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E-Book

Flucht, Vertreibung, Mahnung

Menschenrechte sind nicht teilbar. Erfahrungen meines Lebens

AutorErika Steinbach
VerlagHerbig
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783776682410
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Aus den Lektionen der Geschichte lernen Das Schicksal der Heimatvertriebenen bewegt auch 70 Jahre nach Kriegsende die deutsche Gesellschaft. Die Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach macht eindringlich deutlich, dass die Tragödie der Vertreibung nicht nur die direkt Betroffenen angeht, sondern nach wie vor alle betrifft. Sie zeigt auf, wie diese Menschenrechtskatastrophe dauerhaft die Identität des ganzen deutschen Volkes berührt, und macht gleichzeitig die europäische Dimension und Bedeutung beeindruckend anschaulich. Denn nur durch das Anerkennen der gemeinsamen Vergangenheit kann es auf Dauer ein friedliches Europa geben. Mit einem Geleitwort von Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages

Erika Steinbach, geboren 1943 in Rahmel, Danzig/Westpreußen. Die Diplomverwaltungswirtin hatte u.a. die Projektleitung zur Automatisierung der hessischen Bibliotheken inne. 1977 stieg sie hauptberuflich in die Politik ein, seit 1990 ist sie Mitglied des Deutschen Bundestags (CDU). Sie ist derzeit Mitglied des CDU-Bundesvorstandes und Sprecherin für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Von 1998 bis 2014 war sie Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV).

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Leseprobe

Heimat – Traum oder Albtraum?

»Am Tage, da ich meinen Pass verlor,

entdeckte ich mit 58 Jahren, dass man

mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde.«

Stefan Zweig

Die Worte Heimatliebe, Heimatland, Heimathafen, Heimaterde oder Heimführen umschreiben Heimat als einen Ort der Geborgenheit, der Vertrautheit, ja der Sehnsucht. Vertreibung daraus – die Vertreibung aus dem Paradies?

Heimat ist mehr als nur ein geografischer Begriff, mehr als eine Landschaft mit ihrer Siedlungsgeschichte, mehr als vertraute Dörfer, Städte, Baudenkmäler. Heimat ist tragender Grund, Teil unserer Identität. Heimat, das sind Früherlebnisse und Kindheitserinnerungen, Überschaubarkeit und Geborgenheit. Wer keine Heimat hat, der fühlt sich oft entwurzelt, ohne festen Platz im Leben. Gewaltsamer Heimatverlust, Flucht und Vertreibung, diese archaischen Erfahrungen wirken nach bis heute.

Die Heimat des Millionenheeres der Vertriebenen liegt nicht in einer einzigen Region. Es sind viele Heimaten. Und ich kenne nur wenige in Deutschland, die tatsächlich wissen, woher ihre vertriebenen Nachbarn stammen.

Gustav Seibt resümierte in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung: »Inzwischen ist genügend Zeit verstrichen und genügend geschehen, um auch die deutschen Leiden als Teil einer Katastrophe der Humanität anzuerkennen (…). Brand und Flucht gehen der Nachkriegsgesellschaft voraus und haben sie in ihrem Kern bestimmt. Alle anderen Traditionen mussten vor diesen Grunderfahrungen zurücktreten. Die oft beobachtete Geschichtslosigkeit Deutschlands nach 1945 dürfte hier mindestens ebenso ihre Ursachen haben wie in verdrängter Schuld und der Einebnung sozialer Unterschiede (…). Wer immer nur ›Aufrechnung‹ fürchtet und selbst elementare Tatsachen nur politisch-ideologisch betrachten will, verkennt die Macht von Erfahrungen und Erinnerungen, die auf jeden Fall wirksam bleiben. Das Gefühl für die Heimat stand, jedenfalls in den Dichtungen der Menschheit, neben der Erinnerung an Flucht und Entwurzelung (…). Warum sollte das ausgerechnet heute anders sein?«

