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E-Book

Formen des Vergessens

AutorAleida Assmann
VerlagWallstein Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783835340541
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Vergessen als Filter, als Waffe und als Voraussetzung für die Schaffung des Neuen. Angesichts der gegenwärtigen Dominanz der Auseinandersetzung mit Erinnerung haben wir das Vergessen anscheinend vergessen. Tatsächlich ist aber nicht das Erinnern, sondern das Vergessen der Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Für das Erinnern bedarf es einer aktiven Anstrengung, Vergessen hingegen geschieht lautlos und scheinbar unspektakulär. Dass Vergessen aber auch ein aktiver Prozess sein kann, zeigt Aleida Assmann in ihrer zweigeteilten Untersuchung. Im ersten Teil beschreibt sie neben sieben konkreten Techniken für das Vergessen dessen verschiedene Ausprägungen: vom selektiven Vergessen zur Fokussierung auf bestimmte Erinnerungen, über defensives Vergessen etwa als Selbstschutz der Täter, bis hin zum konstruktiven Vergessen als umfassendem Neubeginn. Im zweiten Teil liefert Assmann sieben Beispiele zu den zuvor beschriebenen Formen des Vergessens. Dabei geht sie unter anderem auf die Unsichtbarkeit von Denkmälern (deren eigentliche Aufgabe das Erinnern sein sollte), das Vergessen von Menschenrechtsverbrechen »im Schatten des Holocaust' (wie dem Genozid an den Herero) oder die (Un-)Möglichkeit des Vergessens im Internet ein.

Aleida Assmann, geb. 1947, ist emeritierte Anglistin und Kulturwissenschaftlerin. Sie lehrte Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz und nahm Fellowships am Wissenschaftskolleg zu Berlin und am Aby-Warburg-Haus Hamburg wahr. Gastprofessuren führten sie an die Universitäten Rice, Princeton, Yale, Chicago und Wien.

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Leseprobe

Sieben Formen des Vergessens


1. Automatisches Vergessen – materiell, biologisch, technisch


Ich beginne mit einer grundlegenden Asymmetrie: Nicht Erinnern, sondern Vergessen ist der Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Erinnern ist die Negation des Vergessens und bedeutet in aller Regel eine Anstrengung, eine Auflehnung, ein Veto gegen die Zeit und den Lauf der Dinge. Wie im Körper eines Organismus die Zellen, so werden in der Gesellschaft Objekte, Ideen und Individuen periodisch ausgetauscht. Dieser schleichende Wandel gilt als selbstverständlich und natürlich, er versetzt niemanden in Alarmbereitschaft. Nicht das Erinnern, sondern das Vergessen ist also der Normalfall in Kultur und Gesellschaft. Vergessen geschieht lautlos, unspektakulär und allüberall, Erinnern ist demgegenüber die unwahrscheinliche Ausnahme, die auf bestimmten Voraussetzungen beruht.

Hier ein Beispiel für den Normalfall des Vergessens, der sich aus der Perspektive der betroffenen Individuen oft als ein tiefer und schmerzlicher Einschnitt darstellt. Ich beziehe mich dabei auf eine E-Mail, die mich in den ersten Januartagen 2010 erreichte:

»Leider mussten Paul und ich die Familie gleich nach dem Weihnachtstag alleine in Berlin lassen, weil mein Patenonkel, der letzte Verwandte meiner älteren Generation, am 23. Dezember starb. Er lebte alleine in dem großen Haus seiner Großeltern, hatte seit Jahrzehnten niemanden, außer ein-, zweimal im Jahr mich, in sein Haus gelassen; hatte auf zwei Etagen seine chemischen Versuche fortgeführt und alles, ALLES an Briefen etc. (Briefe der ausgewanderten Familie im 19. Jh., der gefallenen Geschwister im 2. Weltkrieg, Gasmaskenausrüstungen aus dem ersten Weltkrieg, Reklame, Original Klepperboote, Eingemachtes in den Kellern von vor Jahrzehnten …) aufbewahrt. Also, Paul und ich mussten, um überhaupt durch einige Zimmer durchgehen zu können, die Briefe, Bücher, Zeitschriften stapelten sich bis zur Decke, schließlich einen riesigen Container füllen. – Und trotzdem war es unmöglich, so grundsätzliche Dokumente wie ein Familienbuch zu finden. Ein Großteil der Erinnerung, das wagt man Dir ja gar nicht zu erzählen, liegt nun in diesem Container – Ich träume davon.«

