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Fleischmarkt

Weibliche Körper im Kapitalismus

AutorLaurie Penny
VerlagEdition Nautilus
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783864380754
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Unsere Kultur ist besessen von der Kontrolle über den weiblichen Körper, sie quillt über von Darstellungen unwirklicher weiblicher Schönheit. Gleichzeitig weidet sich die Presse an magersüchtigen Starlets, schwangeren Unterschichts-Teenagern und feuchten Schoßgebeten. Laurie Penny, angry young woman und Star der englischen Bloggerszene, legt den Finger auf die Wunde: 'Man erwartet von uns, dass wir selbstbewusst auftreten und sexuell allzeit verfügbar wirken, aber wir sollen uns schämen und werden geächtet, wenn wir Arroganz, Ehrgeiz oder erotisches Verlangen zeigen. Riot, don't diet'

Laurie Penny, 1986 in London geboren, hat Englische Literaturwissenschaft in Oxford und Harvard studiert. Heute lebt sie als Journalistin und Autorin wieder in Großbritannien und schreibt u.a. für den 'Guardian', die 'New York Times', den 'New Statesman' und für 'New Inquiry' sowie auf Twitter, wo sie über 170?000 Follower hat. Ihre Bücher 'Fleischmarkt' (2012), 'Unsagbare Dinge' (2015), 'Babys machen & andere Storys' (2016) und 'Bitch Doktrin' (2017) machten Penny zur Ikone des jungen Feminismus.

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Leseprobe

2. Raum einnehmen


»Der weibliche Hunger – nach öffentlicher
Macht, nach Unabhängigkeit, nach sexueller
Befriedigung – muss kontrolliert werden.
Dem Körper der magersüchtigen Frau
ist diese Regel grausig eingebrannt.«

Susan Bordo

Wir leben in einer Welt, die den unwirklichen weiblichen Körper anbetet und echte weibliche Macht verachtet. Diese Kultur verurteilt Frauen dazu, immer so auszusehen, als seien sie verfügbar, während sie nie wirklich verfügbar sein dürfen, und zwingt uns, sozial und sexuell konsumierbar zu erscheinen, während wir selbst sexuell so wenig wie möglich konsumieren sollen. Unsere drastischste Vergeltung dafür besteht darin, uns selbst zu konsumieren: Sich selbst verzehren – das tun immer mehr von uns.

Zahllose Frauen und Männer in der westlichen Welt leiden an einer gravierenden Essstörung: einem privaten, gewalttätigen Ausdruck des kulturellen Traumas, das entsteht, wenn der weibliche Körper als kommerzielle Ressource angeeignet und die Frau als industrielles Produktionsmittel verstanden wird. Seit 1999 ist die Anzahl der Teenager, die mit Anorexia nervosa in die Klinik eingewiesen werden, um 80% gestiegen. In Europa und Nordamerika leidet eine von 100 Frauen und einer von 1000 Männern an dieser Erkrankung. Etwa die doppelte Anzahl leidet an Bulimia nervosa oder einem anderen pathologisch gestörten Essverhalten. Eine von zehn Erkrankten wird an den direkten Folgen des Problems sterben und über die Hälfte wird sich nie wirklich davon erholen, sondern jahrelang unter Komplikationen leiden. Einige werden sich dafür entscheiden, ihr Leben vorzeitig zu beenden.12 Dass so unglaublich viele Frauen an Essstörungen leiden, ist nicht nur ein Beweis für die Zerbrechlichkeit dieses Geschlechts, sondern für die Toxizität der patriarchalen kapitalistischen Standards, die auch nach nahezu einem Jahrhundert ›politischen Feminismus‹ für Weiblichkeit gelten. Täglich wird uns klargemacht, dass wir hungriger, schlampiger, hässlicher, bedürftiger, ärgerlicher, mächtiger und weniger perfekt sind, als wir sein sollten. Es ist viel mühsamer, dieser Kultur des Kritisierens und der daraus folgenden Herabsetzung des Selbstwertgefühls die Stirn zu bieten, als die Scham darüber einfach wegzuhungern. Achtzig Jahre nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in den meisten Ländern der Ersten Welt sind selbst in der Generation, die erlebt hat, wie viel Energie und Größe Frauen haben können, und die gesehen hat, wie die Freiheiten immer mehr wurden, zunehmend mehr Frauen davon überzeugt, dass sie abnehmen müssen, weniger Raum einnehmen dürfen und sich selbst am besten verschwinden lassen sollten.

