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E-Book

Frau Neumann haut auf den Putz

Warum wir ein Leben lang arbeiten und trotzdem verarmen

AutorSusanne Neumann
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783732536511
Altersgruppe16 – 99
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Der Sozialstaat Deutschland hat ausgedient, die Mittelschicht bricht weg, und der Niedriglohnsektor wächst. Immer mehr Menschen sind auf zwei oder drei Jobs angewiesen, um über die Runden zu kommen. Etwas läuft gehörig schief in diesem Land, und Susanne Neumann hat die Schwachstellen unseres Sozialsystems sehr gut erkannt. Aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte weiß sie genau, was schlechte Bezahlung und die Angst vor dem sozialen Abstieg bedeuten. In ihrem Buch zeigt sie anhand ihrer Lebensgeschichte, dass in allen gesellschaftlichen Bereichen soziale Ungerechtigkeit herrscht, mit katastrophalen Folgen für Deutschland. Susanne Neumann ist zum Sprachrohr all derer geworden, die von ihrer Arbeit kaum oder gar nicht leben können.

Susanne 'Susi' Neumann ist quasi über Nacht zum Star geworden. Die Reinigungskraft aus Gelsenkirchen trat im April bei Anne Will auf und diskutierte bei der Wertekonferenz der SPD mit Sigmar Gabriel über die Zukunft der Partei. Sie beherrscht die Kunst, große Politik auf einen einfachen Satz herunterzubrechen, und der Satz, den alle verstanden haben, ging an den SPD-Chef: 'Warum bleibt ihr dann bei den Schwatten?!'

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Leseprobe

1.


»Warum bleibt ihr dann bei den Schwatten?« – Meine kleine Frage und ihre großen Folgen


Ehrlich gesagt verstand ich gar nicht, warum plötzlich der völlige Wahnsinn über mich hereinbrach. Ich hatte diese kurze Frage ausgesprochen, die meiner Ansicht nach vollkommen logisch war. Vorher hatte ich bereits eine ganze Menge anderer Dinge gesagt, die mir genauso logisch erschienen, und auch danach fuhr ich damit fort. Ich sagte zum Beispiel: »Man muss die Agenda 2010 endlich umkehren.« Oder: »Es kann nicht sein, dass Leiharbeit zu einem Zwei-Klassen-System führt, weil der eine Bandarbeiter mehr Stundenlohn bekommt als der Kollege direkt neben ihm.« Oder: »Wer immer nur einen befristeten Arbeitsvertrag kriegt, der kriegt auch keinen Mietvertrag und keinen Kredit.«

Das alles wusste ich aus eigener Erfahrung. Und ich sagte es, weil ich auf einer Bühne saß und vor mir ein Pult aufgebaut war, auf dem groß und breit das Wort »Gerechtigkeit« stand. Genau darum sollte es hier gehen – jedenfalls hatte die SPD mich zu dieser so genannten »Wertekonferenz Gerechtigkeit« in ihre Berliner Zentrale eingeladen. Also ging ich davon aus, dass vor allem dieses wichtige Thema hier behandelt wurde: »Gerechtigkeit«. Damit kannte ich mich nun wirklich aus, nach über 36 Jahren als Putzfrau. Genauer gesagt kannte ich mich mit dem Gegenteil davon aus: mit der ganzen Ungerechtigkeit, die es bei uns gab – in unserem Land im Allgemeinen und in meinem Job und dem Niedriglohnsektor im Besonderen.

Wer wie ich täglich von früh bis spät malochte und aus nächster Nähe mitbekam, wie schwer es manche fleißigen Kollegen inzwischen hatten, ihre Miete zu bezahlen oder für ihre Kinder etwas Anständiges zum Essen oder zum Anziehen zu kaufen; wer dabei zusah, wie ganz normale Menschen nach vielen Jahrzehnten übler Plackerei geradewegs auf die Altersarmut zusteuerten, der hatte in Sachen »Gerechtigkeit« schon ein bisschen was zu melden.

