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E-Book

Faszination Gewalt

Was Kinder zu Schlägern macht

AutorJosef Sachs, Volker Schmidt
VerlagOrellFüssli
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783280038192
Altersgruppe13 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Lausbubenstreiche und jugendlichen Übermut gab es schon immer. Doch seit einigen Jahren werden schwere Straftaten von Minderjährigen häufiger. Junge Menschen kommen wegen Schlägereien, Raub, Vergewaltigungen und sogar Mord mit dem Gesetz in Konflikt. Der Trend zu mehr Brutalität und Gewalt schreckt auf. Was macht Jugendliche zu Tätern? Sind zu viele Freiheiten in der Erziehung, instabile Familienverhältnisse oder die Gewaltverherrlichung in Videos und Computerspielen daran schuld?

Volker Schmidt ist forensischer Kinder- und Jugendpsychiater. Als medizinischer Gutachter und Therapeut hat er täglich mit jugendlichen Straftätern und deren Familien zu tun. Er berät Justizbehörden und ist ein gefragter Referent zum Thema Jugendgewalt. Josef Sachs ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er arbeitet als Gerichtspsychiater und hat eine reiche Erfahrung mit der Beurteilung und Therapie von jugendlichen Gewalttätern. Als gefragter Experte äußert er sich regelmäßig in den Medien und an Veranstaltungen zum Thema Jugendgewalt.

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Leseprobe

3

 

»Früher war alles besser!«

Das Gesicht der Gewalt im zeitlichen Wandel

Die Medien thematisieren Jugendgewalt meistens dann, wenn es um Einzelereignisse von schier unglaublicher Brutalität mit jugendlichen Hauptakteuren geht. Es sind Berichte, die ratlos machen, Ängste auslösen und Aggressionen gegen »die Jugend« oder bestimmte Gruppen von Jugendlichen aufkommen lassen. »Wie konnte so etwas geschehen? Was ist nur los mit unserer Jugend?«, fragen besorgte Erwachsene, die Berichte von Schlägereien und sexuellen Übergriffen Jugendlicher mit Unverständnis zur Kenntnis nehmen. Auf die Betroffenheit der Bevölkerung reagieren die Medien wiederum mit zeitkritischen und manchmal auch kontroversen Hintergrundberichten. Experten erklären die Vorfälle mit Statistiken zur Entwicklung der Gewaltbereitschaft der Jugendlichen. Die Frage, ob es sich bei den Gewaltexzessen Jugendlicher um ein altes Phänomen in neuem Erscheinungsbild handelt, ober ob wir damit rechnen müssen, dass es immer schlimmer wird, liegt im Raum. Wir werden gleich sehen, dass die Frage falsch gestellt ist und sich so nicht beantworten lässt.

Gewiss, die Menschheitsgeschichte ist zu einem großen Teil von Gewalthandlungen geprägt, wobei als Akteure ganz überwiegend junge Männer in Erscheinung traten. Archäologen haben festgestellt, dass in der Jungsteinzeit (5500–2500 v. Chr.) die Hälfte aller Männer daran starb, dass ihnen in jungen Jahren der Schädel eingeschlagen wurde. Auch die Bibel gibt ein Bild von brachialer menschlicher Gewalt und liest sich stellenweise wie ein Kriminalroman. So steht zum Beispiel im Ersten Testament: »So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch leben« (4. Mose 31,17–18).

Als Motiv für Gewalthandlungen finden wir nicht nur die Verteidigung von Leib und Leben, sondern auch die Wiederherstellung von verletzter Ehre, die Demonstration von Macht und die Ausdehnung des eigenen Einflusses. Verpönt war nur die nicht legitimierte Anwendung von Gewalt innerhalb der eigenen Gruppe. So schrieb Cäsar in seinen »Commentarii de Bello Gallico« (58–50 v. Chr.): »Räubereien haben nichts Entehrendes, wenn sie außerhalb der Grenzen des Stammes unternommen werden; man sagt, sie geschähen zur Übung der Jugend und zur Überwindung der Schlappheit.« Andererseits wurde sogar innerhalb der eigenen Familie zur Gewalt gegriffen, wenn es zum Beispiel um Erbschaften oder Schulden ging. Im Frankenreich erwürgten im fünften nachchristlichen Jahrhundert König Chlodwigs Söhne, als einer von ihnen umgekommen war, die Söhne ihres verstorbenen Bruders, um sie vom Erbe auszuschließen.

So wie heute Jugendcliquen auf Einbruchstouren gehen, Kioske überfallen oder rivalisierende Gruppen ausrauben, gab es bereits in früheren Jahrhunderten jugendliche Banden, die um des schnöden Mammons willen Gewalt anwendeten und Autoritäten herausforderten. Zur Fasnachtszeit im Jahre 1477 zogen rund 1700 Burschen im Alter von 15 bis 25 Jahren aus der Innerschweiz nach Genf, um eine Brandschatzsumme einzutreiben. Provokativ führten sie eine Flagge mit, auf der ein wilder Eber mit einem Kolben (dem Symbol für Unzufriedenheit) abgebildet war. Aufgrund dieser Fahne ging der Raubzug unter dem Namen »Saubannerzug« in die Geschichte ein. Er konnte schließlich durch einen Vergleich beendet werden, wobei die Jugendlichen und jungen Erwachsenen vier Fässer Wein und zwei Gulden für jeden der ihren erhielten.

