2. Außerparlamentarische Oppositionsbewegungen in der BRD
In der zweiten Hälfte der 50er Jahre begann in der BRD die Geschichte der außerparlamentarischen Oppositionsbewegungen. Die Pläne zur Wiederbewaffnung der BRD, die vor dem Hintergrund der wachsenden blockpolitischen Konfrontationen des Kalten Krieges spätestens seit dem Ausbruch des Korea-Krieges 1950 konkrete Formen annahmen, lösten die erste große außerparlamentarische Oppositionsbewegung der Nachkriegszeit aus. Von den noch frischen Kriegserfahrungen geprägt, wandte sich die Bewegung gegen die Wiederbewaffnungspläne der Adenauer-Regierung. Im Zentrum ihrer Aktivitäten stand das Bemühen um eine Volksbefragung zur Wiederbewaffnung und zum Abschluss eines Friedensvertrags. Trotzdem die Bundesregierung 1951 die Befragung und alle daran aktiv beteiligten Organisationen verbot, wirkte die Bewegung weiter. Erst nach der Zustimmung des Bundestags zu den Pariser Verträgen[37] im Februar 1955 brach die Initiative auseinander, um sich im Zusammenhang mit der geplanten atomaren Aufrüstung ab 1957 erneut zu formieren. Im Jahr 1958 wurde der Ausschuss „Kampf dem Atomtod“ gegründet, der eine Vielzahl von Aktionen ausführte und dem die Gründung weiterer Ausschüsse folgte. Viele Sozialdemokraten und Gewerkschafter, aber auch Kommunisten engagierten sich in dieser Bewegung, die 1959 nach dem Rückzug der SPD und des DGB aus der Bewegung bald an Bedeutung verlor. Ab 1961 fanden in der BRD die „Ostermärsche“ gegen Krieg und (Atom-)
Rüstung statt, an denen nur Einzelpersonen und keine Organisationen teilnehmen durften und die von sehr unterschiedlichen Menschen überwiegend ethisch-pazifistischer Gesinnung besucht wurden.
Seit Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre formierte sich eine zweite, hauptsächlich von den Gewerkschaften getragene Bewegung gegen die von der Adenauer-Regierung geplanten Notstandsgesetze. Man wähnte in den Notstandsgesetzen einen Schritt zur Entdemokratisierung der BRD.
Ab Mitte der 60er Jahre entwickelte sich, inspiriert durch die Studentenbewegung in den USA, (vorerst) in Berlin eine dritte außerparlamentarische Bewegung: die Studentenbewegung. Die US-amerikanische Studentenbewegung richtete sich vor allem gegen den Vietnamkrieg und autoritäre Universitätsstrukturen und griff spätestens seit der Bildung der Großen Koalition 1966 aus CDU/CSU und SPD nicht nur auf deutsche, sondern auch auf andere europäische Universitätsstädte über. An der Freien Universität (FU) West-Berlin erhob sich zuerst der Protest der Studierenden gegen die veralteten Hochschulverhältnisse. Sie forderten die „Demokratisierung der Hochschule“. Um die Öffentlichkeit auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen, bedienten sie sich provokativer Protestformen, die häufig aus den USA stammten. Den Kern dieser Studentenbewegung bildete zwar der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), doch die Bewegung wurde weder zentral koordiniert noch strategisch angeleitet. Eine Vielzahl von Gruppierungen gestaltete sowohl gemeinsame, als auch Einzelaktionen.[38] Der SDS befand sich zu Beginn der 60er Jahre, nachdem sich die SPD vom SDS getrennt hatte, weil dieser sich nicht dem 1959 verabschiedeten, betont antikommunistischen Godesberger Programm anschloss, auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis. Nicht ganz unwesentlich dürfte in diesem Kontext auch sein, was B. Röhl in Bezug auf das „geistige Vakuum der jungen Intelligenz Westdeutschlands“[39] ausführt. Sie erklärt, die Adenauer-Regierung habe auf Antikommunismus gesetzt und versäumt, sich mit den jungen Intellektuellen in der BRD auseinanderzusetzen. Ein geistiges Vakuum sei die Folge gewesen, welches die junge Intelligenz ideell der Sowjetunion zuführte, deren Propagandaapparat sich um die jungen Leute in Westdeutschland bemühte, wie es am Beispiel der Zeitschrift „konkret“ deutlich werden wird. So knüpfte der SDS, angespornt und beeinflusst von ähnlichen Strömungen in den USA, Frankreich und England, an die Ideen der „Neuen Linken“ an, die eine Neuinterpretation sozialistischer Politikkonzepte praktizierte. Die bundesrepublikanische „Neue Linke“ sah es nach Richter als ihre Aufgabe an, die einzelnen Bewegungen dahingehend zu beeinflussen, ihr Problem im gesellschaftlichen Zusammenhang zu betrachten und festzustellen, dass nur eine Bewältigung des gesellschaftlichen Problems auch eine Lösung ihres speziellen Problems bieten konnte. Sie habe die geistige Orientierung für die verschiedenen Bewegungen geliefert und die Bindungsfähigkeit der Einzelbewegungen untereinander erhöht, indem sie es erlaubte, auf den ersten Blick unverknüpfte Problemstellungen miteinander in Verbindung zu setzen. Als nach der Bildung der Großen Koalition die Opposition im Bundestag auf eine kleine FDP-Fraktion beschränkt war, wurde das Fehlen einer wirksamen Opposition von den außerparlamentarischen Bewegungen mit wachsender Besorgnis um den demokratischen Rechtsstaat registriert. Richter führt aus, der „Neuen Linke“ sei es in dieser Phase gelungen die Einzelbewegungen (Ostermarsch-, Studentenbewegung, Notstandsgesetz-Opposition) zu einer Bewegung zu formieren und dabei den sogenannten „frame“, kollektive Deutungsmuster der entstehenden „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) zu bilden.