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Freier Grund

Die Würde des Menschen nach Goethes 'Faust'

AutorThomas Weitin
VerlagKonstanz University Press
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl170 Seiten
ISBN9783835397118
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
'Es fällt immer leichter, die Menschenwürde zu schützen, wenn man für das Gute eintreten kann. Das Böse hingegen im Namen der Menschenwürde nicht angreifen zu dürfen, ist eine Zumutung. Um diese Zumutung kommen wir nicht herum.'

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2. Menschenwürde als absolute Metapher – Selbstbehauptungsdrama Faust

Diskursiv zwischen Tabuisierung und Enttabuisierung oszillierend, lässt sich die Menschenwürde als »Begriff der Irritation«50 kennzeichnen. Und Baer findet noch eine weitere treffende Bezeichnung. Was die Menschenwürde ausmache, sei ihr Status als »›absolute Metapher‹«51. Damit wird die, wie wir gesehen haben, nicht zu ignorierende rhetorische Wirksamkeit des Menschenwürdesatzes angesprochen und mit dem Hinweis für die notwendige fachliche Analyse versehen.

Die ›absolute Metapher‹ ist einer der Leitbegriffe der Blumenberg’schen Metaphorologie. Sie dient der Analyse weicher und unbestimmter Begriffe und ihrer Wirksamkeit im Zuge der Dekontextualisierung über verschiedene historische Horizonte hinweg.52 Während Blumenberg die Legitimität der Neuzeit historisch aus der Betonung des Bruchs ableitet, den die Epoche des Selbstschöpfertums bedeutet und mit sich bringt, stellt die Metaphorologie die Methodik bereit, um die Selbstbehauptung des Menschen auf der Basis von Diskontinuität anhand der von ihm hervorgebrachten Schöpfungen zu analysieren, wobei diese Schöpfungen immer auch sprachlicher Natur sind und, um in der langen Dauer analysefähig zu sein, textuellen Niederschlag gefunden haben müssen. Dazu gehören, nimmt man die historische Entwicklung in den Blick, sakrale und säkulare Texte, wobei Texte der Religion, des Rechts und der Dichtung durch ein Paradigma verbunden sind, welches das Selbstschöpfertum entscheidend geprägt und vorstrukturiert hat: durch das hermeneutische Paradigma in seinen drei Momenten Verstehen, Auslegen und Anwenden (Applikation).

Die paulinische »Figuraldeutung« des Alten Testaments hat, bevor überhaupt Evangelien geschrieben waren, in einer konkreten »weltgeschichtliche[n] Lage« (Heidenmission) ein Modell sinnverstehender Anwendung erzeugt,53 das dazu nötigte, in die Bedeutung der Vergangenheit immer auch die Bedeutung des Zukünftigen für die gegenwärtige Situation einzuschließen.54 Dieser Zeithorizont präfigurierte den dreifachen Schriftsinn in der christlichen Bibelexegese, bis Luther, der in den Paulusbriefen den Sinn der Offenbarung stärker spürte als in den Evangelien, den mehrfachen Schriftsinn und insbesondere die Allegorese preisgab, um die Kritik des Paulus an der Schrift und an den ›erstarrten Gesetzen‹ zugunsten einer veränderten Praxis des Glaubens und der Verkündigung zu erneuern. Erich Auerbach hat den institutionellen Aspekt der paulinischen Figuraldeutung in seiner Begriffsgeschichte der figura herausgearbeitet: Das Alte Testament verwandelte sich durch sie »aus einem Gesetzbuch und einer Volksgeschichte Israels in eine Reihe von Figuren Christi und der Erlösung«55. Indem er alles Sittlich-Kulturelle, alle volkstümlichen Vorschriften und Gesetze des Jüdischen ausblendete, verfügte Paulus über eine hinreichend unbestimmte Vorgeschichte, die seiner neuen Erlösungsreligion die missionarische Schlagkraft und den integrativen Allgemeinheitsanspruch einer »einheitlichen Vision der Weltgeschichte« und »Weltordnung« verlieh.56 Wir finden hier eine Schlüsselfigur der Akzeptanzerzeugung auf der Basis von Unbestimmtheit, die »freilich«, wie Auerbach wohlweislich betont, erst durch »nachträgliche Erkenntnis« zustande kommt.57

Angesichts der großen Popularität, die die Paulus-Figur in der Theorie des Politischen der Gegenwart genießt,58 kommt es darauf an, ihn nicht einfach zum ›Begründer des Universalismus‹59 zu stilisieren, sondern auch hier – und das heißt mit Blick auf das »Grenzverhältnis«60 der Hermeneutik zwischen Theologie, Recht und Philologie – den Bruch wahrzunehmen, den die Neuzeit als Epoche der Selbstschöpfung bedeutet. Paulus ist ein Paradebeispiel für die Verbindlichkeit gerade des Unbestimmten, seine ›Politik‹ aber zielt wie später der Protestantismus nach Luther insbesondere in seiner pietistischen Spielart auf die Ablösung des Gesetzes durch den Glauben. Als Vorbild für die Verbindlichkeit eines globalen gesetzlichen Prinzips, das wie die Menschenwürde die personale Autonomie jedes Einzelnen garantiert, eignet er sich daher nicht.

