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Filmgenres: Thriller

Reclam Filmgenres

VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl512 Seiten
ISBN9783159603964
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
In der Reihe der 'Filmgenre'-Bände darf der Thriller natürlich nicht fehlen. Auch wenn Thriller sich aus nichts anderem definieren als aus einer filmischen Grundqualität überhaupt, dem 'thrill'? bilden sie ein Genre für sich, leicht unterscheidbar von allen anderen durch eine simple Beobachtung: niemand kann selbst und bewusst zum Helden eines Thrillers werden - ganz anders als im Krimi oder Western -, man fällt einfach unbeabsichtigt hinein in einen fiebrigen hektischen Ausnahmezustand. Das ist das 'Testament des Dr. Mabuse' zugunsten der Filmgeschichte bis heute, bis zu Spike Lees 'Inside Man' oder Polanskis 'Ghostwriter'.

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Leseprobe

Einleitung

»Thrill« (engl.): das Wort bedeutet Nervenkitzel, heftige Erregung, eine emotionale und körperliche Stress-Situation. Ein antiker Philosoph, Lukrez (Von der Natur der Dinge, II, 1 ff.), glaubte, dass Zuschauer auf einem festen Ufer der Not anderer auf einem Schiff, das beim »tosenden Kampf der Winde auf hochwogigem Meer« dem Untergang nah ist, mit geradezu ›süßer‹ Gewissheit zusehen würden, weil sie selbst gerade nicht in Lebensgefahr schweben. Sie müssten daher nicht viel von ihrer Seelenruhe einbüßen.

Wer jedoch mit Hilfe der Kunst ›natürlichen‹ Thrill erzeugen will, insbesondere im Kino, lässt das Publikum – soweit es geht – an der Angst und Panik der Schiffbrüchigen des Lukrez, sprich: der erfundenen Figuren im Film, in hohem Maß teilhaben. Diese Art des filmischen Erzählens will eben nicht, dass sich die Betrachter gelassen und zigarrenrauchend (wie Bertolt Brecht es für sein episches Theater wünschte) in ihrem Stuhl zurücklehnen, damit sie sich aus kritischer Distanz abschweifende Gedanken machen über das, was da vorne vor sich geht. Der Begriff »Thriller« ist umgangssprachlich mit ›Reißer‹ zu übersetzen. Der banale Ausdruck birgt ein Stück Wahrheit: Der Thriller will hineinreißen in die Aufregungen, die die fiktiven Personen erleben und erleiden, somit auch mitreißen und fortreißen, damit die Zuschauer – der physiologische Vergleich drängt sich auf – nicht zu Atem kommen.

Niemand kann beschließen, Thriller-Held zu werden. Die Reise von Figur (und Zuschauer) ist keinesfalls mit Absicht auf ein Ziel ausgerichtet. Es ist im ersten Moment bares ›Zustoßendes‹, das die Helden aus dem Gleichmaß ihres gewohnten Daseins hinauswirft. Der Alltag der Figuren, das Normale bricht plötzlich zusammen und versetzt die Figuren in eine Lage, die sie nicht beherrschen. Das Böse tritt meist unerwartet ein wie aus heiterem Himmel. Nichts und niemand hat es vorausgesagt: die infame Intrige, den Überfall, den Einbruch (auch den Einbruch in das Gehirn von Personen). Wie treibt man es wieder aus? Auch der Zuschauer verliert Sicherheit und Kontrolle. Gerade darin liegt womöglich ein verborgener Sinn der Thriller-Rezeption. Denn das Handeln der Charaktere im Film kann – im psychischen Haushalt der Betrachter – als eine Form von Probehandeln zur Austreibung realer Ängste verstanden werden, als Abwehr wirklicher Traumatisierung oder als entlastende Ablenkung von den jeweils eigenen, durch das Leben begleitenden Schreckgespenstern.

Die Figuren könnten resignieren und sich in das ergeben, was ihnen geschieht, eine Schuld auf sich nehmen, die sie gar nicht tragen, sich einer Macht ausliefern, die sie zu verschlingen droht, oder in ein Misstrauen allem – und sogar sich selbst – gegenüber eintreten, das sie vollständig isolieren und in Tod oder Wahnsinn münden würde. Doch sie wehren sich. Bis zum Ende agieren sie für den ›mitfiebernden‹ Zuschauer – ihm bieten sie an, in ihre Gefühle der Ohnmacht und der Orientierungslosigkeit einzutauchen und teilzunehmen an ihren manchmal verzweifelten Versuchen, Handlungsmacht zu gewinnen. Sie geben ihm aber gleichzeitig die Chance, mit ihm das Glück zu teilen, auf Helfende zu treffen und am Ende (meistens) die Realitätskontrolle und den verlorenen Alltag wiederzuerlangen.

