Vorwort
Um es gleich zu sagen: Ich bin ein uneinschränkter Fan von Carl Paoli. Kein anderer Coach oder Athlet hat einen größeren Einfluss darauf gehabt, wie ich menschliche Bewegung verstehe.
Aber der Reihe nach. Über Rodeo zu reden ist die eine Sache, den Bullen zu reiten eine ganz andere. Zum ersten Mal traf ich Carl, als er noch Athlet war. Er hatte gehört, was wir machen, und wie jeder große Athlet stets auf der Suche nach Verbesserung, wollte er sich einen eigenen Eindruck verschaffen. Eine Eigenschaft, die alle Coaches besitzen, ist die Fähigkeit, Talent zu erkennen. Nachdem ich Carls Art, sich zu bewegen, kaum zwei Minuten beobachtet hatte, war mir klar: Er hat etwas Spezielles. Wenn Sie Carl beim Parkour, Gewichtheben, an den Ringen oder auf dem Trampolin gesehen haben, wissen Sie, worüber ich spreche. Entscheidend war: Carl absolvierte Bewegungen, die er nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Ich beobachtete ihn dabei, wie er sich neue Fertigkeiten spontan aneignete, und das sehr gut.
Ich genieße das große Glück, durch meinen Beruf hinter die Kulissen zu blicken und mich mit den besten Coaches nahezu jeder Sportart austauschen zu können. Das heißt, ich habe immer wieder auch mit den besten Athleten der Welt zu tun. Mir sind außerordentliche athletische Fähigkeiten geläufig, und sogar meine Kinder kennen einige der größten Athleten meiner Generation. Das bedeutet aber auch, dass ich ein bisschen immun bin gegen die Bewunderung der Ausnahmeerscheinungen menschlicher Funktionalität. Nicht dass eine Gruppe von Superfrauen je langweilig würde (das passiert nie!); man stellt nur nach einer Weile eine Reihe ganz anderer Fragen. Und das bringt mich zurück zu Carl.
Wenn ich Carl zusah, war mir klar, dass er Technik-Coaching und -training genossen hatte. Wie der große Coach Dan John sagt: »Niemand kommt von der Straße herein und schafft auf Anhieb 15 Overhead Squats mit dem eigenen Körpergewicht. Niemand.« Aber was immer vergessen wird und andererseits bei Carl so verblüffend ist: die Fähigkeit, erlernte Fertigkeiten auf der Stelle auf neue Aufgaben zu übertragen. Und damit kommen wir zu den interessanten Fragen. Welche Fertigkeiten sind übertragbar? Wie und warum sind sie das? Gibt es eine grundlegende Bewegungssprache, die eine lebenslange Entwicklung unserer Fertigkeiten möglich macht? Wie sieht dieses Programm aus? Aus welchen Kernelementen besteht es? Erklärt es auch komplexe Phänomene außerhalb seines Bereichs? Ist Anpassung nach oben und unten möglich? Wie steht es um Beobachtung, Mess- und Wiederholbarkeit? Kann man es Kindern beibringen? Wie schafft man ein menschliches »Betriebssystem«, das flexibel und endlos nutzbar bleibt – ein Modell, das das Aneignen von Fertigkeiten über bloße Arbeit stellt, aber dennoch auf lange Sicht mehr Power, Kraft und das Lösen komplexer Aufgaben möglich macht, ohne dass man in die Sackgasse von Verletzung, schlechter Bewegungsqualität und der Unfähigkeit zu persönlicher Bestleistung rutscht?
Ich arbeite mit vielen Athleten, die sehr erfolgreich sind, obwohl sie von ihren Fertigkeiten wenig wissen. Sie sind die Besten der Welt, und sie haben keine Ahnung, warum es funktioniert, was sie tun, und wie sie ihre Fähigkeiten begreifen könnten (außer durch Hingabe und harte Arbeit). Sie wissen nicht einmal, wie sie die Information verbal an einen anderen Athleten weitergeben könnten, und noch weniger, wie man die Tausende kleiner Schritte mitteilt, die notwendig sind, um Fertigkeiten aufzubauen. Und genau das machte es über die Jahre so wertvoll, mit Carl im Studio zu arbeiten. Er weiß, wie er von A nach B kam, und noch wichtiger: Er kann Ihnen beibringen, wie Sie von A nach B kommen.
