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E-Book

Forelle Grau

Die Geschichte von OL

AutorOl, Olaf Schwarzbach
VerlagBerlin Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783827076892
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
OL (bürgerlich Olaf Schwarzbach) ist Teil der kreativen Untergrundszene von Ostberlin. Sie warten auf die Ausreise, machen das Beste aus ihrer Zeit. Sie haben kaum Perspektiven, wenig Respekt und führen ein lustvolles Leben. Mit sechzehn hat er zum ersten Mal Kontakt zur Staatssicherheit, die ihn fortan Forelle nennt - vielleicht wegen seines Nachnamens, vielleicht weil seine Persönlichkeit so schillernd ist wie eine Regenbogenforelle. Als die Stasi während der Durchsuchung einer Wohnungsausstellung Kopien seiner systemkritischen Comics findet, verbrennt er die Originalzeichnungen und flieht. Eigentlich wollte er nie in den Westen. Direkt und ohne Eitelkeit erzählt OL seine ganz persönliche tragikomische Ost-West-Geschichte - weil er genervt ist von Erzählungen und Mythen über den Osten, die so gar nicht seinen Erinnerungen entsprechen, und vieles sieht er anders. Vor allem mit einer großen Portion Humor und Selbstironie.

OL kam 1965 in Ostberlin an der Spree zur Welt. Nach einer Lehre als Offsetdrucker arbeitete er als Kupferdrucker beim Staatlichen Kunsthandel der DDR und flüchtete 1989 vor Wehrdienst und Staatssicherheit nach München. Seit 1991 lebt er wieder in Berlin und zeichnet für verschiedene Medien: unter anderen »Kowalski«, »zitty«, »Der Tagesspiegel«, »Börsenblatt«, »Jungle World«, »tip Berlin« und n-tv. Für das Wochenmagazin der »Berliner Zeitung« entstehen seit 1997 die wöchentlichen Strips »Jürgen der Trinker« und »Die Mütter vom Kollwitzplatz«. 2003 und 2013 wurde er mit dem Deutschen Karikaturenpreis ausgezeichnet. OL ist Vater von zwei Töchtern.

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Leseprobe

Kintopp


Sonntags bei schönem Wetter ging ich rüber zu Maik Ferkinghoff, die Olsenbande oder Karl-May-Filme gucken. Maik wohnte im Nachbarblock. Seine Mutter kam manchmal in die Schule, um sich persönlich bei der Direktion zu beschweren, wenn Maik wieder einen Tadel erhalten hatte. Frau Ferkinghoff störte sich nicht daran, dass wir bei Sonnenschein vor ihrer Glotze hockten. Sie stopfte uns mit Kuchen voll und nannte mich, wie alle meine Freunde, Schwabbel.

Eines Sonntagnachmittags fragte sie, ob wir Lust auf »Kintopp« hätten. Kintopp, was war das? Ich kannte das Wort nicht. Maiks Mutter drückte jedem von uns eine Mark in die Hand und wir machten uns auf den Weg. Der Kintopp war das Filmtheater Charlott am Bahnhof Potsdam-West. »In diesem Gebäude sprachen Karl Liebknecht, August Bebel und Paul Singer zu den Werktätigen Potsdams und riefen sie zum Kampf gegen Imperialismus, Militarismus und Krieg auf«, stand auf der Tafel neben dem Eingang. An jenem Nachmittag wurde Die Freibeuter der Meere mit Terence Hill und Bud Spencer gezeigt. Der Saal war voll. Eine Eintrittskarte kostete 50 Pfennig plus 5 Pfennig Kulturbeitrag. Für das Restgeld kauften wir Pfeffis und Konsü-Waffeln. Im Kinosaal wurde geraucht, Flaschen rollten durch die Reihen, Kronkorken flogen gegen die Leinwand, und die jugendlichen Zuschauer sprachen die Dialoge mit.

Der Kintopp-Besuch hatte mich angefixt, jetzt sah ich mir Filme oft sieben Mal hintereinander an. In Vorführungen, die erst ab vierzehn zugelassen waren, Filme mit Nacktszenen, schaffte ich es schon mit zwölf. Ich war groß für mein Alter, darum wurde immer ich losgeschickt, um für meine Freude Zigaretten zu kaufen. Mit fünf Jahren hatte Gerald mir einmal erlaubt, an seiner Zigarette zu ziehen. Ich hatte gebettelt, bis er mich ziehen ließ. Unter einer Bedingung: Ich musste inhalieren. Danach war der Tag im Eimer. Ich habe nie wieder geraucht. Damals war ich stolz darauf, älter auszusehen. Die DEFA suchte zu der Zeit gerade Jungen für zwei Hauptrollen in einem Kinderfilm; die Geschichte von einem Wolf, der in einem brandenburgischen Dorf ein Schaf gerissen hatte und den die Jungen am Ende in einer selbstgebauten Falle fingen. Ich bekam die Hauptrolle nicht, durfte aber einen Mitschüler spielen, der in die sechste Klasse ging, obwohl ich erst in der fünften war. Der Schauspieler Jackie Schwarz war mein Film-Klassenlehrer, und ich hoffte, dass er mich vor laufender Kamera nicht zum Lehrstoff befragte.