Ein Thriller ist ein Film, der sich konsequent in die Perspektive des Opfers der Intrige stellt und den Zuschauer nicht über diesen Rahmen hinaus informiert. Spannung, die quälen kann, prägt den Thriller nicht nur von Einstellung zu Einstellung, Szene zu Szene, sondern übergreifend von der ersten Unruhe bis zum oft rasenden Finale. Man mag aus praktischen Gründen die offene und die geschlossene Spannung unterscheiden. Bei der offenen Spannung ist nicht von Anfang an klar, worauf das Geschehen hinausläuft, es häufen sich die Zeichen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, man muss sich auf unerwartete Schocks einstellen, die ›Anspannung‹ wächst. Bei der geschlossenen Spannung gibt es bald nur zwei Alternativen, Entweder-Oder, Katastrophe oder Rettung, und man muss besorgt sein, wie es die von Bedrohungen aller Arten eingekesselten Figuren anstellen wollen, der ›schlimmstmöglichen Wendung‹ auszuweichen, gleichsam dem Fallbeil zu entkommen. Manche Filme verschärfen die so entscheidende Parteinahme des Zuschauers mit dem Opfer, seiner Ankerfigur, die Gefahren erleidet, denen sich auch der Zuschauer imaginierend-identifizierend aussetzt – wissend, dass er sich in der Sicherheit der Fiktion befindet und dass er selbst ungeschoren davonkommen wird, vielleicht ›mitgenommen‹ von der illusionären Angst, der er sich ausgesetzt hat, aber heil an Geist und Körper. Viele Thriller enden wie Märchen – der Held / die Heldin ist dem Unheil entronnen, alle Prüfungen sind bestanden, und er/sie hat vielleicht eine Liebe dazugewonnen (weshalb Thriller wie Alfred Hitchcocks Die neununddreißig Stufen, 1935, auch als Liebesgeschichten gelesen werden können).

Der Thriller ist die Geschichte eines möglichen Opfers und darum auf eine einzelne Figur fokussiert. Die rigorose Perspektivierung der Thriller-Erzählung geht einher mit einer konsequenten Psychologisierung: Es geht immer um die filmische Darstellung der subjektiven Wahrnehmung eines äußerst bedrohlichen Geschehens. Thema des Thrillers ist auch, wie das Opfer den Motiven der Täter auf die Spur kommt (soweit es sie überhaupt identifizieren kann). Insofern umfasst der Thriller auch Motive der Detektivgeschichte – es gilt immer, ein Geheimnis, ein Rätsel oder eine Falle zu enträtseln und aufzulösen. Die detektivische Suche ist aber im Thriller nur Mittel zu dem einzigen Zweck, das eigene Leben oder die eigene Unversehrtheit zu retten. Die Frage, ob die Realität täuscht, ob das, was man glaubt, ein Trugbild ist oder nicht, wie sicher die intersubjektive Realität ist, beschäftigt unentwegt auch die Protagonisten des Thrillers bei ihrer detektivischen Aktivität.

Einen Thriller zu inszenieren heißt: den Zuschauer auf jene Fahrt durch Fährnisse mitzunehmen, die ihn durch Untiefen diffus lauernder Todesnot, durch Momente des Schreckens und durch das Unsicherwerden des so sicher geglaubten Alltags führen wird. Weshalb gelingt es so oft, dass das Publikum im Thriller einem suggestiven Bann unterliegt? Vermutungen, die Psychologie dieses Genres betreffend: Weil der Mensch in seiner gefährdeten Existenz oft Grund zur Angst hat, wenn er sich nicht ständig betäubt. Weil im Thriller die Doppelbödigkeit dessen zutage tritt, was wir gewöhnlich für Wirklichkeit halten. Nichts ist mehr so zuverlässig, wie es scheint, die Zukunft nicht mehr die selbstverständliche Fortsetzung des Heute. Der Thriller lehrt seine Figuren, allerorten argwöhnisch zu sein, da hinter dem täuschenden Schein friedlicher Verhältnisse die Fratze des Schrecklichen lauert.

Manche Szenarien kehren wieder, verdichten den paranoid anmutenden Zustand der Welt der Thriller-Helden zu dramatischen Konstellationen. Unberechenbare Gefahren drohen von außen und von innen: vom Machtapparat, der selbst den kleinen Widersacher für immer loswerden will; vom wahnsinnigen Stalker, der glaubt, sich rächen zu müssen, und unter der Maske eines Freundes ins Familienleben eindringt; vom angetrauten Ehemann, der sich seltsam benimmt, bis die Ehefrau erkennt, dass er ein Feind in ihrem Bett ist, der ihr um des Erbes willen nach dem Leben trachtet; von der kriminellen Vergangenheit, die den Mann ereilt, der sein Gedächtnis verloren hat; vom sympathischen Reisebegleiter, der sich als kalter Psychopath entpuppt; von der eifersüchtigen Mutter, die das unschuldige junge Mädchen unter der Dusche mit dem Messer ersticht usw. Den Hauptfiguren des Thrillers wird, ehe sie es sich versehen, Gewalt angedroht: eine für sie neue Erfahrung. Zu Beginn können sie sich oft auch nicht wehren, Gegengewalt will eingeübt sein. Am Ende ist sie oft erforderlich, um den Erreger der Angst loszuwerden – für diesmal. Die heile und gemütliche Welt von einst will sich nicht wieder herstellen (deshalb kann es auch Sequels geben), das trügerische Vertrauen, man werde wieder einmal leicht davonkommen, ist verflogen, die Protagonisten kehren oft körperlich oder seelisch verwundet nach Hause zurück, wenn sie denn überhaupt zurückkehren.

Wer ist das und wie lässt er sich aufhalten, der jemandem, der bisher unbescholten und unschuldig zu sein dachte, plötzlich Schaden zufügt oder sogar nach dem Leben trachtet – aus Hass oder Eifersucht in rasendem Ausmaß, Raffgier, wegen Wahnideen oder einem Destruktionstrieb über alles menschliche Ermessen hinaus? Die Lösung des Rätsels (bisweilen bleibt ein Rest von Geheimnis, etwa bei Mystery-Thrillern) ist in diesem Genre ein intellektueller und ein körperlicher Prozess: Die in ihrer Fassung erschütterten Figuren müssen sich prinzipiell aufraffen, nachdem das Ärgernis bei ihnen ›eingebrochen‹ ist und ihr mehr oder weniger geregeltes Dasein empfindlich gestört hat....

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