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Fragen Sie Ihren Bestatter

Lektionen aus dem Krematorium

AutorCaitlin Doughty
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl270 Seiten
ISBN9783406688218
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wie befördert man übergewichtige Tote aus dem obersten Stockwerk auf die Straße? Wie geht man mit den schockierten Angehörigen um? Und wie bekommt man die Knochen in die Urne? In ihrem unter die Haut gehenden Memoir berichtet Caitlin Doughty in teils komischen, teils bizarren Szenen von ihrer etwas anderen Arbeit. Ein eindrucksvolles Plädoyer dafür, unsere Toten nicht länger hinter einem Vorhang aus Angst und Tabus verschwinden zu lassen. Als die 23-jährige Caitlin Doughty ihren Dienst als Krematoriumsfachkraft antritt, ist ihre erste Aufgabe, eine Leiche zu rasieren. So wird sie im Westwind-Krematorium schnell zur Expertin, die vor keiner Aufgabe zurückschreckt. In ihrem wunderbar offenherzig und ironisch geschriebenen Buch öffnet sie uns die Augen für unseren Umgang mit den Toten. Sie blickt zurück in die Geschichte des Todes und erzählt, was in anderen Kulturen mit den Leichen geschieht. Wer schon immer mit einem guten Freund zur Mitternacht einen Friedhof besuchen wollte, um den Tod mit anderen Augen zu sehen, der sollte diese unvergessliche Geschichte lesen.

<p><strong>Caitlin Doughty</strong>, geb. 1984, heuerte nach ihrem Studium der mittelalterlichen Geschichte bei einem Krematorium an, f&uuml;hrt in Los Angeles ein Bestattungsinstitut und gilt in den USA als &quot;Champion der alternativen Bestattungsindustrie&quot; (Independent). Ihre Youtube-Serie &quot;Ask a Mortician&quot; hat Fans auf der ganzen Welt. Mit dem von ihr gegr&uuml;ndeten &quot;Order of the Good Death&quot; setzt sie sich daf&uuml;r ein, die Menschen wieder st&auml;rker mit &quot;ihren&quot; Toten zu konfrontieren.</p>

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Leseprobe

Eine Frau erinnert sich immer an die erste Leiche, die sie rasiert hat. Es ist das einzige Ereignis in ihrem Leben, bei dem ihr mulmiger wird als beim ersten Kuss oder beim Verlust ihrer Jungfräulichkeit. Nie bewegt sich der Uhrzeiger langsamer, als wenn man mit einem pinkfarbenen Einwegrasierer in der Hand vor der Leiche eines älteren Mannes steht.

Im grellen Schein des Neonlichts blickte ich geschlagene zehn Minuten auf den armen reglosen Byron, so kam es mir wenigstens vor. So hieß er, jedenfalls stand dieser Name auf dem Zettel an seinem großen Zeh. Ich war mir nicht sicher, ob Byron noch als Subjekt (als Person) durchging oder bereits als Objekt (Leiche) galt, aber wenn ich schon eine derart intime Handlung an jemandem vornahm, wollte ich doch wenigstens seinen Namen wissen.

Byron war ein Mann um die siebzig mit einer weißen Haarmähne und dichten weißen Bartstoppeln. Abgesehen von dem Laken, mit dem ich seine untere Körperhälfte abgedeckt hatte, war er nackt. Was ich da eigentlich verhüllen wollte, wusste ich nicht so recht. Offenbar ein Anfall postmortaler Schicklichkeit.

Seine Augen, die in den Abgrund über ihm starrten, waren leer wie geplatzte Luftballons. Sind die Augen eines Liebenden ein kristallklarer Bergsee, erinnerten die von Byron an einen trüben Tümpel. Sein Mund war in einem stummen Schrei erstarrt.

«Ähm, he, äh, Mike?», rief ich meinem neuen Chef aus dem Präparationsraum zu. «Soll ich das mit Rasiercreme machen, oder …»

Mike kam herein, nahm eine Dose Rasierschaum von einem Metallschränkchen und wies mich darauf hin, ein Adlerauge auf die Falten zu haben. «Wenn du ihm ins Gesicht schneidest, haben wir ein Problem. Also sei vorsichtig, okay?»

Klar, vorsichtig. So vorsichtig wie all die anderen Male, wenn ich «jemanden rasiert» hatte. Also nie.