Im Zentrum der neuzeitlichen Selbstbehauptung als Selbstschöpfung des Menschen steht die Selbstgesetzgebung, innerhalb welcher es, das ist die Aufgabe, die Verbindlichkeit des Unbestimmten zu erklären gilt. Die Selbstgesetzgebung markiert einen schwierigen, abgründigen Akt der Rechtsetzung, der nicht aus dem Nichts heraus erfolgt, aber eben doch immer eine Setzung darstellt und keine Ableitung. Der Sinn des Gesetzes entspringt im zukunftsorientierten Bewusstsein der Vergangenheit einem je gegenwärtigen Willen des Gesetzgebers, den die Rechtsanwendung in der gleichen temporalen Spannung aktualisiert. Dabei ist, wie Gadamer mit Blick auf die ›Applikation‹ feststellt, die zugleich Anwendung und Hinzufügung bedeutet, jede Anwendung des Rechts zugleich eine rechtsschöpferische Tätigkeit.61 Es ist kein Leser denkbar, der, einen Text vor Augen, nur liest, was geschrieben steht. Wer einen Text versteht, vollbringt eine eigene, schöpferische Leistung, indem er das Verstandene im Verstehen appliziert und damit den Sinn zugleich erfasst und ergänzt. Mit dieser legitimen »Rechtsergänzung« tut der Jurist in richterlicher Funktion »genau das, was in allem Verstehen auch sonst geschieht«.62 Seine gebundene Freiheit ist vergleichbar mit der Situation des literarischen Lesers in der Rezeptionsästhetik.63 Den Schritt Schleiermachers von der exegetischen Hermeneutik des Schriftsinns zur allgemeinen Hermeneutik des Verstehens machen Recht und Literatur – anders als die lutheranische Theologie – nicht in Richtung eines neuen Glaubens. Das Spannungsverhältnis von Freiheit und Verbindlichkeit muss ihnen daher auf andere Art immer neu fragwürdig werden. Diese Grundspannung ist auf vergleichbare Weise in den institutionellen Ausprägungen spürbar, die sich hier systematisch anschließen: in der Idee (und meist mühevollen Praxis) moderner Autorschaft und in der Theoretisierung der Verstehensfähigkeiten des Subjekts. Eine verbindliche Theorie subjektiven Textverstehens und subjektiver Zeichendeutung in den konkreten Situationen zwischenmenschlicher Kommunikation, die durch das öffentlich-mündliche Gerichtsverfahren die juristische Wahrheitsfindung mit bestimmen, stellt die Grundlage für den Durchbruch der freien Beweiswürdigung dar.

All dies begreift der umfassende Sinn des Blumenberg’schen Begriffs der »Selbstbehauptung« in sich ein, wenn er sich als ein »Daseinsprogramm« definiert,

unter das der Mensch in einer geschichtlichen Situation seine Existenz stellt und in dem er sich vorzeichnet, wie er es mit der ihn umgebenden Wirklichkeit aufnehmen und wie er seine Möglichkeiten ergreifen will. Im Verstehen der Welt und den darin implizierten Erwartungen, Einschätzungen und Sinngebungen vollzieht sich eine fundamentale Wandlung, die sich nicht aus Tatsachen der Erfahrung summiert, sondern ein Inbegriff von Präsumtionen ist, die ihrerseits den Horizont möglicher Erfahrungen und ihrer Deutung bestimmen und die Vorgegebenheit dessen enthalten, was es für den Menschen mit der Welt auf sich hat.64

Es ist dieser den Horizont selbst bestimmende Zeitenwandel, der die Perspektive des neuzeitlichen Subjekts als Ausgang von einem selbst geschaffenen »Nullpunkt«65 erscheinen lässt, von dem aus Goethes Faust den Anfang nimmt, als epochale Tragödie eben dieses neuen, schöpferischen Menschentums. Wenn Faust in der ersten der beiden Studierzimmerszenen das »heilige Original« (V 1222) des Johannes-Evangeliums zur Übersetzung vor sich hat, stockt er, die Übertragung Luthers im Kopf, schon beim ersten Satz, der den »Anfang« überliefert. Er streicht die heilige Bedeutung von Gottes »Wort« durch, ersetzt sie hermeneutisch allgemein durch »Sinn«, streicht dies, sich recht bedenkend, wieder aus, um anstelle dessen, was »[g]eschrieben steht«, zu setzen, was da stehen »sollte«: »Kraft«, schließlich »Tat!« (V 1224–1237)

Warum führe ich diese berühmte Stelle hier ein? Als Beleg für Blumenbergs Zäsurthese? Das kann man so sehen. Blumenberg selbst hat in der Legitimität der Neuzeit auf die exemplarische Bedeutung der Faust-Figur hingewiesen.66 Mir geht es aber zunächst darum, eine Autorisierung durch eine vermeintliche Faust-Belegstelle zurückzuweisen, die direkt aus der geschilderten Tabudebatte um den Würdesatz des Grundgesetzes stammt. Josef Isensee zitiert im Rahmen seiner Argumentation, die den Tabucharakter der Menschenwürde entlarven möchte, einen Vers aus dem ersten Akt von Faust II: »Das Würdige beschreibt sich nicht«. Kommentarlos fährt er fort, es sei »[i]n der Tat« faszinierend, »das Thema zu umschweigen und es noch nicht einmal mit Worten zu berühren. Die Menschenwürde wäre das Tabu der Rechtsordnung, dem sich kein Erklärer nähern dürfte, das Geheimnis, das alle ehrfürchtig hüteten und das unantastbar wäre auch für die Kunstgriffe der juristischen...

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