Alk


Verglichen mit meiner Begeisterung für Filme war das Interesse für Rock- und Popmusik bescheiden. Im Traum war ich einmal zusammen mit Udo Lindenberg im letzten Wagen der Straßenbahn durch ganz Potsdam gefahren. Udo war am Platz der Einheit zugestiegen. Wir fuhren Richtung Platz der Nationen, vorbei am Schuhhauscafé, an der Sparkasse und der alten Moschee, dem orientalisch gestalteten Pumpenhaus für die Fontäne am Schloss Sanssouci. Am Kiewitt half Udo einer Mutter, ihren Kinderwagen in die Bahn zu heben. Wir fuhren an der Konsum-Gaststätte Charlottenhof vorbei, die Professor-Ludschuweit-Allee entlang bis zur Haeckelstraße, wo ich ausstieg, während Udo sitzenblieb bis zur Endstation Potsdam Hauptbahnhof. Wir hatten kein Wort miteinander geredet. Aber am nächsten Morgen war ich mit einem guten Gefühl erwacht; Udo Lindenberg war nach Potsdam gekommen und mit mir Straßenbahn gefahren.

Neben Udo Lindenberg standen noch andere Bandnamen auf meiner Federtasche. Pink Floyd. Led Zeppelin, UFO. Obwohl ich kein einziges Lied von UFO kannte. Fast alle in der Klasse waren AC/DC-Fans. Tom Hirschfeld kam nach dem Tod von Bon Scott, dem Sänger der Band, mit schwarzer Armbinde zur Schule und weinte zwei Tage lang. So traurig war er erst wieder, als sein Hamster erstickte, in einer Socke, frisch gewaschen, wie Tom beteuerte. Einige Jahre zuvor hatte Maik Herbst uns bei zugezogenen Vorhängen im Zimmer seines älteren Bruders ein Tonband mit »Gruselmusik« vorgespielt. Lieder von Uriah Heep und Black Sabbath. Uns standen die Haare zu Berge.

Ich hörte viel lieber die Musik von Crosby, Stills, Nash and Young, bei der man lesen und einschlafen konnte. Volker Gomons Bruder, der die Lieder von Neil Young auf der Gitarre spielte und öffentlich Vorträge über den Musiker hielt, besaß all seine Platten. Die überspielte ich mir mit meinem Babett-Recorder, den Uta und Gerald mir zur Jugendweihe geschenkt hatten.

Zur Jugendweihe im Mai 1980, bei der wir Schüler der achten Klassen während einer Festveranstaltung im Schlosstheater von Sanssouci offiziell in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wurden, war Uta allein gekommen. Gerald war ausgezogen. Uta hatte bei der Märkischen Volksstimme gekündigt und arbeitete nun als selbstständige Retuscheurin zu Hause. Zum Schluss hatten sich Uta und Gerald fast täglich gestritten, doch nach der Scheidung entspannte sich die Situation. Das Grundstück wurde Uta zugesprochen. Katrin begann eine Lehre als Schrift- und Grafikmalerin in Berlin und wohnte die Woche über im Internat.

Ich hatte das Kinderzimmer für mich allein und pubertierte. Fürs Tennistraining und das Fernsehen blieb mir jetzt keine Zeit mehr, lieber stand ich mit älteren Jugendlichen vor der Kaufhalle oder fuhr auf dem Fahrrad zur Havel, zum Dampfersteg der Weißen Flotte, wo sich die Gammler und Halbstarken trafen. Als ich zum ersten Mal betrunken nach Hause kam, legte ich mich in die Badewanne und erzählte Uta etwas von Gleichgewichtsstörungen. Gleichgewichtsstörungen schienen mir als Erklärung plausibel. Gerald hatte einmal vierzehn Tage wegen einer Gleichgewichtsstörung im Krankenhaus verbracht.

