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»Freiheit und Würde des Volkes«

Katholizismus und Demokratie in Deutschland

AutorWilfried Loth
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783593440026
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Der Katholizismus zählte nicht zu den Pionieren der Demokratisierung in Deutschland. Gleichwohl ergaben sich aus den sozialen Bewegungen, mit denen er verknüpft war, und der Oppositionsrolle, die ihm im Zuge des 'Kulturkampfs' zuwuchs, Impulse, die die Entwicklung zu einer Demokratie förderten. Dieses Buch zeichnet das Verhältnis von Katholizismus und Demokratie nach - von der Stigmatisierung in der Bismarckära über ihren Beitrag zur Parlamentarisierung der Weimarer Republik und zum Widerstand im 'Dritten Reich' bis hin zur Entstehung der Nachkriegsordnung nach 1945.Wilfried Loth ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.Einleitung 9 1. Katholizismus und Moderne - Überlegungen zu einem dialektischen Verhältnis19 I. Ultramontane Abwehr19 II. Bewegung in der Moderne21 III. Der deutsche Katholizismus25 IV. Erfolg und Niedergang33 2. Bismarcks Kulturkampf - Modernisierungskrise, Machtkämpfe und Diplomatie35 I. Die Formierung der Zentrumspartei36 II. Kulturkampf-Maßnahmen40 III. Windthorst gegen Bismarck46 IV. Schwierige Verhandlungen48 V. Ein stabiler Kompromiss53 3. Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs54 I. Das katholische Deutschland54 II. Ultramontanismus und Milieubildung56 III. Der ländliche Populismus62 IV. Der bürgerliche Aufbruch71 V. Die katholische Arbeiterbewegung77 VI. Integration und Erosion86 4. Katholische Milieubildung, katholische Subgesellschaft und Zentrumspartei92 I. Milieus als sozio-kulturelle Gebilde93 II. Milieubildung im katholischen Deutschland96 III. Katholische Subgesellschaft102 IV. Pluralisierung und Integration105 5. Georg Friedrich Dasbach - Kulturkämpfer und Baumeister des Katholizismus108 6. Die deutschen Sozialkatholiken in der Krise des Fin de siècle117 I. Aus dem Turm heraus118 II. Sozialpolitischer Empirismus120 III. Sozialer und zivilisatorischer Fortschritt125 IV. Getrennte Wege130 7. Der Volksverein für das katholische Deutschland133 I. Eine Notgeburt134 II. August Pieper und die Kraft der Organisation138 III. Erfolg mit der Arbeiterbewegung142 IV. Grenzen und Krisen146 8. Bischof Karl Joseph Schulte von Paderborn (1910-1920) und der Streit um die Christlichen Gewerkschaften149 I. Die katholische Arbeiterbewegung unter Verdacht150 II. Die Bischöfe, der Volksverein und die Gewerkschaften152 III. Die Intervention des Papstes155 IV. Schultes Vermittlung159 V. Schulte gegen Kopp161 VI. Halbherzige Duldung165 9. Der Katholizismus und die Durchsetzung der Demokratie in Deutschland167 I. Pragmatischer Konstitutionalismus169 II. Stärkung des Reichstags173 III. Verschleppte Demokratisierung179 IV. Polarisierung im Weltkrieg185 V. Aufbau und Untergang191 VI. Das Ende der Ambivalenz196 10. Zentrum und Kolonialpolitik197 I. Bekehrung zur Weltpolitik198 II. Opposition der 'Zentrumsdemokraten'204 III. Bürgerlicher Imperialismus211 11. Das Reichskonkordat und der Untergang des politischen Katholizismus215 I. Ein ursächlicher Zusammenhang?215 II. Einwände218 III. Was bleibt?220 12. Katholische Kirche und Widerstand im 'Dritten Reich'225 I. Halbherziger Protest226 II. Anprangerung des Unrechtsstaats232 III. Die Frage des Widerstands237 IV. Ergebnisse240 13. Nikolaus Groß - Christliche Existenz in totalitärer Zeit243 I. Ein katholischer Arbeiterführer244 II. Katholische Arbeiterbewegung im 'Dritten Reich'248 III. Engagement im Widerstand251 IV. Die Unterstützung des Attentats254 14. Katholizismus, Pluralismus und die moderne Demokratie258 I. Eine grundsätzliche Ambivalenz258 II. Rerum novarum und Demokratisierung264 III. Antimodernismus und autoritäre Versuchung266 IV. Die Christdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg272 Quellen und Literatur276 Verzeichnis der ursprünglichen Druckorte der Beiträge299 Personenregister302

Wilfried Loth ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.