Von allem, was zwischen Menschen erfahren, kommuniziert und produziert wird, ist es stets nur ein verschwindend kleiner Anteil, der tatsächlich von einem gelebten Leben übrig bleibt und weitergereicht wird. Ein Foto, eine Brosche oder ein Möbelstück, ein Sprichwort, ein Rezept, eine Anekdote, das ist – wenn es hoch kommt – alles, was bei den Enkeln oder Urenkeln noch von dem einst prall gefüllten Leben ihrer Großeltern ankommt. In Familien, die ausgebombt wurden, die geflohen und ausgewandert oder oft umgezogen sind, sammeln sich kaum materielle Rückstände an. Auch für die Rückstände eines Lebens, die in Kellern oder auf Dachböden noch einige Zeit überdauern, schlägt früher oder später die Stunde des Containers. Die Vernichtung von Hinterlassenschaften bei Haushaltsauflösungen, Umbauten oder Abriss mag für einzelne Menschen mühsam und schmerzlich sein, aus der Perspektive der Gesellschaft dagegen, die von diesen alltäglichen Vorgängen keinerlei Notiz nimmt, geschieht sie lautlos und automatisch.

Bei diesem lautlosen Vergessen spielen zwei Faktoren zusammen: soziales Vergessen und materielle Entsorgung. Beim sozialen Vergessen im Biorhythmus der Generationen werden die Erfahrungen der älteren Generation regelmäßig entwertet und durch neue ersetzt werden. Jede neue Generation ist bestrebt, sich mit ihren eigenen Erinnerungen, ihrer Agenda und ihren Projekten von der vorangehenden Generation ab- und gegen sie durchzusetzen. Die materielle Entsorgung beruht auf immer schnelleren Zyklen von Produkt-Serien. Die technischen Gegenstände, die uns umgeben, müssen zu Lebzeiten wiederholt ersetzt werden. Dieses Ersetzungs- und Überholungsprinzip ist ein konstitutiver Teil der wissenschaftlich-technischen Evolution und des damit verbundenen Konsumverhaltens. Die Forcierung des Generationenbruchs und die Beschleunigung der Warenproduktion sind also keine naturgegebenen Universalien, sondern zentrale Elemente des kulturellen Programms der Modernisierung in westlichen Gesellschaften. In dieser Sicht gelten Zerstörung und Vergessen als ein wichtiger Motor des Fortschritts. Diese Modernisierungsdynamik von Erneuern und Veralten, von Innovation und Obsoleszenz hat bereits Mitte des 19. Jahrhunderts im Aufschwung der industriellen Revolution der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson sehr genau beschrieben:

»Neue Techniken zerstören die alten. Man denke nur an die Investition von Kapital in Aquädukte, die von der Hydraulik überholt wurden, an Festungen, die durch Schießpulver, an Straßen und Kanäle, die durch die Eisenbahn überflüssig wurden, sowie an die Segel, die erst durch Dampf und dann durch Elektrizität ersetzt wurden.«[1]

Für Emerson war Vergessen aber nicht nur ein Motor technischer Erfindungen und Erneuerung, sondern auch eine wichtige kulturelle Strategie. Um kulturell innovativ und geistig selbständig zu werden, so schrieb er, müsse man vieles loswerden und entsorgen in der »unausweichlichen Grube, die die Schöpfung des neuen Denkens für alles Alte öffnet«.[2] Emerson hatte damals gute Gründe für dieses Programm. Zum einen schrieb er Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt der industriellen Revolution und des massiven technischen Wandels, der die Lebenswelten veränderte, zum anderen war er auf der Suche nach einer neuen Identität, mit der sich die US-Amerikaner von der kulturellen Hegemonie Europas abgrenzen konnten. Mit seinen Schriften, die heute als eine ›kulturelle Unabhängigkeitserklärung‹ der Vereinigten Staaten gelesen werden, begründete Emerson ein neues amerikanisches Selbstbild. Diese Neudefinition kam nicht ohne polemische Abgrenzung aus: Emerson konstruierte ein ›altes‹ Europa, gebeugt unter der Bürde seiner Traditionen und der Last der Geschichte, dem er die ›junge Nation‹ der USA mit ihrer verheißungsvollen Zukunft gegenüberstellte. Vor diesem kulturpolitischen Hintergrund wurde Emerson zu einem Anwalt von Evolution, Fortschritt und Modernisierung und machte sich damit zu einem leidenschaftlichen Fürsprecher des Vergessens. Für Nietzsche ist dieser amerikanische Philosoph, der sich selbst als einen »unentwegten Sucher ohne Vergangenheit« (an endless seeker with no past at my back) bezeichnete, zu einem Vorbild für eine kritische Haltung im Umgang mit der Vergangenheit geworden.[3]

