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'Fast täglich kamen Flüchtlinge'

Riehen und Bettingen - zwei Grenzdörfer 1933 bis 1948

AutorJean-Claude Wacker, Lukrezia Seiler
VerlagChristoph Merian Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl284 Seiten
ISBN9783856165871
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Überarbeitet und durch neue Aussagen von Zeitzeugen ergänzt, ist der Titel endlich wieder greifbar. Von ungebrochener Aktualität sind die Fragen, die das Buch am Beispiel der beiden Schweizer Grenzdörfer Riehen und Bettingen aufwirft: Wie erlebte die Bevölkerung die Jahre des Nationalsozialismus? Wie ging sie mit der Bedrohung und den zahlreichen Flüchtlingen um, die versuchten, die rettende Grenze zu überqueren? Die schweizerische Flüchtlingspolitik wird direkt aus der Perspektive betroffener Menschen dargestellt. Die Erinnerungen der Zeitzeugen sind ein bewegendes Zeitdokument. Einleitende Kapitel liefern historische Hintergründe zur restriktiven Flüchtlingspolitik der Schweiz in jenen Jahren.

Lukrezia Seiler-Spiess: Die Journalistin und Publizistin Lukrezia Seiler-Spiess wurde 1934 in St. Gallen geboren. Nach der Handelsmatura arbeitete sie als Verlagsmitarbeiterin im Walter-Verlag, Olten, und als Redaktorin bei der Illustrierten ' Die Woche '. Sie lebt seit 1965 in Riehen. Von 1971 bis 1994 wirkte sie als leitende Redaktorin des Jahrbuches ' z'Rieche '. Zusammen mit einer Arbeitsgruppe richtete sie das Dorf- und Rebbaumuseum Riehen neu ein. Für ihre Arbeiten erhielt sie 1988 den Kulturpreis der Gemeinde Riehen. - Lukrezia Seiler-Spiess ist verheiratet und Mutter zweier Töchter. Jean-Claude Wacker: Der Historiker Jean-Claude Wacker wurde 1956 in Basel geboren und lebt heute in Muttenz. Nach dem Studium der Geschichte und der Germanistik an der Universität Basel besuchte er das Kantonale Lehrerseminar. Zurzeit ist er als Schulleiter und Lehrer am Bildungszentrum kvBL in Reinach tätig. Daneben widmet er sich weiteren Studien zur schweizerischen Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg. 1992 erschien die gedruckte Fassung seiner Lizentiatsarbeit unter dem Titel ' Humaner als Bern! ' - Jean-Claude Wacker ist verheiratet und Vater zweier Söhne.

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Leseprobe

Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten


Kaum waren die Nationalsozialisten an der Macht, begann der Ausbau der Diktatur, die Entrechtung, Unterdrückung und Verfolgung Andersdenkender. Schon am 1.Februar 1933 schaltete Hitler mit Unterstützung des greisen Reichspräsidenten von Hindenburg den Reichstag aus und beschränkte die Presse- und Meinungsfreiheit. Göring wies die Polizeibehörden an, «dem Treiben staatsfeindlicher Organisationen mit den schärfsten Mitteln entgegenzutreten» und «wenn nötig, rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch zu machen».

Die erste Phase des Ausbaus der Diktatur gipfelte in den Ereignissen um den Brand des Reichstagsgebäudes in der Nacht vom 27. zum 28.Februar 1933. Aufgrund der «Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat» vom 28.Februar 1933, auch als Reichstagsbrandverordnung bezeichnet, wurden die wesentlichsten Grundrechte ausser Kraft gesetzt. Die Verhaftungswelle traf zunächst kommunistische Funktionäre und bekannte Mitglieder der intellektuellen und literarischen Linken. Mitte März waren allein in Preussen 10 000 Menschen inhaftiert; doch der Kreis wurde bald ausgedehnt. Die Folge dieses offiziellen Terrors war eine Massenflucht der politischen Opposition (siehe den Bericht von Heiri Strub). Viele von ihnen waren schon wegen ihrer jüdischen Herkunft gefährdet, den Ausschlag für ihre Emigration gab jedoch zunächst die aktive politische Gegnerschaft zum Nationalsozialismus. Wie begründet ihre Flucht war, zeigte sich schon in den ersten Monaten der nationalsozialistischen Herrschaft. 500 bis 600 politische Gegner wurden in dieser kurzen Zeit ermordet, Tausende auf grausamste Art und Weise gefoltert.

