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«Festgenagelt sein»

Der Prozess des Bettlägerigwerdens

AutorAngelika Zegelin
VerlagHogrefe AG
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl230 Seiten
ISBN9783456752600
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Bettlägerigkeit ist ein häufiger Umstand in Pflegezusammenhängen. Umso erstaunlicher ist es, dass über Bettlägerigkeit kaum etwas bekannt ist: Welche Ursachen gibt es, sind verschiedene Ausprägungen unterscheidbar, wie gehen Betroffene damit um? Ja, selbst der Begriff «Bettlägerigkeit» ist unklar - sind auch die Menschen als bettlägerig zu bezeichnen, die kurzfristig und mit Hilfe aufstehen können? Diese Forschungsarbeit gibt Antworten auf diese Fragen. In einer breiten Literaturrecherche wird deutlich, dass bisher vor allem die pathophysiologischen Auswirkungen von «Bettruhe», einem befristeten Zustand des Liegens, gut untersucht sind. In der vorliegenden Studie wurden 32 liegende Menschen zur Entwicklung ihrer Bettlägerigkeit befragt, die Ergebnisse wurden im Forschungsstil der «Grounded Theory» aufbereitet. Dabei zeigte sich, dass eine Verkettung unglücklicher Umstände schließlich das Dauerliegen herbeiführt. Bettlägerigwerden ist ein Prozess, in dessen Verlauf vor allem das Phänomen der Ortsfixierung in den Vordergrund tritt. Zahlreiche Faktoren, die zum Dauerliegen führen, können beeinflusst werden. Aus den Ergebnissen der Studie lassen sich viele Hinweise entnehmen, um eine unerwünschte Bettlägerigkeit zu vermeiden. «Bettlägerigkeit ist keine medizinische Zwangsläufigkeit. Sie hängt weder mit dem Alter eines Menschen zusammen noch mit der Schwere der Krankheit, an der jemand leidet. Stattdessen ist sie meist eine Verkettung unglücklicher Umstände, die man sehr häufig vermeiden könnte.» DER SPIEGEL 52/2004 «Wer immer noch glaubt, dass die Pflegeforschung nichts für die Praxis bringt, der sollte dieses Buch unbedingt kaufen.» Prof. Dr. Ruth Schröck Frau Zegelin gelingt mit der sorgfältigen, anregenden Präsentation ihrer Untersuchung ein kleines Kunststück; sie steckt den Leser mit ihrer eigenen Neugier an und bietet der Pflegewissenschaft und der praktischen Pflege zahlreiche Aspekte und Anregungen, eigene Erfahrungen zu reflektieren, um neue Sichtweisen und Möglichkeiten für die eigene Arbeit zu entwickeln. Sabine Kalkhoff in Pflege & Gesellschaft

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Leseprobe

[58][59]2. Methodologie

In diesem Kapitel werden die Problemstellung, Ziele und Hauptfragen der Untersuchung zentriert. Daraus begründet sich der Forschungsansatz, der dann in weiteren Abschnitten vorgestellt wird. Feldzugang, Sample und Samplingstrategien, die Phase der Datenerhebung, Vorstellung der Analyseschritte, Gütekriterien und ethische Erwägungen werden thematisiert.

2.1 Problemstellung

Der vorliegende Begründungszusammenhang zeigt, dass bisher vor allem die Folgen des Liegens, und diese überwiegend aus der Perspektive der Pathophysiologie, untersucht wurden. Dabei wurde in der Regel von einer befristeten Zeit der Bettruhe ausgegangen. Bettlägerigkeit als langfristiger Seinszustand und vor allem Ursachen und Entwicklung des Zu-liegen-Kommens von Menschen sind bisher nicht systematisch geklärt. Bettruhe «hat» man, sie ist ein von außen vorgegebener Zustand, bettlägerig «ist» man – wobei eine bestimmte Krankheitsdiagnose wohl nicht «automatisch» zur Bettlägerigkeit führt. Einige Menschen werden (bei vergleichbarem Krankheitsverlauf) frühzeitig bettlägerig, andere überhaupt nicht. Bettlägerigkeit scheint viele Ursachen zu haben. Bettlägerig zu werden mag auch ein soziales Phänomen sein – es hängt möglicherweise von Umfeldbedingungen, biografischen Faktoren und vielem mehr ab. Hierzu bietet die Literaturanalyse keine Erkenntnisse.

2.2 Forschungsziel und Fragestellungen

Das Hauptziel dieser Forschung ist die Erkenntnis über die

Entstehung von Bettlägerigkeit.