Ja, warum sollte das ausgerechnet heute anders sein? Nein, es ist nicht anders! Gerade in der heutigen Zeit mit neuer Unübersichtlichkeit und mehr als 60 Millionen Flüchtlingen weltweit gibt es verbreitet eine verstärkte Rückbesinnung auch Nichtvertriebener auf Herkunft und Heimat. Die Menschen stellen wieder elementare Fragen nach dem Woher und dem Wohin. Dazu bedarf es der konkreten und sehr persönlichen Selbstvergewisserung. Es bedarf der Kenntnis eigener Wurzeln. Heimat ist dabei eine zentrale Kategorie. Für die Vertriebenen aber ist sie häufig Nukleus ihrer Gefühlswelt. Die unzähligen Schicksale, der unterschwellig fließende Strom von Heimweh und der vielfältigen Leidenserlebnisse, die vieltausendfachen nächtlichen Albträume, in denen Kindheitsschrecknisse, Blut und Tränen, Vergewaltigung, der gewaltsame Heimatverlust und der Verlust der häuslichen Geborgenheit Nacht für Nacht quälend auftauchen, das wirkt nach bis zum heutigen Tag für die Überlebenden. Unverarbeitet begleiteten diese Erfahrungen nicht nur die Erlebnisgeneration, sondern werden auch weitergereicht an Kind und Kindeskinder.

In unserem heutigen Deutschland haben sich zwangsweise Menschen zusammengefunden, die ihre Heimat über Jahrhunderte in ganz unterschiedlichen Gebieten Mittel-, Ost- und Südosteuropas hatten. Sie kommen aus Estland, Lettland, Litauen, aus Bessarabien und dem Buchenland, aus dem Banat, aus Siebenbürgen, den Karpaten und dem Sathmar, es sind Dobrudscha- und Bulgariendeutsche unter ihnen, sie hatten ihre Heimat im Weichsel-Warthe-Gebiet Polens, sie kommen aus Ungarn und dem donauschwäbischen Gebiet des früheren Jugoslawien, und sie kommen bis heute als Russlanddeutsche aus den Deportationsgebieten, in die sie durch Stalin verfrachtet wurden, verbracht aus ihrer Heimat an der Wolga, am Schwarzen Meer und im Kaukasus. Der größte Teil der Vertriebenen stammt aus Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, dem Freistaat Danzig, Schlesien und Ostbrandenburg, also dem früheren Ostdeutschland, das heute zwischen Russland und Polen aufgeteilt ist, und sie kamen als Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei.

Vor dem Hintergrund ihres zutiefst gewalttätigen Heimatverlusts bleibt Heimat für zahllose Vertriebene Traum und Albtraum zugleich.

Heimat und Vertreibung, ihren dauerhaften Spuren in den Seelen Entwurzelter hat der Schriftsteller Peter Härtling beklemmenden Ausdruck verliehen: »Es hat mit einem Trauma zu tun oder damit, dass ich, wann immer ich fliehende, vertriebene Kinder auf dem Bildschirm sehe, in meiner Erinnerung zurückstürze bis hin zu dem Zwölfjährigen, der ich 1945 gewesen bin (…). Jetzt erst, nach 50 Jahren, erinnere ich mich beim Anblick dieser gehetzten Kinder – nein: ich spüre es –, dass ich die ganze Zeit, in der ich als Zwölfjähriger mit Großmutter, Mutter, Schwester unterwegs war, auf der Flucht, auf dem Flüchtlingstransport, einen Stoffbalg bei mir hatte, den ich an mich presste, unterm Pullover verwahrte, wie einen kraftverströmenden Talisman (…). Ich habe den langen, von Erschütterungen nie freien Weg von der Zuflucht zum Zuhause gelernt und erfahren. Wobei die früheren Verletzungen für einen Rest von Fremde sorgen. Im Untergrund nämlich bleibt eine fragende Unruhe und lässt jedes Zuhause vorläufig erscheinen (…). Die Zuflucht wurde zum Raum, bekam eine Nähe, die ich nicht Heimat zu nennen wagte.«

Peter Härtling gibt mit seiner sehr persönlichen Offenbarung einer Seelenbürde von Millionen von Heimatvertriebenen Ausdruck. Es ist eine still mit sich getragene, in einer lauten, schnellen Welt schwer beschreibbare Last. Dieses Trauma bleibt dauerhafter Lebensbegleiter. Zumeist sogar unbewusst.

