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E-Book

Flucht und Segen

Die ehrliche Bilanz meiner Flüchtlingshilfe

AutorAnn-Kathrin Eckardt
VerlagPantheon
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641205140
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Zwischen Frust und Freude - die Geschichte einer Flüchtlingshelferin
Ein Jahr nach den Willkommensszenen und dem Merkel'schen Glaubensbekenntnis 'Wir schaffen das' stellt sich die Frage, wie wir das alltägliche Zusammenleben mit den Flüchtlingen bewerkstelligen können. Wie die unterschiedlichsten Mentalitäten mit der unseren zu vereinen sind und wie die vielen Menschen nicht nur ein Leben in Frieden und Freiheit bei uns finden, sondern auch ein Obdach und Arbeit. Ann-Kathrin Eckardt, Redakteurin bei der Süddeutschen Zeitung, zieht hier ehrlich und schonungslos Bilanz. Eine wichtige, authentische Stimme in der Debatte um gelingende Integration.

Ann-Kathrin Eckardt, Jahrgang 1979, ist Redakteurin in den Ressorts Seite 3 und Buch Zwei der Süddeutschen Zeitung. Sie wurde mit mehreren Journalistenpreisen ausgezeichnet. Seit fast drei Jahren ist sie Patin zweier irakischer Familien. Für ihren Essay 'Gute Menschen', eine erste Bilanz der Flüchtlingshilfe, erschienen im Dezember 2015, erhielt sie den von der Inneren Mission verliehenen Karl-Buchrucker-Preis.

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Leseprobe

EINLEITUNG

Freitag, 22. Juli 2016

Als ich diese Whatsapp von Nadja erhalte, bin ich, wie so viele Menschen an diesem Abend, gerade auf der Flucht. Mit Mann und Kindern versuche ich, aus einem Schwabinger Hinterhof zu unserem Auto zu gelangen, das eine Straße weiter steht. Anders als so viele Menschen an diesem Abend fliehen wir allerdings nicht vor den »vermutlich drei bewaffneten Tätern«, die ein Riesenaufgebot der Münchner Polizei seit dreieinhalb Stunden jagt. Wir wollen nur von einem Grillfest nach Hause. Seit zwei Stunden will uns der Gastgeber nicht gehen lassen. Viel zu gefährlich! Wir müssen uns heimlich aus dem Hinterhof stehlen.

Es ist der Abend im Juli 2016, an dem sich nach einer Schießerei im Olympia-Einkaufszentrum die ganze Stadt, das ganze Land in Terrorlage wähnt. Es ist der Abend, der klarmacht, wie sehr der islamistische Terror unsere Wahrnehmung verändert hat, der Abend, der die Achillesferse unseres Landes offenbart.

Schweigend gehen mein Mann und ich die fünfhundert Meter zum Auto, jeder mit einem Kind auf dem Arm. Wir hasten nicht und gehen doch schneller als sonst. Ich bin kein ängstlicher Mensch, die unzähligen Nachrichten von Freunden, die sich in den vergangenen Stunden »in Sicherheit« gemeldet haben oder wissen wollten, ob man selbst in Sicherheit sei, habe ich noch ziemlich unbedacht beiseitegewischt. Doch auf dem Weg zum Auto beschleunigt sich auch mein Puls. Im Minutentakt rasen Polizeiautos und Krankenwagen an uns vorbei, über uns zieht ein Hubschrauber adlergleich seine Kreise. Auf den Kufen: Scharfschützen.

Selbst mit Kind auf dem Arm schaue ich ständig auf mein Handy. Ich kann, was Nadja nicht kann: mich informieren. Die Münchner Polizei twittert an diesem Abend unaufhörlich, bittet die Bevölkerung, zu Hause zu bleiben, informiert auf Deutsch, Englisch und Französisch. Nadjas Muttersprache ist Kurmandschi, eine der drei kurdischen Sprachen. Auf Twitter ist sie nicht. Für die Tagesschau ist ihr Deutsch zu schlecht. Und noch etwas unterscheidet uns in diesem Moment: Nadja ist Jesidin. Islamistische Terroristen haben bereits Tausende ihrer Landsleute misshandelt, vergewaltigt, getötet. Selbst Kinder haben sie vor den Augen ihrer Eltern zu Tode gefoltert. Nadjas Angst ist kein mulmiges Gefühl wie bei mir. Nadjas Angst hat einen realen Hintergrund. Ich versuche, sie zu beruhigen.