Die Fragestellungen dieser Untersuchung lauten deshalb:

Auf welche Art und Weise werden Menschen bettlägerig?

Welche Prozesse führen zur Bettlägerigkeit?

Lassen sich verschiedene Ursachen und Formen unterscheiden?

[60]Damit verbunden ist die bisher ungelöste Frage, was Bettlägerigkeit überhaupt ausmacht. Sind nur Menschen gemeint, die überhaupt nicht mehr aufstehen können, oder sind auch die Menschen eingeschlossen, die mit Hilfe ein- oder mehrmals täglich das Bett verlassen können?

Weitere Fragen sind:

Gibt es wiederkehrende Muster, gibt es «Schlüsselmomente», in denen sozusagen eine Weichenstellung erfolgt, gibt es Verschnellerungs- und Verlangsamungspunkte?

Ist «Bettlägerigwerden» immer mit einer Abwärtsentwicklung verbunden, oder ist die Situation auch umkehrbar?

Wie gehen die Betroffenen mit der Situation um, und beeinflusst dies die Entwicklung zur Lägerigkeit?

Besonders die letzten Fragen legen nahe zu untersuchen, ob es Analogien zu den Beschreibungen des oben vorgestellten Trajektmodells gibt.

Die Untersuchung soll dem Verständnis für die komplexen Zusammenhänge von Bettlägerigwerden dienen, und eine differenzierte Wahrnehmung von Bettlägerigkeit soll gefördert werden. Dieses Wissen richtet sich in erster Linie an die beruflich Pflegenden, sollte aber nützlich sein für alle anderen Personen, die mit dem Phänomen Bettlägerigkeit zu tun haben. Erhofft wird, dass auf Grundlage dieser Untersuchung pflegerische Strategien entwickelt werden können, um Bettlägerigkeit professioneller zu begegnen. Dies könnte z. B. darin bestehen, dass durch Kenntnis der Zusammenhänge ein frühes und ungewolltes Liegen rechtzeitig verhindert wird oder auch dass ein Rückzug ins Bett als für diesen Menschen wichtige Daseinsform respektiert werden kann. Es wird auch davon ausgegangen, dass diese Arbeit weitere Fragen zum Thema Bettlägerigkeit generiert und eine Grundlage für zahlreiche fortführende Studien in diesem Bereich wird.

2.3 Der qualitative Untersuchungsansatz

Aus den vorliegenden Materialien ist es nicht möglich, Bettlägerigkeit als Phänomen zu erschließen und Erklärungen für die Entstehung abzuleiten. Im Gegensatz zu den Folgen von Bettruhe scheint die Entstehung von Bettlägerigkeit ein weitgehend unbekanntes Thema zu sein, Bettlägerigkeit ist bisher nicht konzeptualisiert. Bei der Entstehung von Bettlägerigkeit handelt es sich offensichtlich um ein längerfristiges und komplexes Geschehen mit vielen Einflussfaktoren. Dazu gibt es keine Wissensgrundlage, es liegen weder empirische Befunde vor, noch scheint ein bestimmter theoretischer Rahmen zur Erklärung geeignet. Erste Erkenntnisse müssen aus Erfahrungen und Berichten über subjektive Zustände generiert werden. Dies erfordert ein[61] Vorgehen, dass dieser Problemlage gerecht wird. Um Faktoren der Beschreibung und Entstehung von Bettlägerigkeit zu entdecken, ist ein offenes, qualitatives Vorgehen im Sinne interpretativer Forschung notwendig.

Die alltägliche Erfahrungswelt bettlägeriger Menschen, ihre Wirklichkeit und ihr Erleben der Entwicklung sollen Ausgangspunkt für diese Untersuchung sein. Auch wenn der Umstand der Bettlägerigkeit mit der betroffenen Person eng verbunden sein mag, scheint es Konstellationen zu geben, die eine Vielzahl von Menschen ins Bett «zwingen». Diese Konstellationen aufzuklären und daraus Handlungsmuster zu rekonstruieren sind ein Anliegen dieser Arbeit.

Qualitative Verfahren eignen sich, wenn nur wenig über den Gegenstand bekannt ist: Daten werden in angemessener Weise erhoben und begründen das neue Wissen empirisch. Der methodische Zugang muss offen und flexibel gehandhabt werden. Ein breites Spektrum von Ansätzen soll der Komplexität und Prozesshaftigkeit des Untersuchungsgegenstandes gerecht werden. Um Glaubwürdigkeit zu erreichen, müssen qualitativ orientierte Forscher stets Rechenschaft über Entscheidungsschritte und Interpretationsleistungen ablegen.

