Die Welt um uns herum verflüchtigt sich. Alte, verfestigte Strukturen schmelzen dahin und werden stetig durch schnellere und beweglichere Aggregatszustände ersetzt. Soziale und politische Strukturen behalten ihre Gestalt nicht mehr für eine längere Zeit bei, sondern werden umgehend wieder eingeschmolzen und dem Wandel unterworfen bevor sie sich zu festen und stützenden Formen entwickeln können. Dies ist das Bild der Gegenwart, welches der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman in seinem Werk Flüchtige Moderne (Bauman [2000] 2003) und seinen zahlreichen weiteren gegenwartsdiagnostischen Publikationen seit den 1990er Jahren hinsichtlich der Entwicklung der Moderne über die Postmoderne hin zu einer verflüchtigten Form der Moderne, von ihm als Flüchtige Moderne betitelt, entwirft. Glaubt man Bauman, so trifft die Tendenz der zunehmenden Verflüchtigung und des konstanten Wandels auf alle Aspekte unseres Lebens in der westlichen Hemisphäre zu, sie erfasst Gesellschaft, Politik, Kultur und Wirtschaft gleichermaßen und breitet sich im Zuge der Globalisierung über den gesamten Erdball aus. Und es ist eben diese zunehmende Verflüchtigung, welche aus Baumans Sicht die gegenwärtige soziale Welt charakterisiert und einen fundamentalen Wandel hin zur Flüchtigen Moderne ankündigt.
Betrachtet man die frühe Moderne, so war diese noch geprägt von Faktoren wie Größe, Gewicht oder Masse, wohingegen gegenwärtig das „Kleinere, Leichtere, Beweglichere“ (Bauman [2000] 2003, S. 20) im Fokus steht. Die Wirtschaft wurde erleichtert durch den Übergang von den festen Fabrikhallen aus Stein und Mörtel des Fordismus in denen “schwere“ Waren gefertigt wurden, hin zu einer “leichteren“, “gewichtsloseren“ Form in der hauptsächlich das Handeln mit Informationen und Dienstleistungen im Mittelpunkt steht. Güter nehmen nun vielfach immaterielle Formen an und so bewegen sich Waren wie beispielsweise Musik oder Bücher zunehmend anhand von Datenströmen anstelle ihr physikalischen Ausgangsformen. Ebenso zirkuliert das Geld freier als jemals zuvor und fließt zum Teil nur auf Basis eines einzelnen Mausklick. Doch nicht nur die Wirtschaft ist im hohen Maße der Verflüchtigung unterworfen, vielmehr dringt diese Entwicklung in alle gesellschaftlichen Bereiche vor und beginnt sie zu verändern. Ob Beziehungen, Arbeitsstrukturen oder Kommunikationsformen, sie alle werden von der zunehmenden Verflüchtigung erfasst.
Zygmunt Bauman bietet im Rahmen seiner zahlreichen Bücher eine Vielzahl präziser Beobachtungen und Analysen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse mit ihrer Tendenz zur Verflüchtigung und der voranschreitenden Auflösung fester Strukturen in allen Bereichen. Allerdings ignoriert er dabei aber fast vollständig die Interaktion, welche zwischen festen und flüchtigen Strukturen im Rahmen dieses Wandlungsprozesses stattfindet (vgl. auch Ritzer/Murphy 2002, S. 52). Der Pfad zur Flüchtigen Moderne wird von Bauman weitestgehend als eine geradlinige Entwicklung mit nur einer Richtung beschrieben, in welcher die flüchtigen Elemente alles Feste hinwegfegen und ersetzen, ohne dass es zu einer Gegenwehr seitens der bestehenden Strukturen kommt. Dabei vermeidet er es, genauer auf das entstehende Spannungsfeld zwischen festen sowie flüchtigen Elementen im Rahmen der Wandlungsprozesse und die wechselseitige Beeinflussung der beiden Elemente einzugehen. Ich möchte mich von daher der Meinung von George Ritzer und James Murphy anschließen, dass Baumans Arbeiten über die Entwicklung der Moderne hin zur Flüchtigen Moderne zwar den Werkzeugkasten der Soziologie um nützliche Instrumente zur Betrachtung sowie Untersuchung der Gegenwart erweitert haben, es zur vollständigen Erfassung der Komplexität des derzeitigen sozialen Wandels dennoch eines präziseren Einblick in die Interaktion zwischen festen und flüchtigen Elementen bedarf (vgl. Ritzer/Murphy 2002, S. 52). Ritzer und Murphy analysieren und belegen in ihrem Essay Festes in einer Welt des Flusses (Ritzer/Murphy 2002) treffend, dass feste Elemente auch innerhalb einer bereits verflüchtigten Gesellschaft der Postmoderne weiterhin als Instrumentarien dienen können, um flüchtige Ströme umzulenken, zu bremsen oder zu kanalisieren und legen dar, welche Formen der Interaktion sich aus diesem Einsatz ergeben. Aufgrund dessen möchte ich im Zuge dieser Arbeit noch einen Schritt weiter zurück gehen und das initiale Aufeinandertreffen von Gesellschaften mit festen Strukturen moderner Ordnung mit der aufkommenden Verflüchtigung und den daraus resultierenden Phänomenen betrachten. Somit verhält sich der in dieser Arbeit zu untersuchende Bereich im Grunde spiegelbildlich zu dem von Ritzer und Murphy untersuchten: Nicht verbleibende feste Elemente in einer verflüchtigten Gesellschaft sollen betrachtet werden, sondern vielmehr das erste Eindringen flüchtiger Elemente in eine feste Struktur moderner Ordnung. Die Forschungsfrage, welcher dabei unter der Annahme von Baumans Theorien zur Flüchtigen Moderne nachgegangen werden soll, ergibt sich aus dem Versuch der Untersuchung des Spannungsfeldes zwischen festen Strukturen und flüchtigen Elementen im Rahmen ihres eben beschriebenen Aufeinandertreffens. Wie verhalten sich feste Strukturen moderner Ordnung im Angesicht flüchtiger Ströme und umgekehrt? Will man diesen Fragen nachgehen und geht man davon aus, das in den meisten westlichen Ländern die Transformation von festen Strukturen moderner Ordnung hin zu einer Form der Flüchtigen Moderne bereits weitestgehend abgeschlossen ist, so ist es sinnvoll, die Grenz - und Außenbereiche dieser globalisierten Entwicklung zu betrachten und sich dorthin zu begeben, wo die Ausläufer der Flüchtigen Moderne gerade zum ersten Mal auf die noch existierenden festen Formen moderner Ordnung treffen und diese zu durchdringen beginnen.