Ich zog die Gummihandschuhe an und fuhr mit dem Daumen über Byrons kalte, steife Wangen, die Bartstoppeln, die ihm in den letzten Tagen gesprossen waren. Ich fühlte mich meiner Aufgabe auch nicht ansatzweise gewachsen. Tatsächlich hatte ich stets geglaubt, Bestatter seien Profis durch und durch, perfekt ausgebildete Experten, die sich unserer Verstorbenen annehmen, damit wir es nicht selbst tun müssen. Wusste Byrons Familie davon, dass eine Dreiundzwanzigjährige ohne jede Erfahrung im Begriff war, ihrem geliebten Byron mit einem Rasierer zu Leibe zu rücken?

Ich versuchte, Byrons Augen zu schließen, doch seine faltigen Lider klappten immer wieder nach oben wie eine Jalousie, als wollte er zusehen, wie ich meinem Job nachkam. Ich versuchte es abermals, mit demselben Ergebnis. «He, Byron», sagte ich. «Auf gute Ratschläge kann ich verzichten.» Keine Antwort.

Mit seinem Mund war es dasselbe. Zwar konnte ich ihn schließen, doch ein paar Sekunden später stand er schon wieder offen. Was ich auch unternahm, Byron machte keinerlei Anstalten, sich wie ein Gentleman zu verhalten, der auf seine Nachmittagsrasur wartet. Schließlich gab ich es auf, sprühte ein wenig Creme auf seine Wangen und verteilte sie mit den unbeholfenen Bewegungen eines Kleinkinds, das zum ersten Mal mit Fingerfarben experimentiert.

Es ist bloß ein Toter, sagte ich mir. Verwesendes Fleisch, Caitlin. Ein Kadaver.

Das löste nicht gerade einen Motivationsschub bei mir aus. Byron war weit mehr als ein Haufen faulendes Fleisch. Er war auch eine magische Kreatur, ein Zauberwesen, so wie ein Einhorn oder ein Greif. Erhaben und profan zugleich, befand er sich hier mit mir im Wartezimmer zwischen Leben und Ewigkeit.

Als ich zu dem Schluss gelangte, dass ich für diesen Job wohl nicht geeignet sei, war es bereits zu spät. An dieser Rasur führte kein Weg mehr vorbei. Ich griff nach meiner pinkfarbenen Waffe, die in diesem dunklen Gewerbe zur Grundausstattung gehört. Ich verzog das Gesicht und stieß einen Hochfrequenzlaut aus, wie ihn nur Hunde hören können, setzte die Klinge an und begann meine Laufbahn als Barbier der Toten.

Als ich an jenem Morgen aufgewacht war, hatte ich nicht damit gerechnet, eine Leiche zu rasieren. Verstehen Sie mich nicht falsch. Leichen hatte ich schon erwartet, nur nicht das Rasieren. Es war mein erster Tag als Krematoriumsfachkraft bei Westwind & Burial, einem alteingesessenen Bestattungsunternehmen. Einem Familienbetrieb.

Ich stand früh auf, was ich sonst nie zu tun pflege, zog eine Arbeitshose – ich trage sonst nie Hosen – und Stahlkappenboots an. Die Hose war zu kurz und die Boots zu groß. Ich sah schlicht lächerlich aus, aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, welche Kleidung man beim Einäschern menschlicher Überreste trägt.

Die Sonne ging gerade auf, als ich aus meiner Wohnung am Rondel Place trat, glitzerte auf weggeworfenen Injektionsnadeln und verdampfenden Urinpfützen. Ein Obdachloser in einem Tutu schleppte einen alten Autoreifen die Gasse hinunter, wahrscheinlich um ihn als provisorischen Donnerbalken zu benutzen.

Als ich nach San Francisco gezogen war, hatte ich drei Monate gebraucht, um ein Zimmer zu finden. Schließlich war ich bei Zoe untergekommen, einer lesbischen Jurastudentin, mit der ich mir nun ihre quietschrosa Maisonettewohnung im Mission District teilte. Unser Haus befand sich zwischen einem beliebten mexikanischen Restaurant und dem Esta Noche, einer bekannten Latino-Tuntenbar, aus der jeden Abend ohrenbetäubende Ranchera-Klänge dröhnten.