In Zeiten des Internets sind die Trainingsmethoden der besten Athleten und Coaches dieses Planeten leicht zugänglich. Wenn man sich aber einloggt und ein Programm für ein 5000-m-Training kenianischer Läufer oder das Krafttraining russischer Athleten herauspickt, verhält man sich ungefähr so, als würde man sich über ein neues Formel-1-Auto informieren, ohne eine Ahnung zu haben, wie man die erste Kurve bewältigt, die mit 200 Sachen zu durchfahren ist. Sie können es wagen, aber die Chance ist groß, dass Sie im Gelände landen oder schlimmer. Genau das aber sehen wir in der Welt der Athleten und Sportler. Wir nehmen ein paar Millionen Eier und werfen sie in die erste 200-km/h-Kurve. Die Unversehrten nehmen wir mit zur nächsten. Die klaffenden Löcher im fundamentalen Verständnis, wie wir uns bewegen sollten und wie nicht, erlebe ich jeden Tag. Fragen Sie meine Frau Juliet nach der Lawine von E-Mails, die wir von den besten Soldaten und Athleten der Welt mit der Bitte um Hilfe bekommen. Das Problem ist viel gravierender, als Sie sich vorstellen können. Wir haben uns beispielsweise noch gar nicht mit den Kreuzbandrissraten weiblicher Athleten beschäftigt. Wie kann es sein, dass junge Frauen am College- und Pro-Level-Sport teilnehmen, ohne zu wissen, wie man springt und landet? Es liegt nicht an der Kraft oder am Willen, so viel ist sicher. Der Fehler liegt im Betriebssystem. Das Ei bricht schließlich in einer der Kurven. In der Saison, bevor Slopestyle 2014 zum ersten Mal olympische Disziplin war, erlitten 75 Prozent der Top-Ten-Frauen Knieverletzungen. Würden Sie Ihre Tochter teilnehmen lassen, wenn Sie wüssten, dass die Chance für eine Knieoperation 3:1 ist?
Wo also fangen wir an? Bewegungserziehung findet in Schulen so gut wie nicht statt. Nehmen Sie einmal als freiwilliger Helfer am Turnfest einer Grundschule teil, und seien Sie auf den Schrecken gefasst, der Sie angesichts des Mangels grundlegender Bewegungsfertigkeiten ereilen wird. Und grundlegend heißt Hüpfen oder Rolle vorwärts. Ich habe Fünftklässler beobachtet, die nicht in der Lage waren, ihre Hüfte zu strecken, um beim Sackhüpfen zehn Meter zurückzulegen. Tatsache. Das ist nichts Neues. Jeder Meister-Coach, den ich kenne, plädiert für das Techniktraining sich entwickelnder Kinder. Erinnern Sie sich noch an Ihren Klassenkameraden, der als Kind turnte, tanzte oder als Karateka unterwegs war? Wie er oder sie mit Rückwärtssalto ins Becken sprang oder der/die Beste der Schulmannschaft war? Natürlich erinnern Sie sich. Und das tun auch die Meister-Coaches. Nach Millionen Stunden praktischer Erfahrung wissen die Meister-Coaches, dass diese Kinder sehr lernfähig sind.
Das ist alles schön und gut, aber es bringt uns dem Ziel nicht näher: nämlich Athleten jeder Art mit einem grundlegenden Satz an Fertigkeiten auszustatten, die systematisch aufeinander aufbauen, progressiv und im Nu übertragbar sind. Sie meinen, Kinder, die schon früh regelmäßig auf Bäume kletterten, können in der Regel Klimmzüge und sind stabilere, effektivere und gegen Verletzung besser gefeite Schwimmer und Werfer? Schön wär’s! Übrigens: Wie viel Baumklettern? Wie oft? Wie hoch? Was, wenn ich noch nicht stark genug bin, um auf einen Baum zu klettern? Was, wenn ich keinen Baum habe? Wie schaffe ich es, dass eine ganze Klasse auf einmal klettert? Wie verbessere ich Baumkletterfähigkeiten? Wie schaffe ich es, dass die Kinder wieder heil herunterkommen? Richtig?
Auf dem Weg zur Agilität gibt es keine Abkürzungen. Eine Wirbelsäulen- oder Hüftoperation nach Jahren des Laufens und Hebens schwerer Gegenstände ist ein teurer und schmerzhafter Weg, um für die vorangegangenen Privilegien zu bezahlen. Und das Schlimme ist: Sie müssen immer noch erst lernen, wie es richtig geht. Es gibt keinen Ausweg. Klar, Sie können mit Laufen, Radfahren, Gewichtheben, Ballspielen, Surfen oder Skifahren aufhören. Wasser-Aerobic und sanftes Gehen sind akzeptable Lösungen. Aber das wissen Sie bereits. Deshalb halten Sie dieses Buch in Händen.
In den acht Jahren, seit denen ich Carl kenne, genoss ich das Privileg, aus erster Hand beobachten zu können, wie sich sein Lebenswerk in diesem Buch vereinte. Und obwohl viele der heutigen führenden Köpfe auf dem Gebiet menschlicher Bewegung und Leistung nach einfachen Grundlagen von Bewegungskompetenz riefen, haben sie bis dato keinen Lehrplan entwickelt, um uns diesem Ziel näher zu bringen. Wir haben den Code von Stärke und Kondition geknackt. Wir können Leute fitter und stärker machen als je zuvor. Wir kennen die besten Methoden und Übungen in diesen Bereichen. Nun müssen wir noch den Code knacken, mit dem wir erreichen, dass Athleten robust sind und das Training umsetzen können. Es gab keine Vorlage für die systematische Lehre der Fundamente menschlicher Bewegung – bis jetzt. Wir haben immer nur darauf gehofft, dass ein Kind gut genug sein würde, um für Sport geeignet zu sein. Aber was, wenn wir die Unsicherheit ausschließen könnten? Was, wenn wir Menschen (nicht nur Athleten) mit den Werkzeugen ausstatten würden, die es ihnen erlauben, sich nahezu jede neue Bewegungsfertigkeit anzueignen? Was, wenn fast jede menschliche Bewegung auf ihren Quellcode reduziert werden könnte? Glücklicherweise sind wir bereits so weit. Dieses Buch ist der Beginn einer...