Diese Haltung hatte Überzeugungskraft, solange die Zukunft noch mit dem Versprechen eines unerschöpflichen Fortschritts verbunden war. Vor dem Hintergrund eines wachsenden Bewusstseins der Grenzen natürlicher Ressourcen hat sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine Recycling-Mentalität entwickelt, die ihr Heil nicht mehr im Vergessen und Wegwerfen suchte, sondern in der Bearbeitung und Wiederverwendung von Produkten fand, die zum verlängerten Verbrauch hergerichtet und zum Rohstoff für neue Artefakte wurden. »Wegwerfen war gestern – weitergeben, reparieren, ändern ist heute!« Diesen Satz kann man auf einem Schild im Schaufenster eines Kreuzberger Ladens in Berlin lesen. Recycling steht grundsätzlich für eine Verlangsamung des Stroms des materiellen und kulturellen Vergessens und für eine neue Wertschätzung des Alten im Rahmen eines neuen ökologischen Bewusstseins, das auch in künstlerischen Verfahren der Umschreibung zur Geltung kam, in denen das Alte markiert und zu einem gut erkennbaren Bestandteil des Neuen wurde.

Die Grenzen des automatischen Vergessens zeigen sich besonders deutlich, wo wir es mit einer traumatischen Vergangenheit zu tun haben. Als ein Beispiel dafür möchte ich ein Gedicht des amerikanischen Dichters Carl Sandberg zitieren, der 1918 ein Gedicht über die großen Schlachtfelder des 19. und 20. Jahrhunderts geschrieben hat – und zwar aus der Perspektive des Grases:[4]

Pile the bodies high at Austerlitz and Waterloo.

Shovel them under and let me work –

I am the grass; I cover all.

And pile them high at Gettysburg

And pile them high at Ypres and Verdun.

Shovel them under and let me work.

Two years, ten years, and passengers ask the conductor:

What place is this?

Where are we now?

I am the grass. Let me work.

Das buchstäbliche ›Gras des Vergessens‹ ist ein anschauliches Bild für den unaufhaltsamen Fluss der Zeit. Die Zeit kann ein Vergessen bringen, das Schmerz lindert und Wunden heilt. In Sandburgs Gedicht erscheint die selbsttätige Rückverwandlung von Geschichte in Natur auf den großen Schlachtfeldern des 19. und 20. Jahrhunderts allerdings als problematisch, weil sie zum einen eine Indifferenz gegenüber unermesslichem menschlichen Leid einschließt und zum anderen die Möglichkeit ausschließt, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Das Gras, das wächst, wo es will, konfrontiert den Leser also mit einer Reihe grundsätzlicher Fragen. Denn anders als das Gras haben Menschen die Möglichkeit, zwischen Vergessen und Erinnern zu wählen, womit zugleich die Notwendigkeit ethischer Entscheidungen gegeben ist.

Das zeigt auch eine Passage aus W. G. Sebalds Roman Austerlitz, in der der Erzähler darüber reflektiert,...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Umschlag1
Titel4
Impressum5
Inhalt6
Vorwort8
Einleitung12
Die Verschränkung von Erinnern und Vergessen12
Techniken des Vergessens22
Zugangsweise und Vorarbeiten27
Sieben Formen des Vergessens31
1. Automatisches Vergessen31
2. Verwahrensvergessen37
3. Selektives Vergessen43
4. Strafendes Vergessen50
5. Defensives Vergessen54
6. Konstruktives Vergessen58
7. Therapeutisches Vergessen65
Sieben Fallstudien70
Die (Un-)Sichtbarkeit von Denkmälern – Musil, Aljoscha und Dr. Karl Lueger70
Lenin vergessen – u?ber das Verschwinden von Denkmälern und Geschichtsdaten89
Leuven, Sarajevo, Palmyra – Vandalismus und die Zerstörung materiellen Kulturerbes107
Im Schatten des Holocaust – Armenien, Herero und Nama: Genozide im fru?hen 20. Jahrhundert135
Nakba und Holocaust – Palästinensische Erinnerungsorte in Israel158
Die Entfernung eines Grundsteins – Der Fall Hans Robert Jauß und die Universität Konstanz175
Das Recht auf Vergessen werden – eine schleichende Kulturrevolution im Internet?198

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