Auf dem Weg zur U-Bahn kam mir ein Exhibitionist entgegen. Er öffnete seinen Mantel und zeigte mir seinen Penis. «Na, Schätzchen, was hältst du davon?», sagte er und wedelte triumphierend damit herum.

«Lass dir was Originelleres einfallen, Mann», gab ich zurück, worauf er ziemlich dumm aus der Wäsche schaute. Mittlerweile wohnte ich seit gut einem Jahr am Rondel Place. Mit so einer Nummer konnte er keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken.

Die Fahrt mit der U-Bahn führte von der Mission-Street-Station unter der Bay hindurch nach Oakland. Ein paar Blocks entfernt von Westwind Cremation stieg ich aus, und nach weiteren zehn Minuten Fußweg war ich angekommen. Der Anblick meines neuen Arbeitsplatzes riss mich nicht gerade vom Hocker. Keine Ahnung, wie ich mir das Bestattungsinstitut vorgestellt hatte – vielleicht so ähnlich wie das Haus meiner Großmutter, umwabert von Trockeneisnebel –, doch von der Straße aus sah das Gebäude jenseits des schwarzen Metalltors hoffnungslos normal aus: eierschalenfarben und ebenerdig, hätte es sich genauso gut um eine Versicherungsfiliale handeln können.

Neben dem Tor befand sich ein kleines Schild: Bitte läuten. Ich nahm also meinen ganzen Mut zusammen und tat wie geheißen. Einen Augenblick später öffnete sich das Tor mit einem leisen Knarren, und Mike, der Geschäftsführer des Krematoriums und mein neuer Boss, trat aus dem Haus. Ich hatte ihn nur einmal vorher gesehen und mich dazu verleiten lassen, ihn für völlig harmlos zu halten – einen durchschnittlich großen, durchschnittlich schweren Weißen Mitte vierzig mit schütterem Haar. Doch trotz seiner onkelhaft wirkenden Khakihose ging etwas absolut Beunruhigendes von ihm aus. Seine Augen hinter der Brille musterten mich scharf, als wolle er sich darüber klar werden, ob es nicht doch ein Riesenfehler gewesen war, mich zu engagieren.

«Guten Morgen», sagte er, doch die Worte kamen so matt, so müde aus seinem Mund, als wären sie für ihn allein bestimmt. Er ließ die Tür offen stehen und ging wieder hinein.

Nach ein paar unbehaglichen Momenten kam ich zu dem Schluss, dass ich ihm folgen sollte, trat über die Schwelle und bog um mehrere Ecken. Ein dumpfes Dröhnen hallte durch die Korridore und wurde immer lauter.

Hinter der unscheinbaren Fassade des Gebäudes verbarg sich eine riesige Lagerhalle. Von hier ging das Dröhnen aus – genauer gesagt von zwei großen, klobigen Maschinen, die sich in der Mitte des Raums breitmachten wie Zwillingsbotschafter des Todes – Tweedledum und Tweedledee ließen grüßen. Sie waren aus gebürstetem Stahl, und von beiden führten Kamine zum Dach hinauf. Beide Maschinen hatten Metalltüren, die auf und ab fuhren – gefräßige Schlunde wie aus einem Märchenbuch des Industriezeitalters.

Das sind die Öfen, schoss es mir durch den Kopf. Und darin befinden sich gerade Menschen – tote Menschen. Tatsächlich konnte ich keinen der Verstorbenen sehen, aber allein die Vorstellung ließ meinen Pulsschlag rapide ansteigen.

«Das sind also die Kremieröfen?», fragte ich Mike.

«Liegt auf der Hand bei der Größe, oder?», erwiderte er, verschwand durch eine Seitentür und ließ mich abermals einfach stehen.

Was machte ein nettes Mädchen wie ich in einer Leichenentsorgungsanstalt wie dieser? Jede Frau, die einigermaßen bei Trost war, hätte sich für eine Stelle als Kassiererin oder Kindergärtnerin beworben, aber ganz bestimmt nicht als Einäscherungsgehilfin verdingt. Und nicht zuletzt wäre es wohl um einiges einfacher gewesen, einen Job bei einer Bank oder im Kindergarten an Land zu ziehen – die Todesindustrie hieß die Dreiundzwanzigjährige, die unbedingt in dieser Branche Karriere machen wollte, nämlich keineswegs mit offenen Armen willkommen.

Im Schein...

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