Die Zuhörer im Foyer des Willy-Brandt-Hauses schienen zu verstehen, was ich meinte. Denn jedes Mal, wenn ich mit einem meiner Sätze fertig war, klatschten sie. Das war zwar nicht meine Absicht gewesen, aber es machte mich natürlich stolz: Immerhin saßen im Publikum auch Leute, die ich bis dahin nur aus dem Fernsehen kannte. Manuela Schwesig zum Beispiel, die Bundesfamilienministerin. Und Albrecht Müller, der schon für Helmut Schmidt im Bonner Kanzleramt die Fäden gezogen hatte. Ich lag womöglich nicht ganz so falsch mit meinen Ausführungen, wenn sogar die junge Schwesig und der alte Müller mir zustimmten.

Nur der SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte anscheinend wenig Ahnung von »Gerechtigkeit«. Oder er hatte einfach seine Hausaufgaben nicht gemacht. Er saß links neben mir und erzählte eine Menge Blödsinn. Er redete davon, dass er die SPD in Teilen für zu akademisiert halte und dass ihm das auf die Nerven ginge, obwohl er selbst bekanntermaßen Germanistik auf Lehramt studiert hatte. Er berichtete, dass er es schade finde, dass sich keine Betriebsräte aus den klassischen Arbeitervierteln mehr in den sozialdemokratischen Gremien engagierten und dass er jetzt selber in einer Gegend für Bessergestellte lebte. Und er verkündete, dass seine Partei die Regelung zur sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen eigentlich habe wieder abschaffen wollen, weil sie uns Arbeitnehmer vor allem im Dienstleistungssektor brutal benachteilige. Bloß, dass das leider nicht ginge, weil man ja mit der doofen CDU regieren müsse.

Daraufhin sagte ich eben diesen Satz: »Warum bleibt ihr dann bei den Schwatten1

Die Frage, die für die meisten Anwesenden in diesem Moment so lustig rüberkam, war mein bitterer Ernst. Ich fand schon die Bilanz der ersten Großen Koalition unter Angela Merkel ziemlich enttäuschend, was vor allem die Entwicklung am Arbeitsmarkt und das soziale Gleichgewicht in unserem Land anging. Nach vier in dieser Hinsicht wirklich verheerenden Jahren Schwarz-Gelb hoffte ich anfangs jedoch stark, dass in der neuen politischen Konstellation für die einkommensschwachen Menschen anständigere Bedingungen geschaffen werden konnten, dass weniger ältere Leute in die Armut rutschten und dass jenen Arbeitgebern, die ihre Mitarbeiter nach Strich und Faden ausnutzten und bei jeder Gelegenheit über den Tisch zogen, der Garaus gemacht werden würde. Aber leider täuschte ich mich!

Die Kürzungen bei der Unterstützung von Langzeitarbeitslosen wurden nicht zurückgenommen, wie das von der SPD noch im Wahlkampf lautstark gefordert worden war. Von der von Gabriel und seinen Parteifreunden viel bejubelten Rente mit 63 profitierten unterm Strich vor allem Gutverdiener und Männer. Das Mindestlohngesetz bot den Betrieben noch immer genug Schlupflöcher, um ihren Mitarbeitern am Monatsende sogar weniger Kohle in die Lohntüte stecken zu müssen als vorher. Stattdessen stritten sich die Sozen mit ihrem Koalitionspartner über solchen Quatsch wie die Pkw-Maut oder eine Kaufprämie für Elektroautos. Das musste man nicht verstehen.

Dabei schien ich längst nicht die Einzige zu sein, der das alles ein bisschen zu wenig Engagement war für eine Partei, die viele Jahrzehnte stolz darauf gewesen war, sich vorwiegend für die einfachen Leute einzusetzen. Dumm war daran, dass genau diese einfachen Leute, zu denen ich mich ebenfalls ganz ohne Gejammer zählte, vieles eben vollkommen anders sahen als die Funktionäre. Anders war es kaum zu erklären, dass die SPD seit Jahren in den Umfragen bei knapp 20 Prozent herumdümpelte. Das jedenfalls wusste ich. Und auch sonst kannte ich mich ein wenig mit Zahlen und Fakten aus. Das wiederum wusste Herr Gabriel offensichtlich nicht.