[40] Der SDS bildete auch hier den Kern, doch letztlich handelte es sich um eine spontane Bewegung ohne feste Strukturen, die sich nur zu punktuellen Aktionsbündnissen zusammenfand. Ein alle Beteiligten verbindendes Programm oder eine gemeinsame ideologische Ausrichtung gab es zwar nicht, aber die Vorstellungen der Studenten, die aus einer Vielfalt von ideologischen Wurzeln entwickelt wurden, basierten überwiegend auf marxistischem Gedankengut. Damit berührten sie in Zeiten des Kalten Krieges ein heikles Thema und begaben sich in eine Minderheitenposition, denn angesichts der blockpolitischen Konstellation und Konfrontation und der daraus resultierenden deutschen Teilung hatte die BRD einen westlichen und damit dezidiert antikommunistischen Kurs eingeschlagen. Außerdem verbanden sie gemeinsame Interessen, wie der Protest gegen den Vietnam-Krieg, die Notstandsgesetze und die Macht der Springer-Zeitungen und die Suche nach anderen Lebensentwürfen, als denen der Elterngeneration. Uetz geht von einer Entfremdung der jungen Generation von ihren Eltern aus, die er als Folge einer Kommunikation auf unterschiedlichen Ebenen begreift. Dabei handle es sich um eine materielle Ebene, auf der die ältere Generation, die den Wiederaufbau in Deutschland geleistet habe und v.a. um Sicherheit bemüht gewesen sei, verharrte und eine postmaterielle, welche Teile der jüngeren, mittlerweile durch ihre Eltern materiell weitgehend abgesicherten Generation besetzten. Uetz weist auf die Möglichkeit einer daraus resultierenden Legitimationskrise des bisherigen Wertesystems hin. Insofern kann die Studentenbewegung auch als Generationskonflikt gedeutet werden. Die jüngere Generation machte der älteren den Vorwurf, sich ausschließlich auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau konzentriert zu haben und sich dabei nicht oder ungenügend mit ihrer NS-Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben. Sie kritisierten, dass ehemalige NSDAP-Mitglieder, wie z.B. Bundeskanzler Kiesinger, wieder in führende Stellungen in Wirtschaft und Politik gelangt waren.[41] Elias spricht in diesem Kontext vom „Verlust einer positiven Identifikation mit der Gesellschaft ihres eigenen Landes“[42] auf Seiten der Kindergeneration und einem tiefen Bruch des Vertrauens in die eigene Gesellschaft. Matz geht von einer „moralischen Hypothek des Dritten Reichs“ aus, die die junge BRD als Sonderlast zu bewältigen hatte und zu einer Legitimitätsschwäche des neuen Systems beitrug, so dass auch hier eine Art Vakuum entstand.[43] Die Suche nach anderen Lebensentwürfen spiegelte sich auch in den von den Studenten entwickelten Lebensformen der Kommunen und Wohngemeinschaften wieder. Entgegen der Familie, die als „Reproduktionsinstanz der bürgerlichen Gesellschaft“[44] galt, sollte mittels kollektiver Lebensformen ein Milieu geschaffen werden, „in denen die Individuen fähig werden, neue Bedürfnisse und Fantasie zu entwickeln, deren Ziel, die Schaffung des neuen Menschen in einer revolutionierten Gesellschaft ist“[45]. Hier klingen zwei Ziele der Bewegung an: der „neue Mensch“ und die „revolutionierte Gesellschaft“. Aufgrund der Heterogenität der Bewegung gab es jedoch verschiedene Ansichten, wie diese Gesellschaft aussehen und diese Revolutionierung erreicht werden sollte, aber es bestand ein gewisser Konsens darüber, dass die Gesellschaft nicht im jetzigen Zustand verbleiben könne und der Optimismus, dass die Revolution machbar sei. Sexualität war in den 50er Jahren noch weitgehend tabuisiert worden, doch nun wurde nicht nur innerhalb der Studentenbewegung dieses Thema aufgegriffen, sondern auch in der Öffentlichkeit, die u.a. von Oswald Kolle „aufgeklärt“ wurde. In den Kommunen und Wohngemeinschaften sollte Sexualität freier gelebt werden können. Medien und Öffentlichkeit empörten sich regelmäßig über diese Lebensweise, wobei die Realität in den Kommunen anscheinend weniger aufregend war, als sie in den Medien erschien.
Seit Mitte der 60er Jahre kam es verstärkt zu Demonstrationen, anderen Aktionen und infolgedessen zu eskalierenden Auseinandersetzungen zwischen Studierenden und Staatsmacht. Politiker und Polizisten waren überfordert von den Demonstrationen. Viele Bundesbürger schmähten die Demonstranten als...