Riskieren ihr Leben auf Deutschlands Autobahnen, jagen dem Glück nach, das mal aus Anerkennung, dann aus Liebe oder ganz einfach aus Geld verdienen und funktionieren besteht.

Drei Jahre lang bin auch ich Woche für Woche zwischen Hannover und Brüssel gependelt. Als Journalist für DIE ZEIT war in Brüssel der Job, in Hannover die Frau. Heute zähle ich zur Gattung der Dauermobilen. Mal in Brüssel, mal in Hamburg, mal in Frankfurt, aber sicher zwei bis drei Tage die Woche unterwegs. Ich setze mich für ein Abendessen in den Zug nach München und für ein Hintergrundgespräch fahre ich nach Berlin.

Dieses Leben kann Spaß machen. Ich genieße es, abends in Brüssel nicht auf die Uhr zu gucken, weil erst am späten nächsten Vormittag wieder ein Termin in Düsseldorf ansteht. Im Zug dann Gespräche abzutippen, den Gedanken nachzuhängen oder einfach mal die Augen zuzumachen. Morgens in den Flieger zu steigen und ein paar Stunden später zur Recherche in Island wieder auszusteigen.

Zu oft ist es aber einfach die Hölle. Wenn der Zug sich auf unbestimmte Zeit verspätet, der Anzug zu Hause noch am Haken hängt, weil die Pendleramnesie zugeschlagen hat, oder im Stockwerk über meinem Hotelzimmer die Disco des Hauses untergebracht ist. Das sind die Momente, die Forschungen bestätigen könnten, wonach Pendler Stressspitzen erleben wie Kampfjetpiloten im Einsatz oder Polizisten, wenn die Demonstration eskaliert.

Kein Wunder, dass ich oft erkältet bin. Schlimmer ist nur, wenn es auch mal meine Frau erwischt, die mir dauernd den Rücken freihält. Oder, im schlimmsten Szenario: meine kleine Tochter. Dann implodiert binnen Stunden jeder noch so sauber getaktete Rechercheplan. Frust staut sich auf und entlädt sich in Streits um Nichtigkeiten und Banalitäten. Das sind die Momente, in denen der Beziehungskiller Pendeln ganz greifbar wird.

Ein Pendler fragt sich eigentlich nie, warum er sich all das antut. Die langen Fahrten, die kurzen Wochenenden oder der Dauerverzicht auf Sport. Ein Pendler fragt sich nur, wie lange er das mit sich, seiner Familie und seinen Freunden machen will. In dem Moment ist er schon mittendrin in einem Netz aus Widersprüchen und Selbsttäuschung, das meist linear zur Kilometerleistung wächst. Hier mal die Aufhebung der gängigsten Pendlerklischees: Arbeiten im Zug? Vergiss es! Niemals so verlässlich wie im Büro zu Hause. Telefonieren im Auto? Wenn es wirklich wichtig wird, ist es lebensgefährlich. Wer will schon bremsen, wenn er seine Mitarbeiter in der Firma per Freisprechanlage auffordert, Gas zu geben? Mobilität bringt grenzenlose Freiheit? Nicht einmal mehr über den Wolken. Künftig dürfen wir auch 10 000 Meter über dem Meer erreichbar sein. Wir Pendler arbeiten dann endgültig überall.

Schon der Begriff des Pendlers suggeriert eine Stetigkeit, die niemand im Auto erlebt. Jede Fahrt ist ein bisschen anders, nur anstrengend, das ist sie gewiss. Immerhin hatte sich fast jeder Vielfahrer, den ich für die Recherche zu diesem Buch gesprochen habe, vor der Abfahrt ins Pendlerleben eine Ankunftszeit vorgenommen, zu der sein Alltagsrhythmus wieder geruhsamer werden sollte. Am Ende dauerte die Fahrt dann meist etwas länger, ganz selten war sie kürzer als geplant. Und auf die Idee, unterwegs auszusteigen, kamen die wenigsten. Wer es dennoch wagt, hat meist genug Geld, den Karriereknick in Kauf zu nehmen.

Warum pendeln Menschen? Die meisten tun es, weil sie sich nicht entscheiden wollen. Niemals gegen die Familie, die Ehe, die Beziehung oder die Heimat. Und auf keinen Fall gegen das Unternehmen, den Job, das Projekt oder den Standort.

Können sechs Millionen Deutsche irren? So viele Menschen, zählt das Statistische Bundesamt, fahren täglich mindestens 25 Kilometer zum Job oder haben dauernd einen anderen Arbeitsplatz. Sogar 8,5 Millionen sind Tag für Tag mehr als eine halbe Stunde unterwegs, um zur Arbeit zu kommen.