Das sehnsuchtsvolle, oft in der Erinnerung verklärte Bild der Heimat ist zudem verschleiert von mannigfacher Todesangst oder Gewalterfahrung. Für mich ist diese Zeit nicht eigene Erinnerung, sondern Erzählung der Mutter und meines schlesischen Großvaters. Für mich ist Heimat nicht ein bestimmter Ort, nicht eine Landschaft. Ich erinnere mich nicht an Rahmel, meinen Geburtsort in Westpreußen, ich erinnere mich kaum an die Flüchtlingsstationen in schleswig-holsteinischen Bauernhäusern. Das einzige Erinnern daran sind die schrecklichen Schreie eines Schweins, das geschlachtet wurde, und an ein Huhn, das ohne Kopf – er lag abgeschlagen neben dem Holzblock – über den Bauernhof torkelte. Menschen kommen in meinen Erinnerungen nicht vor. Das spricht für sich.

Heimat, das war und ist für mich meine Mutter. Sie war der einzige Ort der Geborgenheit, des Schutzes, sie war meine Sicherheit. Sie betete des Abends mit meiner Schwester und mir, dass der »liebe Gott bald den Papi zurückbringen« möge, über dessen Verbleib wir über Jahre nichts wussten; sie erklärte uns die Bäume und Früchte in Feld und Wald beim Suchen nach Himbeeren, Brombeeren oder Blaubeeren; sie zeigte uns, wie Eidechsen und Frösche zu fangen sind, ohne sie zu verletzen, denn eine überwältigende Tierliebe zeichnete sie aus. Und sie lehrte uns, obwohl sie selbst keine Noten lesen konnte, Blockflöte zu spielen und Noten zu lesen. Unendlich schmerzlich und wirklich bewusst wurde mir meine Mutter als Heimat aber erst im Moment ihres Todes im Jahr 2000. Mit ihr hatte ich nicht nur die Mutter, sondern auch meine emotionale Heimat verloren.

Andreas Kosserts Buch Kalte Heimat beschreibt die gelebte Realität von damals eindringlich. Der Weg von Rahmel über Schleswig-Holstein, Berlin nach Hanau, der gesamte Fluchtweg mit seinen Stationen wirkte in meiner Mutter ihr ganzes Leben lang nach. Rückblickend aber erkenne ich, dass er trotz allem von unseren Schutzengeln begleitet war.

In Hanau lernte ich 1950 meinen Großvater väterlicherseits kennen. Rübezahl und Schlesien, seine fast sehnsuchtsvollen Geschichten über das Riesengebirge haben wohl meine Liebe zu Joseph von Eichendorff befördert und schufen ein lebendiges Bild der Familiengeschichte. Großvaters Familie hatte über viele Generationen ihre Heimat in Schlesien. Breslau, Frankenstein, Carlsberg, Neurode, Peterwitz finden sich als Geburtsorte im Stammbaum. Er selbst stammte aus Neurode/Nowa Ruda. Als Maler und Lithograf durchwanderte er Europa, nachdem die lithografische Abteilung der Berlin-Neuroder Kunstanstalten AG in Neurode geschlossen wurde. Er verdiente gut, denn die Werbung wurde zu dieser Zeit weitgehend mit Lithographien gestaltet. Schließlich ließ er sich in Hanau nieder.

1 Eine der Werbelithographien meines schlesischen Großvaters Robert Hermann

Sein Bruder Karl, als Kunstdrucker genauso von der Schließung betroffen, wurde in München ansässig. Der schlesisch-bayerischen Ehe mit Tante Maria entstammt meine Schauspielercousine Irm Hermann – eigentlich Irmgard. In München war sie lange das schwarze Schaf der Familie. Ihr unorthodoxer Beruf, mehr aber noch ihr Lebenswandel in der Schauspielertruppe Rainer Werner Fassbinders, wurde dort nicht leicht verziehen.

Berührung mit diesem Familienzwist hatten wir kaum. Die Kontakte nach München waren zu dünn. Zudem waren für meinen Mann Helmut als Künstler und Dirigent weder Lebensstil noch politische oder sonstige Ausrichtung maßgebend, sondern Qualität, Ausstrahlung und Eignung für ein bestimmtes Konzert, ein bestimmtes Werk. Als Dirigent waren ihm die anarchischen Anwandlungen eines Friedrich Gulda völlig unerheblich. Er verpflichtete ihn schließlich nicht deshalb, sondern seiner pianistischen Genialität wegen. Auch die Tatsache, dass Karlheinz Böhm geraume Zeit bei...

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