Der Triumph des freiwilligen Hungerns ist die größte Niederlage des Feminismus in der westlichen Welt. Alle Aspekte des Phänomens sind geschlechtsspezifisch – von den täglichen Feldzügen des Selbsthasses, die 75% aller Frauen unter dem Deckmantel einer Diät gegen sich selbst führen, bis zu den Tausenden von Frauen und Männern weltweit, die sich tatsächlich mitten im Überfluss zu Tode hungern. Der unerträgliche, widersprüchliche Druck der Geschlechterrollen lastet besonders schwer auf Frauen und queeren, homo- und bisexuellen Männern und Frauen und ist statistisch dafür verantwortlich, dass etwa 25 % aller Frauen und 50 % aller Männer mit Essstörungen nicht heterosexuell sind.13 Die Erklärung, Essstörungen seien ein Nebenprodukt des Starkults, wird von der grausamen und radikalen Komplexität der Denkweise Magersüchtiger Lügen gestraft. Jo, heute 23, wurde mit 16 anorektisch: »Meine Mutter dachte, ich wolle so dünn sein, um einen Freund zu finden. Ha! Tatsächlich war der Hauptgrund hinter meinem Wunsch, so dünn zu sein, dass ich nicht aussehen wollte wie ein echtes Mädchen. Ich wollte nicht, dass mir Männer auf der Straße hinterherschauen; ich hasste meine Brüste und meine weichen, runden weiblichen Kurven, weil sie sich anfühlten und noch immer anfühlen, als ob sie nicht zu mir gehören. Die Anorexie…kommt von einem Ich, das mich so asexuell wie möglich haben möchte.«

Traditionellerweise wird behauptet, dass Frauen alles tun, um gut auszusehen und einen Mann zu bekommen, einschließlich sich selbst zu Tode hungern – aber der Gedanke, dass Essstörungen ausschließlich eine Folge des Schönheitskultes sind, ist unredlich und für die Betroffenen erniedrigend. Der Schmerz ist körperlich, politisch und ebenso eine Reaktion gegen die aufdringliche Wirkung des Schönheitsfaschismus wie eine Unterwerfung unter die Verdinglichung. Auch Hannah, eine äußerst kluge 22-jährige Studentin der Wirtschaftswissenschaften in Cambridge, hat nicht gehungert, weil sie schön sein wollte: »Anorexie hat nichts damit zu tun, dass man schön sein will. Tatsächlich wusste ich, dass ich mit weniger Gewicht eher schlechter aussah. Ich wollte vielmehr abstoßend und hässlich aussehen. Ich wollte, dass mein Herz anfängt zu stottern und stehen bleibt und dass meine Knochen ganz dünn werden, dass meine Organe mich im Stich lassen. Wenn ich einen Herzanfall gehabt hätte durch das Hungern, dann hätte das vielleicht nicht wirklich als Selbstmord gegolten.«

In der grausam verqueren Logik der Essstörungen gibt es paradoxerweise etwas sehr Feministisches – sie sind ein verzweifelter und psychologisch tödlicher Ersatz für die persönlichen und politischen Freiheiten, die wir noch nicht erreicht haben. Frauen und Mädchen, die ihrer eigenen Autonomie beraubt wurden, finden ein gewisses Maß an Autonomie in der physischen und psychologischen Selbstzerstörung durch das Hungern: Rebellion durch Selbst-Opferung, durch Übernahme der gesellschaftlichen Ideale der Dünnheit, Schönheit und Selbstverleugnung, bis zum logischen Extrem. Hunderttausende von Frauen, wie schon beschrieben, zerstören sich in der Folge dieses Pyrrhus-Sieges selbst. Und die westlichen Gesellschaften, die einen tiefen Abscheu vor dem weiblichen Fleisch hegen, applaudieren ihnen dafür.

