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E-Book

Fantasyland

500 Jahre Realitätsverlust - Die Geschichte Amerikas neu erzählt

AutorKurt Andersen
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl736 Seiten
ISBN9783641231835
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
»Das postfaktische Zeitalter ist kein unerklärliches und verrücktes neues Phänomen. Im Gegenteil: Was wir jetzt sehen, ist nur die Spitze des Eisberges«, schreibt Kurt Andersen in seinem aufsehenerregenden Buch Fantasyland. Der Hang zum Magischen und Fantastischen, so der preisgekrönte Kulturjournalist, ist tief in die kollektive DNA der Amerikaner eingeschrieben. Er entstand, als europäische Siedler erstmals den Boden der »Neuen Welt« betraten, im Gepäck vor allem eins: ausgeprägten Individualismus und Lebensträume und Fantasien von epischem Ausmaß. Mitreißend und eloquent erzählt Andersen vom großen amerikanischen Experiment - und warum es so spektakulär scheiterte. Wer verstehen will, wie die Grenze zwischen Realität und Illusion derart verrutschen und ein Mann wie Donald Trump es ins Weiße Haus schaffen konnte, muss dieses Buch lesen.

Kurt Andersen ist amerikanischer Journalist und Mitbegründer des legendären 'Spy-Magazins'. Er schreibt für 'The New Yorker' und das 'Time Magazine' und moderiert die in Amerika sehr populäre Radiosendung 'Studio 360'. Sein erster Roman 'Tollhaus der Möglichkeiten' erschien 2000 im Karl Blessing Verlag. Andersen lebt mit seiner Frau und seinen Töchtern in New York.

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Leseprobe

1

Auf nach Fantasyland!

DIE IDEE ZU diesem Buch ist über einen langen Zeitraum in mir gekeimt. Schon ein paar meiner Artikel aus den späten Neunzigern gingen in die Richtung – Artikel über die amerikanische Politik, die immer mehr zum Showbusiness geriet, über Babyboomer, die sich alle Mühe gaben, für immer jung zu bleiben, über haltlose Verschwörungstheorien, die sich immer stärker etablierten, und über die explosionsartige Verbreitung von Talkradio-Sendungen, in denen es mehr und mehr vor allem um die haarsträubenden Ansichten der Moderatoren ging. 1999 erschien ein Roman von mir über einen Fernsehproduzenten, der zwei zukunftsweisende Serien auf den Markt bringt: eine Krimiserie, bei der die fiktiven Charaktere mit der echten Polizei zusammenarbeiten und echte Verbrecher hinter Gitter bringen, und ein Nachrichtenformat, dessen Zuschauer auch Szenen aus dem Privatleben des Nachrichtensprechers zu sehen bekommen.

Wirklich greifbar wurden meine Ideen und Thesen zu Fantasyland aber erst in den Jahren 2004 und 2005. Damals prägte Karl Rove, politischer Mastermind der Regierung George W. Bush, den bemerkenswerten Ausdruck reality-based community. Die Menschen »in der auf Fakten basierenden Gesellschaft, in der reality-based community, wie wir sie nennen«, sagte er gegenüber einem Reporter, »denken, dass sie zu Lösungen kommen, indem sie die wahrnehmbare Realität penibel studieren. Aber so läuft das nicht mehr in der Welt.« Natürlich sagte er das nicht ganz ironiefrei – doch zugleich war es auch sein voller Ernst. Ein Jahr später ging The Colbert Report1 auf Sendung. In den ersten Minuten der ersten Folge führte Stephen Colbert in seiner Rolle als rechtsgerichteter, populistischer Kommentator ein wiederkehrendes Feature ein, das er »The Word« nannte und in dem er jeweils einen bestimmten Ausdruck auf die Schippe nahm. Der Begriff der ersten Sendung war truthiness (etwa: gefühlte Wahrheit), ein von Colbert neu geprägter Begriff in Anlehnung an das Wort truth:

»Jetzt melden sich bestimmt gleich wieder ein paar ›Wortpolizisten‹, ein paar Vertreter der Webster2-›Wort-Fetischisten‹ und rufen: ›Hey, das ist doch gar kein richtiges Wort!‹ Tja, wer mich kennt, weiß, dass ich kein besonders großer Fan von Wörterbüchern oder Nachschlagewerken bin. Ich finde das elitär, immer diese Vorgaben, was wahr sein soll und was nicht. Oder was wirklich geschehen sein soll und was nicht. Wer ist die Britannica3 schon, dass sie mir verklickern will, der Panamakanal sei 1914 fertiggestellt worden? Wenn ich behaupten will, dass er 1941 fertig wurde, dann ist das mein gutes Recht! Ich traue keinen Büchern … immer nur Fakten, null Gefühl … Sehen wir der Wahrheit doch ins Auge, Leute: Wir sind eine gespaltene Nation. Es gibt die, die mit dem Kopf denken, und es gibt die, die mit dem Herzen wissen … denn genau von da kommt sie doch, die Wahrheit, meine Damen und Herren – aus dem Bauch.«

Wow – genau das ist es, dachte ich. In dem Moment wurde mir klar, auf welch seltsame Art sich Amerika in dieser Hinsicht verändert hatte. Die Begriffe truthiness und reality-based community hätten vor den Zweitausendern nicht im Geringsten das Zeug zum Witz gehabt.

Wie es zu diesem Wandel gekommen war, wurde mir ein paar Jahre später noch einmal klarer, als ich anfing, an meinem neuen Roman zu arbeiten. Darin geht es um einen Freundeskreis von Kindern, die in den frühen 1960ern James-Bond-Geschichten nachspielen, und später dann, 1968, als Collegestudenten im echten Leben eine Bond-mäßige regierungsfeindliche Verschwörung vom Zaun brechen. In den Sechzigern verschwammen Realität und Fantasie auf problematische Weise miteinander – das ging den Figuren in meiner Geschichte so, aber auch vielen echten Amerikanern. Über meine Recherchen, und als ich gedanklich immer tiefer in die Geschichte eintauchte, entwickelte ich allmählich ein völlig neues Verständnis dieser Zeit und ihrer Auswirkungen. Mir wurde klar, dass dies, bei all der Unbeschwertheit und all den positiven Folgen der gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche, auch der Zeitpunkt des Urknalls für truthiness gewesen war, für die gefühlte Wahrheit. Wenn die Sechzigerjahre nun aber tatsächlich einem nationalen Nervenzusammenbruch gleichkamen, dann können wir nicht davon ausgehen, heute darüber hinweg zu sein – denn es stimmt, was man über Genesung sagt: Wirklich geheilt ist man nie.

Mir wurde damals auch klar, dass sich dieses komplexe amerikanische Phänomen, das ich da zu entschlüsseln versuchte, nicht nur im Laufe von Jahrzehnten, sondern von Jahrhunderten entwickelt hatte. Wenn ich unserer Schwäche für Fantasien jeglicher Spielart wirklich auf den Grund gehen wollte, dann musste ich die Ranken und Zweige und Wurzeln viel weiter zurückverfolgen – ganz zurück, um genau zu sein, bis hin zu den Anfängen Amerikas.

Sie werden sicher nicht immer meiner Meinung sein, wenn ich viele Denkmuster, Glaubensvorstellungen und Verhaltensweisen als imaginär oder fantastisch einstufe. Vielleicht finden Sie auch, dass ich mit tiefen, persönlichen Überzeugungen zu urteilend umgehe. Wenn mir ein Moorhuhn vor die Flinte kommt, dann drücke ich auch ab, jedenfalls ziemlich häufig. Das heißt aber keinesfalls, dass ich grundsätzlich jede Art von Religion oder alternativem Glaubenssystem oder auch generell jede Verschwörungstheorie oder utopische Träumerei als töricht abtue. Wir alle befinden uns schließlich an irgendeinem bestimmten Punkt im Spektrum zwischen dem Pol des Rationalen und dem des Irrationalen. Jeder hat einmal eine Vorahnung, die er nicht erklären kann, oder hegt irgendeinen irrationalen Aberglauben.