Die jüdische Emigration war viel grösser als die politische und erfolgte über die ganze Zeitdauer von 1933 bis gegen Ende des Krieges. Sie schwankte beträchtlich, je nach Art und Weise der Verfolgungsmassnahmen des Regimes, die in fünf Phasen zusammengefasst werden können.

Die erste Phase dauerte von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30.Januar 1933 bis zum Sommer des gleichen Jahres. Sie war durch den Terror der SA gekennzeichnet, der die Juden nicht verschonte. Der Terror wandte sich zuerst gegen die jüdische Intelligenz. Bücherverbrennung, Schreib- und Lehrverbote für jüdische Wissenschaftler sowie erste antijüdische Gesetzgebungsmassnahmen gegen Beamte, Universitätsangehörige, Rechtsanwälte und Richter führten schon bald zu einem Exodus bedeutender Wissenschaftler. In diese Phase fiel auch der Boykott der jüdischen Geschäfte vom 1.April 1933, der im Ausland einiges Aufsehen erregte. [1] Dieser Boykott war alles andere als harmlos oder nur eine wirtschaftliche Schädigung der jüdischen Gewerbetreibenden. Schon zu diesem Zeitpunkt gab es Überfälle auf Synagogen und Misshandlungen jüdischer Bürger, und bereits Anfang 1933 waren Juden als Folge von Gewaltmassnahmen umgekommen, wobei sich rassistische und politische Motive miteinander verbanden. Diese Ereignisse veranlassten denn auch viele deutsche Juden zur Flucht aus ihrem Heimatland.

Die zweite Phase erstreckte sich vom Sommer 1933 bis zum Frühjahr 1935. Der offene Terror wurde durch eine «schleichende Verfolgung» ersetzt, die auf grössere gewaltsame Aktionen gegen die Juden verzichtete. Hintergrund dieser zeitweiligen Beruhigung waren einerseits die Erholung der Wirtschaft sowie die negativen Auswirkungen, die die Boykotte vom 1.April 1933 im Ausland gezeitigt hatten. Andererseits lag der nationalsozialistischen Führung offenbar viel daran, das Ausland zu beruhigen. Die trügerische Hoffnung, Juden könnten in Deutschland doch unter einigermassen normalen Umständen weiterleben, führte auch dazu, dass viele bereits geflüchtete Juden wieder in ihre Heimat zurückkehrten in der Meinung, dass das Schlimmste wohl vorüber sei.

Die Illusionen der jüdischen Rückkehrer verflogen schnell, umso mehr, als die dritte Phase der Verfolgungen, die vom Frühjahr bis zum September 1935 dauerte, erneut mit einem Strassenterror begann, der im Juli 1935 in blutigen Krawallen in Berlin gipfelte und mit der Verkündung der «Nürnberger Rassengesetze» vom 15.September 1935 endete, welche aus den deutschen Juden Staatsbürger zweiter Klasse machten und die rassische Unterscheidung gesetzlich verankerte. Schon zuvor forderte die nationalsozialistische Regierung für Beamte den «Ariernachweis». Mit der Zeit wurde er auf andere Berufe ausgedehnt wie Notare, Rechtsanwälte, Ärzte, Hebammen, Apotheker etc. Die Juden in Deutschland sollten vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden. Ab 1936 wurden jüdische Kinder von deutschen Schulen verwiesen. Zu diesen Gesetzen kamen gezielte Verleumdungs- und Diskriminierungskampagnen der Partei in Versammlungen, Schulen, Zeitungen und im Rundfunk. Das antisemitische Hetzblatt «Der Stürmer» war unablässig und mit den widerwärtigsten Methoden darum bemüht, die Juden als Verkörperung des Bösen und als Todfeind der «arischen Rasse» hinzustellen.