Sicherheit – was für ein großes Wort in diesen Zeiten. Nadja und ihr Mann Jusuf haben schon einmal versucht, sich vor islamistischen Fanatikern in Sicherheit zu bringen. Sie haben dafür ihre Familien, ihr Dorf in Nordirak, ihr Land verlassen. Mitte zwanzig waren sie damals, frisch verheiratet. Sieben Jahre ist das her. Inzwischen haben sie zwei Töchter, einen Sohn und eine Patin – mich.

Am nächsten Morgen: Trauer im ganzen Land. Zehn Menschen sind gestorben, darunter der 18-jährige Täter. Er hat sich umgebracht. Aber auch: ein Anflug von Erleichterung. Es war »nur« ein Amoklauf, die Einzeltat eines gemobbten Schülers. Kein islamistischer Terror. Kein zweites Paris.

Und doch ändert sich etwas in diesen Juli-Tagen 2016. Der Amoklauf in München hat deutlich vor Augen geführt, wie angespannt die Nerven der Menschen sind. Viele Münchner glaubten in der Nacht des Amoklaufes auf einmal, Schüsse in ihrer Nähe gehört zu haben. Am Ende dieser Nacht hatte die Münchner Polizei nach Notrufen 67 Tatorte aufgenommen, 65 Schießereien und zwei Geiselnahmen. Alles Falschmeldungen – bis auf eine.

München ist nur eine von drei Schreckensmeldungen, die Deutschland innerhalb einer Woche erschüttern. Vier Tage zuvor hat ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling fünf Menschen in einem Regionalzug bei Würzburg mit einer Axt und einem Messer attackiert und eine Familie aus Hongkong teils schwer verletzt. Zwei Tage später wird ein abgelehnter syrischer Flüchtling bei einem Musikfestival im fränkischen Ansbach eine Splitterbombe zünden und 15 Personen verletzen. Der Täter selbst wird bei diesem Anschlag sterben. Und anders als den Amoklauf in München wird die Polizei die Taten in Ansbach und Würzburg später als »islamistisch motiviert« bezeichnen.

Verglichen mit Frankreich und Belgien kommt Deutschland in diesem Sommer 2016 zwar mit dem Schrecken davon. Doch die Anschläge haben klargemacht: Es kann überall passieren, nicht nur in den Großstädten, sondern auch auf dem Land. Und: Die Gefahr geht nicht nur von Selbstmordattentätern aus, die als Flüchtling getarnt die deutsche Grenze passieren. Mindestens ebenso gefährlich sind enttäuschte Flüchtlinge, die sich erst in Deutschland radikalisieren. Ähnlich wie nach den zahlreichen Übergriffen in der Silvesternacht in Köln und Stuttgart ist deutlich zu spüren: Angst und Misstrauen gegenüber Flüchtlingen nehmen zu. Es werden nicht die letzten Anschläge und Gewalttaten sein, die von Flüchtlingen verübt werden.

Ändern die Anschläge auch etwas an meinem Flüchtlingsengagement? Ich stelle mir diese Frage nicht selbst, es ist Susan Link, die Moderatorin des ARD-Morgenmagazins, die das ein paar Tage später von mir wissen will. Bevor mich die Redaktion des Morgenmagazins kontaktiert hat, war mir der Gedanke noch gar nicht in den Sinn gekommen. Dabei ist es nicht so, dass ich meine Flüchtlingshilfe noch nie infrage gestellt hätte. Mehr als einmal habe ich gedacht: Warum mache ist das eigentlich?

Ich weiß nicht mehr genau, wann der erste große Frust kam. Sicher aber weiß ich noch: Als Deutschland in den Spätsommermonaten 2015 sein zweites Sommermärchen erlebte; als an manchen Tagen 13000 Flüchtlinge ins Land kamen und an den Bahnhöfen in München, Dortmund, Hamburg oder Frankfurt mit tosendem Applaus empfangen wurden; als mehr Menschen helfen wollten, als es überhaupt zu helfen gab, und halb Deutschland seinen Kleiderschrank ausmistete, war ich zwar voller Bewunderung für unser Land. Aber ich war nicht euphorisch. Nicht mehr.