Das mit dem Alkohol hatte lange vor der Jugendweihe angefangen. In einer meiner Tennisballbüchsen war immer ein Kantholz versteckt, Falckenthaler Klosterbruder, ein in viereckige Flaschen abgefüllter süßer Kräuterlikör, den ich in der Kaufhalle klaute. Während sich die Jungs meiner Klasse mit Mädchen aus der sechsten oder siebten zum Rauchen an der Tischtennisplatte verabredeten, saß ich in Gaststätten, Gartenlokalen und am Bahndamm hinter der Turnhalle herum, neben älteren Schülern und jungen Trinkern aus unserem Wohngebiet. Sie hockten auf ihren Mopeds, rauchten und soffen oder vertrieben sich die Zeit mit Knuppern; einem schmerzhaften Kartenspiel, das blutige Wunden auf dem Handrücken hinterließ.

Viel Geld brauchte ich nicht für einen Kneipenabend. Manchmal behielt ich das Restgeld vom Einkaufen oder das Flaschenpfand, manchmal verdiente ich mir etwas mit Gelegenheitsarbeiten, fegte im Winter den Müll vom Weihnachtsmarkt zusammen oder fuhr im Herbst zur Obsternte nach Werder. Während der Erntezeit traf man sich am Wochenende frühmorgens an einem der Sammelplätze. Von dort aus brachten Busse die freiwilligen Helfer zu den Apfelplantagen von Geltow und Werder. Die älteren Erntehelfer waren oft Alkoholiker oder sogenannte Asoziale die, so wie ich, ihren Tagesverdienst am Abend in die Kneipe trugen. Eine Mark fünfundvierzig kostete die Soljanka, 96 Pfennig der halbe Liter Bier. Mehr als vier Gläser vertrug ich anfangs noch nicht.

Ein beliebter Treffpunkt der trinkenden Jugend von Potsdam-West war der Charlie, die Konsum-Gaststätte Charlottenhof, in der die furchtlosen, langhaarigen Gesellen herumhockten, die ich bewunderte. Sie hießen Adolf, Seemann oder Stan, trugen Shell-Parka, Jeans und Kletterschuhe und bestellten das Bier gleich trommelweise. Im Sommer saßen sie in einem Kreis aus zusammengeschobenen Tischen. Den einen oder anderen kannte ich vom Dampfersteg und vom Saufen hinter der Turnhalle, und nach einer gewissen Zeit war ich Teil der Runde und willkommener Zuhörer für all die Erzählungen aus der großen weiten Welt der Blueser-Szene, die so gar nichts mit meinem langweiligen Schulalltag zu tun hatten.

Lehrkräfte und Zivilverteidigung


Olaf ist ein temperamentvoller und selbstbewußt auftretender Schüler, dem es sehr schwerfällt, gesetzte Normen anzuerkennen und einzuhalten. Er besitzt logisches Denkvermögen und eine schnelle Auffassungsgabe, die er aber nicht zur Erreichung von guten schulischen Leistungen anwendete. Seinen großen Einfluß auf die Klasse nutzte er kaum, um eine positive Meinung in der Klasse zu bilden, und zeigte zu wenig Eigeninitiative, um gefaßte Entschlüsse durchsetzen zu helfen. An den Veranstaltungen der FDJ-Gruppe nahm er teil, war aber selten bereit, Aufgaben zu übernehmen. Seiner eigenen Arbeit und seinem Verhalten muß Olaf kritischer gegenüberstehen und Aktivitäten entwickeln, um Probleme im Sinne der Politik unseres Staates zu lösen.

(3. 7. 81)

In den meisten Unterrichtsfächern hatte ich hoffnungslos den Faden verloren. In Russisch erhielt ich immerhin eine Drei auf dem Zeugnis; aber nur, weil unsere kettenrauchende Lehrerin während der Klassenarbeiten regelmäßig den Raum verließ und uns somit Gelegenheit zum Abschreiben gab. Unser Chemielehrer verteilte die Zensuren nach BH-Größe. Bei ihm hatte ich eine glatte Vier.

Der Chemielehrer und der Zeichenlehrer kamen jeden Morgen mit dem Moped zur Schule. Einmal im Monat schüttete ihnen jemand Zucker in den Tank. Für den Zeichenlehrer tat es mir leid. Er trug Bart und Nickelbrille und hatte lange Haare. Ich mochte ihn und er mochte mich. Vielleicht, weil ich einer der wenigen war, die sich für seinen Unterricht interessierten. Sein unorthodoxer Stil und die legere Art, mit der er auf Beleidigungen und Provokationen reagierte, wurden ihm als Schwäche ausgelegt; dabei war er nur ein Feingeist, der sich für den falschen Beruf entschieden...

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