Qualitative Ansätze zielen auf die direkte Überprüfung der empirischen Welt, d. h., die Untersuchung findet im «Feld», im natürlichen Lebenskontext, statt. Die subjektive Realität der Menschen wird fokussiert, und dabei werden auch Beobachtungen gemacht; diese Beobachtungen sind zu systematisieren und zu reflektieren.

Die qualitative Forschung bündelt eine ganze Reihe unterschiedlicher Verfahren, Grundannahmen und Merkmale kennzeichnen sie aber gemeinsam. Für Flick et al. (2000) gilt u. a., dass qualitative Forschung annimmt, die Wirklichkeit als gesellschaftliches Konstrukt zu begreifen.

Dass Realität interaktiv hergestellt und subjektiv bedeutsam wird, dass sie über kollektive und individuelle Interpretationsleistungen vermittelt und handlungswirksam wird, sind Hintergrundannahmen unterschiedlicher qualitativer Forschungsansätze. (Flick et al., 2000, S. 21)

Dabei ist auch die Erhebungssituation durch beiderseitige Interpretation gekennzeichnet; Forscher und Beforschte nehmen eine Beziehung auf. Auch dies ist Teil der Erkenntnis und sollte in jeder Situation der Datengewinnung und Auswertung berücksichtigt werden. Die Autoren (Flick et al., 2000) fassen Kennzeichen qualitativer Forschung zusammen und weisen darauf hin, dass sich qualitative Forschung am Alltagsgeschehen orientiert und deshalb der Kontextualität verpflichtet ist. Es geht mehr um das Verstehen von komplexen Zusammenhängen als um die Isolierung einzelner Aspekte. Sie stellen weiter dar:

Qualitative Studien setzen häufig an der Analyse oder Rekonstruktion von (Einzel-)Fällen […] an und gehen erst im zweiten Schritt dazu über, diese Fälle vergleichend und verallgemeinernd zusammenzufassen oder gegenüberzustellen. (Flick et al., 2000, S. 23)

[62]Wie schon ausgeführt, legen die Vorarbeiten und weitere Aspekte, z. B. die Erfahrung als Ausgangspunkt, in dieser Studie ein qualitatives Vorgehen nahe. Es geht um die Entdeckung bisher unbekannter Phänomene und um die Generierung neuen Wissens. Zum einen sollte Bettlägerigkeit überhaupt als Konzept geklärt werden, aus den Aussagen der Befragten werden dazu Daten gewonnen. Zum anderen scheint Bettlägerigkeit prozesshaft durch «Korrespondenz» von Erleben und Handeln der beteiligten Personen zu entstehen; verschiedene Phänomene hängen möglicherweise miteinander zusammen. Aus der Untersuchung der vorgefundenen Phänomene soll induktiv ein Theoriebeitrag entstehen; dazu bietet sich der Forschungsstil der Grounded Theory (Strauss/Corbin, 1996) an.

2.4 Grounded Theory

Die Grounded Theory beabsichtigt, einen «gegenstandsbezogenen» Theoriebeitrag zu liefern. Sie eignet sich besonders, Elemente der sozialen Wirklichkeit und deren Beziehung untereinander zu untersuchen. Die vorliegende Studie folgt in mehreren Aspekten dem Forschungsverfahren der Grounded Theory: Erhebung, Kodierung und Analyse wechseln sich ab; die Ergebnisse werden im Feld neu überprüft, bis keine neuen Kategorien «auftauchen» und sich ein zentrales Thema herauskristallisiert.

2.4.1 Erkenntnistheoretische Einordnung

Die erkenntnistheoretische Grundlage der Grounded Theory ist der symbolische Interaktionismus. Dessen Wurzeln liegen ebenfalls in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in Chicago und gehen auf die Tradition der Arbeiten von Pragmatisten wie John Dewey oder George Herbert Mead zurück. Der symbolische Interaktionismus ist sowohl eine Theorie als auch ein Forschungsansatz zur Untersuchung von menschlichem Verhalten. Es wird davon ausgegangen, dass Interaktionen unsere Wirklichkeit determinieren, sie sind nicht nur Medium, sondern haben selbst eine zentrale Bedeutung. Wechselseitige Interpretationsleistungen schaffen Regeln und konstituieren soziale Erfahrung.

Unser Selbst wird gebildet durch Rollen, Erwartungen und Wahrnehmung, durch Erfahrungen in der jeweiligen Kultur mit ihren Werten und Überzeugungen. Über symbolisch vermittelte...

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