Problematisch wird es erst, wenn die Sache aus dem Ruder läuft, wenn das subjektive Empfinden die Objektivität aushebelt, wenn Leute denken und handeln, als wären Meinungen und Gefühle ebenso wahr wie Tatsachen. Das amerikanische Experiment, die Fleischwerdung der großen aufklärerischen Idee von der intellektuellen Freiheit, die besagt, dass jeder Einzelne frei ist zu glauben, was auch immer er oder sie will, hat sich zu etwas ausgewachsen, das wir nicht mehr im Griff haben. Dieser Ultra-Individualismus war von Anfang an tief mit epischen Träumen verknüpft, manchmal auch mit epischen Fantasien – jeder einzelne Amerikaner, jedes Individuum aus Gottes erwähltem Volk, schuf sich sein eigenes, maßgeschneidertes Utopia, jeder von uns war frei, sich selbst anhand seiner Vorstellungskraft und seines Willens immer wieder neu zu erfinden. In Amerika haben diese zugegeben aufregenderen Elemente der Aufklärungsidee den nüchternen, rationalen, empirischen Teil längst fortgespült.

Im Laufe der Jahrhunderte haben wir Amerikaner uns immer intensiver allen möglichen Varianten des Magiedenkens und einem Alles-ist-möglich-Relativismus hingegeben. Immer stärker, und in den letzten fünfzig Jahren auch immer schneller, sind wir abstrusen Erklärungen nachgehangen und haben unseren Glauben an kleine und größere tröstliche, packende oder schauerliche Fantasien gepflegt. Und die meisten von uns haben dabei überhaupt nicht realisiert, wie einschneidend unsere seltsame neue Normalität inzwischen geworden ist. Das erinnert mich an den Frosch im Kochtopf, der in dem sich allmählich erhitzenden Wasserbad sein Schicksal erst erkennt, wenn es zu spät ist.4

Wir Amerikaner glauben – und ich meine wirklich glauben – in größerem Maße als alle anderen ein oder zwei Milliarden Menschen der reichen Welt an das Übernatürliche und Rätselhafte, an die Präsenz Satans auf Erden, an Berichte über erst kürzlich gemachte Ausflüge in den oder aus dem Himmel und an eine mehrere tausend Jahre alte Geschichte von der spontanen Entstehung des Lebens vor mehreren tausend Jahren.

Um die Jahrtausendwende fantasierte sich unsere Finanzindustrie zusammen, dass hochriskante Verschuldungen nun nicht mehr riskant seien, woraufhin Abermillionen Amerikaner sich zusammenfantasierten, dass sie fortan das Leben reicher Leute führen könnten; diese Vorstellung basierte auf der Fantasie, dass Immobilien immer nur in ihrem Wert steigen könnten, und das unaufhörlich.

Wir glauben, dass die Regierung und ihre Mitverschwörer alle möglichen entsetzlichen Wahrheiten vor uns geheim halten – etwa, was Mordanschläge betrifft oder Außerirdische, die Entstehung von Aids, die Anschläge des elften September, die Gefahren durch Impfstoffe und vieles mehr.

Wir häufen Waffen an, weil wir den Fantasien über unsere Vergangenheit als Pioniere nachhängen – oder in Erwartung eines imaginären Schusswechsels mit Verbrechern oder Terroristen. Wir legen uns Militärklamotten und die entsprechende Ausrüstung zu und tun so, als wären wir Soldaten – oder Elfen oder Zombies – , wir kämpfen in Schlachten, bei denen niemand stirbt, real oder in ungeheuer realistischen virtuellen Welten.

All das begann, noch bevor wir mit den Begriffen post-factual und post-truth (beide für postfaktisch) vertraut wurden. Und bevor wir einen Präsidenten wählten, der sich gegenüber Verschwörungstheorien, Wahrheit und Unwahrheit beziehungsweise dem, was die Wirklichkeit ausmacht, erstaunlich...

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