Angesichts der Gesundheitsrisiken, der Folgen für Beziehungen und all der Kosten ist das schon recht irritierend. Im Grunde müsste das Gesundheitsministerium längst an jeden Zug schreiben: »Pendeln gefährdet Ihre Gesundheit! Fangen Sie gar nicht erst an!« Oder da, wo früher das Kennzeichen D am Heck der Autos klebte, den Hinweis anbringen: »Pendeln fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu!«

Pendler verzweifeln an der Unzuverlässigkeit der Verkehrsträger; daran, dass sie im Ungewissen darüber bleiben, wann sie ankommen. Selbst die Deutsche Bahn – manch Dauergast im Bordbistro mag das kaum glauben – hat das nun erkannt. Sie schickt ein Expertenteam ins Silicon Valley. Dort soll endlich eine Software gefunden oder optimiert werden, die Verspätungen der Bahn künftig in Echtzeit und minutengenau prognostiziert.

Dabei sind die wenigsten Pendler zum Pendeln gezwungen. Es gibt keinen Grund, aufs Land zu ziehen, um in der Stadt zu arbeiten. Vor allem Männer sind ziemliche Egoisten, wenn sie – wie ich selbst – Berufe ausüben, die dauernde Mobilität bedingen, unter der am Ende die gesamte Familie zu leiden hat. Wir lassen uns alle allzu gerne täuschen von schnellen Zug- und Flugverbindungen, die uns mit ganz Europa vernetzen. Sie sind fragiler als jede Seifenblase.

Wer sich auf solche Fernbeziehungen einlässt, darf auf Unterstützung hoffen. Aber nicht auf Mitleid. Erstaunlich aber ist: Während Menschen dazu neigen, über den Job, den Partner oder die Kinder zu jammern, ertragen sie das Pendeln stillschweigend. Der Vielfahrer macht nicht viel Gerede um sein Leben. Ein kurzes Nicken am Bahnsteig, ein Fingerzeig an der Tankstelle und schon wissen die Pendler: Wir sitzen im gleichen Boot und sind auch heute wieder unterwegs.

Die Reise durch die Pendlerrepublik Deutschland kann nur unvollständig sein angesichts von über 26 Millionen, die nicht mit dem Fahrrad oder – welch Luxus – zu Fuß zur Arbeit kommen, sondern auf Bus, Bahn, Auto oder gar Flugzeug angewiesen sind, um morgens pünktlich im Büro zu sein. Und doch haben meine Begegnungen mit Pendlern, die Reisen und Gespräche von München bis Kiel, von Jena bis Emden, von Tübingen bis Rostock erstaunliche Gemeinsamkeiten.

Wir Pendler kennen uns an den wuseligsten Bahnhöfen besser aus als auf dem Wochenmarkt vor der Haustür. Nirgendwo haben wir das Gefühl, unser Leben so im Griff zu haben wie beim Betreten eines Hauptbahnhofs. Wir kennen die Kaffeepreise der Ketten auswendig; wir wissen genauer als in der eigenen Küche, wo unter 300 anderen Magazinen und Tageszeitungen BILD und Süddeutsche zu finden sind, und wenn der Zug Richtung Köln 31 Minuten nach jeder vollen Stunde einfährt, stehen wir in engen Trauben exakter vor der Wagennummer 7 (wo die kostenlosen Reservierungen für Bahn.comfort-Kunden angezeigt werden) als ein Pulk Marathonläufer an der Startlinie.

Das sind die Tage, an denen jedes Rädchen ins andere greift. Es gibt aber auch die anderen Momente: die, an denen der Puls rast, Schweiß den Rücken runtertropft, und all das nicht, weil eine Klimaanlage in der Bahn ausgefallen ist, sondern die Bahn erst gar nicht kommt. Oder wenn, dann mit einem Lokschaden, der verbunden mit einem Böschungsbrand den Terminplan so durcheinanderwirbelt, dass die Reise gar nicht mehr angetreten werden kann.

Die Alternative zur Bahn ist das Auto. Zwei von drei Pendlern setzen auf ein Verkehrsmittel, das Jahr für Jahr einige tausend Unfallopfer fordert. Nicht genug damit: Wer wohlbehalten ankommt, steht in Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet, Stuttgart, Berlin oder München im Durchschnitt 71 Stunden im Jahr im Stau. Es ist kein Zufall, dass der Rachefeldzug gegen die Gesellschaft, den Michael Douglas im Film »Falling Down« so rigoros zelebriert, seinen Anfang in der morgendlichen Rushhour von Los Angeles nimmt.

Pendeln kostet Nerven. Aber wann macht es krank? Nach dutzenden Gesprächen mit Wissenschaftlern und eben so vielen Pendlern ließen sich handfeste Kriterien dafür entwickeln, worauf Pendler achten sollten, um gesund zu bleiben.

Für Beziehungen wird Pendeln spätestens ab einer 45 Minuten langen Fahrt zur Arbeit...

Blick ins Buch

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