In den ersten Monaten als Flüchtlingshelfer macht man nämlich einen ziemlich guten Deal. Man gibt: ein bisschen Zeit, ein wenig Geld, ein paar ausrangierte Klamotten. Man bekommt: Dankbarkeit, einen erweiterten Horizont und endlich wieder Platz im Kleiderschrank. Aber es bleibt nicht so. Irgendwann kommt bei fast allen – Flüchtlingen, Helfern, Behördenmitarbeitern – der Frust. Weil alles viel zu langsam geht. Weil die Bürokratie so viel Zeit und Nerven frisst (auch die der Behördenmitarbeiter). Weil nur die wenigsten Flüchtlinge ihre Familie nachholen können. Weil für manche Flüchtlinge vor dem ersten festen Job dann doch erst ein großer Fernseher hermuss. Und obwohl man als Helfer durchaus Etappensiege erreicht – eine neue Wohnung, einen Kindergartenplatz, einen Minijob –, wird schnell klar: Integration ist kein Sprint. Eher ein Ultra-Marathon mit dem Wunsch, auch einfach mal kurz stehen zu bleiben.

Als ich Nadja und Hazal – auch Hazal ist Jesidin, auch ihre Familie unterstütze ich – vor drei Jahren kennenlernte, war der ganz große Flüchtlingstreck noch ein winziger Punkt in weiter Ferne. Unter dem Brennglas der Medien schwoll er im Sommer 2015 zu einem Strom, zu einer Welle, einer Flut an.1 Um im Bild zu bleiben: Ich schwimme mit meinen Familien sozusagen etwas vor der großen Welle. Hazal, ihr Mann und die Kinder sind bereits eingebürgert. Nadjas Mann und ihre drei Kinder haben eine langfristige Aufenthaltserlaubnis. Nur Nadja noch nicht. Fast alle sprechen so gut Deutsch, dass ich mich mit ihnen unterhalten oder zumindest verständigen kann. Doch wie beim Schwimmen im Meer müssen auch wir immer wieder gegen den Rücksog der Wellen ankämpfen. Man könnte auch sagen: Wir gehen oft zwei Schritte vor und einen zurück. Als ich zum Beispiel Nadjas älteste Tochter Lana kennenlernte, war sie drei, ihr einziges deutsches Wort: »Schettaming«. Heute kann sie nicht nur ihr Lieblingstier richtig benennen, sondern bei unseren gemeinsamen Zoobesuchen auch fast alle anderen Tiere. Ihre Deutschfortschritte machen mich glücklich und zuversichtlich.

Zwei Tage nach dem Zoobesuch bekomme ich eine Whatsapp von Nadja: »Komme mit die Asaban«. Und ich denke mir: Müsste man nach sieben Jahren in Deutschland nicht wissen, wie man S-Bahn schreibt? Wieder einmal wird mir bewusst, wie weit ein Schulabschluss noch entfernt ist.

Die ernüchternden Momente habe ich lange für mich behalten. Im Bekannten- und Freundeskreis habe ich lieber von gemeinsamen Weihnachtsfeiern oder lustigen Missverständnissen erzählt. Ich wollte keine Vorurteile zementieren, keine Ängste schüren. Vielleicht habe ich aus Selbstschutz auch manchmal weggeschaut. Außerdem gilt wie bei den meisten Idealisten auch unter vielen Flüchtlingshelfern das ungeschriebene Gesetz: Man klagt nicht – höchstens mal über Wartezeiten beim Asylantrag oder unverständliche Behördenschreiben. Aber öffentlich Unverständnis oder gar Unmut über die eigenen Schützlinge äußern? Lieber nicht.

Genau das jedoch ist eines der Hauptprobleme in der Flüchtlingsdebatte: Sie wird bestimmt von Ängsten, und zwar auf beiden Seiten. Der Angst, politisch unkorrekt zu sein oder falsch verstanden zu werden, auf der einen Seite, und der Angst vor dem Untergang der abendländischen Kultur auf der anderen.

Auch ich habe lange überlegt, ob ich dieses Buch schreiben soll – und mich schließlich dafür entschieden. Weil Dinge nicht verschwinden, nur weil man sie verschweigt. Weil andere vielleicht aus meinen Fehlern lernen können. Weil wir weitermachen müssen – auch dann, wenn der Frust kommt. Wir Flüchtlingshelfer. Und wir Deutschen. Weil es zu Integration und Engagement einfach...

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