Blickt man auf das aktuelle Weltgeschehen, so zeigt insbesondere die Entwicklung im Rahmen des arabischen Frühlings, Zeichen eines massiven Wandels fester Strukturen im Angesicht flüchtiger Ströme. Die ehemals festen und autokratisch geprägten Strukturen der dortigen Regime brachen im Frühjahr 2011 in einer nie für möglichen gehaltenen Welle des Protestes zusammen und befinden sich seit diesen Tagen in einem konstanten Prozess der Umformung und Neufindung. Eine bedeutende Rolle in diesen Umstürzen wurde dabei auch immer wieder, insbesondere in Ägypten und Tunesien, dem Internet zugeschrieben. Einer technischen Innovation, die sich wohl wie keine zweite als Motor und als Sinnbild für die Beschleunigung- und Verflüchtigungstendenzen der Postmoderne bezeichnen lässt. Mit seiner zunehmenden Präsenz in allen unseren Lebensbereichen und seiner inhärenten Eigenschaft, im Grunde alles, mit dem es in Berührung kommt - Güter, Märkte, Menschen oder Informationen - zu verflüchtigen, durchdringt es immer mehr Räume. Insbesondere die Verflüchtigung von Informationen durch die neuen Medien haben das Internet für Staaten wie Ägypten oder Tunesien nicht nur zu einem Fenster in die westlichen Konsumgesellschaften gemacht, sondern auch zu einem mächtigen Kommunikationsinstrument jenseits der staatlichen Kontrolle über das die Bürger ihren Unmut gegenüber dem repressiven Regimen akkumulieren und ihren Widerstand organisieren konnten.
Zielsetzung dieser Untersuchung ist mithin das Spannungsfeldes zwischen festen Strukturen und flüchtigen Elementen anhand der Ereignisse im Rahmen des Arabischen Frühlings zu untersuchen. Als Ausgangspunkt dafür kann aufgrund des limitierten Rahmens dieser Arbeit nicht der gesamte arabischer Raum, sondern nur ein einzelnes Fallbeispiel betrachtet werden. Diese Bearbeitung bezieht sich von daher ausschließlich auf die Ereignisse im Rahmen der ägyptischen Revolution im Frühjahr 2011, denen aufgrund der hohen Relevanz Ägyptens im arabischen Raum eine besondere Bedeutung zukommt. Anhand des Aufeinandertreffens der festen Strukturen moderner Ordnung, welche in den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen Ägyptens immer noch zu einem großen Teil vorherrschend sind, mit der verflüchtigten Struktur des Internets, soll deren wechselseitige Beziehung und Beeinflussung dargelegt werden. Zudem wird aufgezeigt, wie sich feste Strukturen moderner Ordnung im Angesicht flüchtiger Ströme und umgekehrt verhalten. Im Rahmen der Untersuchung soll damit der eingangs skizzierten Forschungsfrage nachgegangen werden und Baumans Theorien mit den realen Ereignissen und Entwicklungen in Ägypten in Verbindung gesetzt werden. Aufgrund der theoretischen Ausrichtung der Forschungsfrage ist dafür die Untersuchungsmethode der Literaturanalyse im Verbund mit der Übertragung sowie Anwendung der theoretischen Erkenntnisse auf die tatsächlichen Begebenheiten des gewählten Fallbeispiels erforderlich.
Daraus ergibt sich folgender Aufbau der Arbeit: Nach der Einleitung (Abschnitt 1) sollen im ersten Schritt Baumans gegenwartsdiagnostische Theorien zur Moderne zusammengefasst werden. Dies umfasst in erster Linie die Entwicklung der Moderne von ihrer ursprünglich festen hin zu ihrer gegenwärtigen verflüchtigten Form. Abschließend werden die wichtigsten Merkmale von festen Strukturen der Moderne und flüchtigen Strukturen der Flüchtigen Moderne zusammenfassend herausgestellt, um so eine Möglichkeit der Kategorisierung anhand dieser Kriterien zu bieten (Abschnitt 2.2). Die Einordnung der Hauptelemente der Untersuchung - die ägyptische Gesellschaft sowie das Mubarak-Regime auf der einen Seite und das Internet auf der anderen Seite - in diese Kategorien soll anschließend im Rahmen der strukturellen und historischen Betrachtung...