Auch heute können sich die meisten Erwachsenen erinnern, dass es schon zur Zeit ihrer Jugend so etwas wie »Jugendgewalt« gab, auch wenn das Phänomen damals noch nicht so genannt wurde. Rückblickend mag es mitunter sogar erstaunlich klingen, in welchem Ausmaß Regelverletzungen und Kräftemessen unter Anwendung von Gewalt bis weit in die 1960er- und 1970er-Jahre toleriert wurden. Ein älterer Mann meinte zum Phänomen, dass sich Jugendliche zunehmend am Bahnhof in rivalisierenden Gruppen tätlich auseinandersetzen, das sei ja nur die moderne Form einer altbekannten Freizeitaktivität junger Männer. In seiner Jugend hätten sie sich jeden Sonntag nach dem Kirchgang getroffen, um die gleichaltrigen Jugendlichen eines Nachbardorfs zu verprügeln. Außer periodischen Maßregelungen durch den Pfarrer sei kein Erwachsener eingeschritten. Allerdings hätten sie auch nie schwerere Verletzungen verursacht.

Jugendliche, deren Gewaltdelikte sich durch besondere Brutalität auszeichneten, und Jugendliche, bei denen sich abweichendes Verhalten wie Impulsivität, Gewaltbereitschaft, Lügen, Stehlen und Schulschwänzen wie ein roter Faden durch die Kindheitsgeschichte zieht, waren aber schon immer Ausnahmeerscheinungen. In der älteren Literatur wird davon ausgegangen, dass sich etwa 5 Prozent eines Jahrgangs so verhielten, teilweise abhängig von familiären Disharmonien, aber unabhängig von Intelligenz und sozialer Schicht. Jugendliche aus oberen sozialen Schichten fielen lediglich weniger auf als Unterschichtjugendliche, weil sie häufig in Nobelinternaten untergebracht wurden, wodurch die Problematik teilweise kaschiert werden konnte. Die derart von der Norm abweichenden Jugendlichen wurden als Menschen beschrieben, die nur von Augenblick zu Augenblick leben und zu tieferen Gefühlen unfähig sind. Sie seien unfähig, sich unbändig zu freuen, ergriffen zu sein, traurig zu sein, sich in andere einzufühlen oder tiefere Beziehungen zu haben (Ronald Furger, mündliche Mitteilung, 1992). Diesen Typus von Jugendlichen gibt es – allerdings unter anderen Bezeichnungen – auch heute noch. Fast überall auf der Welt sind 3 bis 5 Prozent der Jugendlichen für 35 bis 50 Prozent aller Delikte verantwortlich. Diese sogenannten Intensivtäter sind in der Regel männlich und zeichnen sich durch Frühdelinquenz, Vandalismus, Diebstähle, frühen Nikotin-, Alkohol- und Drogenkonsum sowie geringe Frustrationstoleranz aus.

In den meisten Kulturen und Ländern kennt man das Phänomen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich vorwiegend in öffentlichen Räumen aufhalten, rauben, stehlen und Alkohol trinken oder Drogen konsumieren. Teilweise erhalten diese Gruppen sogar einen gewissen Kultstatus. In Frankreich gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts Straßenjugendliche, die in Banden Diebstähle und Raubüberfälle begingen, Schlägereien verursachten und Feste feierten. Sie wurden »apaches« genannt, für alles Unheil verantwortlich gemacht und gleichzeitig wegen ihres unabhängigen Lebens und ihres Wagemuts in gewissen Kreisen des Bürgertums heroisiert. In Deutschland gab es zur Zeit der Weimarer Republik (1918–1933) in den Städten rund 600 sogenannte »wilde Cliquen«, die ihre Mitglieder vorwiegend aus sozial randständigen jungen Männern rekrutierten. Die Gangs waren ausgesprochen hierarchisch strukturiert und verfügten über eine große kriminelle Energie. Sie verbreiteten Angst und Schrecken, neigten zu Gewalthandlungen, raubten Handtaschen und verdingten sich zum Teil als Strichjungen. Ihre Anführer wurden »Cliquenbullen« genannt. Mädchen, von denen es nur wenige gab, mussten sich als »Cliquenkühe« den Jungen unterwerfen. Die Cliquen grenzten sich durch ihre äußere Erscheinung voneinander ab. Sie trugen Lederhosen mit auffallenden Hosenträgern oder Gürteln, Wadenstrümpfe und weiße Hemden mit Aufschlägen.

Die Berichte über raubende und Schlägereien anzettelnde Jugendliche aus früheren Zeiten dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Ausmaß und die Verbreitung von jugendlicher Aggressivität je nach gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen unterschiedlich sind. Besonders groß ist die Gewaltbereitschaft bestimmter Gruppen von Jugendlichen in einer Gesellschaft, in der es aufgrund eines starken Bevölkerungswachstums anteilsmäßig viele junge Männer gibt, insbesondere wenn diese weder über Beschäftigung noch soziale Perspektiven verfügen, und wenn gesellschaftliche Umwälzungen zu einer Verschiebung von Wertvorstellungen und somit zu einer inneren Verunsicherung führen. Das erklärt zum Beispiel die Verrohung der Sitten zur Zeit der Völkerwanderung, in den Jahrzehnten nach der Französischen Revolution und zur Zeit der Industrialisierung. Langeweile, Frustration, Zerstörung tradierter moralischer Werte und soziale Not lassen die Köpfe der Menschen, ganz besonders der jungen Männer, zu Brutstätten der Gewalt werden.

Aus allen Industrieländern wird, in unterschiedlichem Ausmaß und teilweise mit einer gewissen Zeitverschiebung, über eine Zunahme der von Jugendlichen begangenen Gewaltdelikte in den späten 1980er- und den...

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