Mit der vierten Phase (bis Herbst 1937) kehrte die nationalsozialistische Regierung wieder zur «schleichenden Verfolgung» zurück. Zu den wirtschaftlichen Erwägungen kam erneut die Rücksicht auf das Ansehen des Reiches im Ausland, denn 1936 wurden in Berlin die Olympischen Sommerspiele ausgetragen; für die Nationalsozialisten eine gute Gelegenheit, die Errungenschaften des «Neuen Deutschland» propagandistisch darzustellen. Angesichts der Anwesenheit der vielen ausländischen Journalisten wurde die SS angehalten, sich gegenüber Juden und Ausländern für die Dauer der Olympischen Spiele zurückzuhalten. Viele der antisemitischen Schilder wurden vorübergehend entfernt.

Mit der fünften Phase, die eigentlich bis zur Niederlage des nationalsozialistischen Terrorregimes dauerte, begann sich die Lage der Juden in Deutschland und später auch in Österreich dramatisch zu verschlechtern. Die nationalsozialistische Führung begann damit, die Juden konsequent aus dem Wirtschaftsleben zu «entfernen». Diese «Arisierung» der deutschen Wirtschaft steht in einem direkten Zusammenhang mit den Kriegsvorbereitungen des Dritten Reiches, denn je näher die Möglichkeit einer bewaffneten Auseinandersetzung rückte, desto dringlicher erschien es den Nationalsozialisten, die Juden aus den ihnen noch verbliebenen Stellungen in der Wirtschaft zu verdrängen. Ab Herbst 1937 setzte deshalb eine Flut von gewalttätigen Repressalien gegen jüdische Unternehmer ein, um die Arisierung grösserer Unternehmen schneller vorantreiben zu können. Angesichts dieser Unterdrückung wuchs die jüdische Emigration bis zum November 1938 schnell an.

Die ersten Abwehrmassnahmen der Schweiz


In den ersten Wochen nach der Machtübernahme durch Hitler und seine Partei kamen nur wenige Flüchtlinge in die Schweiz. In den Monaten März und April 1933 hingegen stellten die Behörden in Basel einen grossen Zustrom jüdischer Flüchtlinge fest. Bis Ende April wurden 6159 eingereiste Juden registriert. Die meisten von ihnen kamen in den ersten Apriltagen – eine direkte Reaktion auf den Boykott der jüdischen Geschäfte in Deutschland. Annähernd neunzig Prozent kehrten allerdings nach einem kurzen Aufenthalt wieder nach Deutschland zurück. Der Restlichen scheinen sich vor allem in Frankreich niedergelassen zu haben oder reisten in ein anderes Exilland weiter. Schon nach wenigen Wochen normalisierte sich der Grenzverkehr.

Die schweizerischen Behörden reagierten sehr schnell. Bereits am 31.März 1933, also noch vor dem Beginn der eigentlichen Boykotte, wies das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) die Kantone an, bei der Zuwanderung von «Israeliten» grösste Zurückhaltung zu üben. Die Schweiz könne nur ein Transitland sein. Zwar wurde den Juden aus humanitären Gründen ein vorübergehender Aufenthalt zugestanden, gleichzeitig betonte man jedoch, dass sich die Schweiz wegen der Überfremdung [2] «vor allem gegen eine Festsetzung wesensfremder Elemente mit allen zu Gebote stehenden Mitteln wehre». [3]

Da die Schweiz für viele als das klassische Asylland galt, in dem Flüchtlinge auf Schutz und Humanität hoffen durften, war sie 1933 für viele der Tausenden von Menschen ein erstes Fluchtziel. Sie sollten bitter enttäuscht werden. Die erwähnten ersten Weisungen des EJPD, die sich schliesslich in einem Bundesratsbeschluss vom 7.April 1933 niederschlugen, zeigten eine von Furcht vor Überfremdung und Überlastung des Arbeitsmarktes diktierte Abwehrhaltung. Zusammen mit einem latenten Antisemitismus, der vor allem bei den Behörden immer wieder sichtbar wurde, bestimmten sie bis weit in den Krieg hinein die geltenden Richtlinien der Flüchtlingspolitik. Darüber hinaus schuf man schon im Jahre 1933 eine Unterscheidung, die in späteren Jahren für die Aufnahmepolitik gegenüber den jüdischen Flüchtlingen bestimmend sein sollte. So schrieb Heinrich...

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