Die heiligen hungernden Schwestern


1991 beschrieb Naomi Wolf in Der Mythos der Schönheit, wie die epidemische Ausbreitung der Essstörungen unter den Frauen der westlichen Welt von den Medien und den Regierungen ignoriert wird. Sie interpretiert dieses Wegsehen als Beweis für die sexistischen Prioritäten der Gesundheitssysteme und -strategen in der ganzen Welt. Aber das ist nicht länger der Fall.

Zwei Jahrzehnte später ist dieselbe Kultur mit Filmen, Büchern, Dokumentationen, Spielen und endlosen quälenden Zeitungsartikeln überflutet, die behaupten, die Wahrheit über Essstörungen zu enthüllen – vor allem über Anorexie, die glamouröseste und exotischste Schwester in der giftigen Familie der todbringenden geschlechtsspezifischen Störungen. Man kann jedes beliebige Magazin aufschlagen oder irgendein soziales Netzwerk im Internet besuchen, und man wird Spekulationen darüber finden, welcher Star gerade verdächtigt wird, an Bulimie zu leiden, neben den Kolumnen darüber, was Madonna heute nicht zum Frühstück gegessen hat. Die Medien haben die Anorexie und die Bulimie zu Krankheiten der Zeit gemacht – grausig und abscheulich cool, in den Augen der Öffentlichkeit Beweise des vermeintlichen Verletztseins und Scheiterns der erfolgreichen Frauen.

Die Sorge um die geistige und körperliche Gesundheit der Jugend von morgen hat jedoch eindeutig keine Priorität. Neuere Versuche der internationalen Medien, die Öffentlichkeit für die Gefährlichkeit von Essstörungen zu sensibilisieren, wirkten nicht wie eine echte Kampagne, sondern eher wie eine verrückte und blutrünstige Mischung aus einer Dokumentation über eine Hungerkatastrophe und einem Pornofilm. Auf den Werbeplakaten für die 2008 bei ITV gestartete Dokumentation Leben mit Größe Null stützte sich ein Model mit stockdürren Gliedern mit einem Bein auf einen Haufen Waagen ab. Das Mädchen trug nichts außer spärlicher Unterwäsche und blickte mit aufgeworfenen Lippen provozierend in die Kamera, um eine sexuelle Attraktivität nachzuäffen, die ihr ausgemergelter Körper biochemisch sicher nicht mehr in der Lage war herzustellen. Ein Maßband war um ihren Rumpf gewickelt. Das ist keine »Sensibilisierung«, sondern Götzendienst.

Die ›Größe Null‹-Frau ist eine kapitalistische Fantasie über klassifizierte Weiblichkeit, eine Medienfiktion, die in den verschlungenen Hirnwindungen der Herausgeber und Redakteure von Modezeitschriften und Boulevardzeitungen ausgebrütet wird. Und sie ist eine gefährliche Fiktion. Es ist eine Fiktion, die überkommene Geschlechterstereotypien belebt und in den kannibalistischen Ethos der Modeindustrie zurückwirkt. Es ist eine Fiktion, die auf der entwürdigenden Vorstellung basiert, dass Frauen dumm, nicht ernst zu nehmen und leicht zu beeindrucken sind. Und es ist eine Fiktion, die das wahre Ausmaß der Essstörungen und ihre gravierenden Wirkungen ausblendet, die das Leben von Frauen...

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