Dabei war ich exakt drei Wochen zuvor bei Anne Will in der ARD zu Gast gewesen. Der Titel der Sendung lautete »Heute kleiner Lohn, morgen Altersarmut – Versagt der Sozialstaat?«, und außer mir waren der Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung da, ein Journalist von der Frankfurter Allgemeinen, irgendein geschniegelter Jungunternehmer – und Hannelore Kraft. Ich saß da also in einer Runde mit lauter redegewandten, klugen Menschen, die ich allesamt nicht kannte, sowie einer sozialdemokratischen Ministerpräsidentin, die später versuchen sollte, sich auf meine Kosten zu profilieren.

Vielleicht fragen Sie sich jetzt, was eine gewöhnliche Putzfrau aus Gelsenkirchen erst bei Anne Will im Fernsehen zu suchen hat und kurz darauf auf der Wertekonferenz der SPD in der Bundeshauptstadt. Genau dasselbe fragte ich mich natürlich auch, obwohl diese beiden Auftritte nicht einmal die ersten Male waren, dass ich mit dem ganz großen Politiktheater und seinen Darstellern in Berührung kam. Und deshalb will ich erstmal erklären, wie es dazu kommen konnte, dass jemand wie ich, für den sich im Normalfall rein gar niemand von den Wichtigen und Mächtigen interessiert, auf einmal vor ein paar Millionen Zuschauern ihre ehrliche Meinung loswerden durfte.

Ich hatte nie das Abitur gemacht, geschweige denn ein Studium absolviert. Und ich konnte mich sicherlich auch nicht so gewählt ausdrücken wie all die Lobbyisten, Funktionäre und Mandatsträger, bei denen die meisten Zuschauer nach zehn Minuten trotzdem geistig komplett abschalten, weil sie nicht mehr kapieren, worum es eigentlich geht. Ich war nur eine kleine Arbeiterin, die immer versucht hat, sich und ihre Familie einigermaßen über Wasser zu halten. Aber dafür besitze ich ’ne verdammt große Klappe, die ich nicht halten kann, wenn ungerechte Dinge in meinem Umfeld passieren.

Das war schon zu meiner Schulzeit so gewesen: Als einer meiner Lehrer auf dem Pausenhof rauchte, was für uns Schüler streng verboten war, machte ich beim Direktor Halligalli: Ich setzte mich mit Nachdruck dafür ein, dass auf dem Hof gleiches Recht für alle zu gelten habe – ganz egal, ob dann alle rauchen durften oder keiner. Am Ende durfte keiner mehr auf dem Hof rauchen. Später kämpfte ich in der Penne meiner Töchter dafür, dass die vorgesehenen Elternsprechstunden nicht ständig abgesagt werden, sondern endlich stattfinden. Ab einem gewissen Punkt in meinem Leben habe ich immer den Mund aufgemacht, auch wenn es kein anderer tat. Diese Eigenschaft führte irgendwann dazu, dass ich begann, mich neben meinem Job gewerkschaftlich zu engagieren.

Die Gewerkschaft, die für meine Belange zuständig war, war die IG BAU, was nicht nur für den Bau-Sektor stand, sondern genauer gesagt »Industriegewerkschaft Bauen – Agrar – Umwelt« bedeutete. Diese Gewerkschaft setzte sich nicht nur – wie ursprünglich von mir vermutet – für Dachdecker, Maler oder Betonmischer ein, sondern eben auch für Gebäudereiniger, wie meine Branche offiziell hieß. Genau genommen war mein Beruf nämlich nicht bloß ein bisschen Wisch-und-weg-Trallafitti2, sondern ein echter Handwerksberuf, zahlenmäßig sogar der größte in Deutschland: Jeder vierzigste hiesige Arbeitnehmer ist gegenwärtig in diesem Gebäudereiniger-Handwerk tätig. Das klingt erstmal ganz nett, tatsächlich jedoch arbeiten viele unserer knapp 860 000 Beschäftigten in einer Art modernem Sklavenhandel, dessen Arbeitsbedingungen oft unter aller Kanone sind. Und da konnte man doch nicht ruhig bleiben, wenn man das ganze Unrecht aus nächster Nähe mitbekam, das, was wir da unten ausbaden mussten, damit die da oben von ihren rund 16 Milliarden Euro Umsatz jährlich möglichst viel behalten konnten. Zumindest ich konnte das nicht, auch wenn mir das im Laufe meines Berufslebens eine Menge Ärger eingebracht hat.

In meinem Fall führte...

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