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Leseprobe
Einleitung Ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des sowjetkommunistischen Blocks gehören westlicher Pluralismus, parlamentarische Demokratie und europäische Einigung plötzlich nicht mehr zu den gesicherten Besitzständen gesellschaftlicher Ordnung in Deutschland und in Europa. Eine dramatische Entfremdung zwischen politischen und kulturellen Eliten einerseits und Teilen der Mittel- und Unterschichten, die sich vom allgemeinen Fortschritt abgehängt fühlen und auf die dramatischen Umwälzungen der Globalisierung mit Angst und Abschottung reagieren, wird von verantwortungslosen Populisten zur Beförderung der eigenen Macht benutzt und bedroht so den Bestand der freiheitlichen Ordnung ebenso wie die notwendige Solidarität unter den Europäern. Es wird wieder deutlich, dass die parlamentarische Demokratie und die Europäische Union der Verteidigung und der Pflege bedürfen, wenn sie auf Dauer Bestand haben sollen. Aufrufe zum Kampf für eine 'wehrhafte und streitbare Demokratie', wie sie der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Abschiedsrede gefordert hat, werden häufiger. In dieser Situation dürfte es hilfreich sein, den Beitrag, den Katholiken und der Katholizismus zur Durchsetzung der Demokratie in Deutschland und zu seiner Einbettung in die europäische Gemeinschaft geleistet haben, in Erinnerung zu rufen. Der Katholizismus zählte nicht zu den Pionieren der Demokratisierung in Deutschland; dagegen stand der antimoderne Grundimpuls, der zu seiner Entstehung im 19. Jahrhundert führte. Gleichwohl ergaben sich aus den sozialen Bewegungen, mit denen er verknüpft war, und der Oppositionsrolle, die ihm im Zuge des 'Kulturkampfs' zuwuchs, zahlreiche Impulse, die die Entwicklung zu einer parlamentarischen Demokratie förderten. Diese konflikthafte (und selten richtig verstandene) Entwicklung mündete nach dem Zusammenbruch des 'Dritten Reiches' in eine Situation, in der der deutsche Katholizismus zu einem der Architekten der Nachkriegsdemokratie und der europäischen Einigung avancierte. Es ist daher kein Zufall, dass etwa die katholischen deutschen Bischöfe zu den Mahnern gehören, die in der gegenwärtigen Situation mit deutlichen Worten vor einem Verfall von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität warnen. Ebenso wenig sollte es überraschen, dass sich der deutsche Laienkatholizismus bewusst dafür entschieden hat, den 101. Deutschen Katholikentag, der im Mai 2018 in Münster stattfindet, in klarer Abgrenzung von den demokratie- und fremdenfeindlichen Ambitionen der 'Alternative für Deutschland' zu einem Forum der 'streitbaren Demokratie' werden zu lassen. Eine historische Darstellung des Wegs der deutschen Katholiken zur Demokratie und ihres Beitrags zu ihrer Durchsetzung dürfte dieses Engagement besser verständlich machen und zugleich zu seiner Bekräftigung beitragen. Sie soll in diesem Band durch eine Auswahl von Beiträgen zur Geschichte des deutschen Katholizismus geleistet werden, die aus unterschiedlichen Anlässen entstanden sind und bislang nur dem jeweils einschlägigen Fachpublikum bekannt waren. Zusammen genommen bieten sie einen umfassenden Überblick über die konflikthafte Entwicklung des Verhältnisses von Katholizismus und Demokratie von der Stigmatisierung zu 'Reichsfeinden' im 'Kulturkampf' der Bismarckära über den Beitrag zur Parlamentarisierung des Deutschen Reiches im Übergang zur Weimarer Republik bis zur Entstehung der deutschen und europäischen Nachkriegsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Problematische Aspekte dieser Entwicklung wie der kompensatorische Nationalismus des späten Kaiserreichs, die Kapitulation vor der nationalsozialistischen Herausforderung und das sehr begrenzte Engagement im demokratischen Widerstand werden nicht verschwiegen. Es werden aber auch die Pioniere der Demokratisierung innerhalb des Katholizismus deutlich benannt. Der Band beginnt mit einer Erörterung des ambivalenten Verhältnisses von Katholizismus und Moderne: Auf der einen Seite hat sich die katholische Bewegung, die den Katholizismus im Laufe des 19. Jahrhunderts prägte, gegen die Umsetzung der Ideen der Aufklärung in der französischen Revolution formiert und Prinzipien verfochten, die den 'Ideen von 1789' diametral entgegengesetzt waren. Gegen die Idee der Volkssouveränität hielt sie am göttlichen Ursprung der Staatsgewalt fest, ebenso am Anspruch der Kirche auf Gestaltung der öffentlichen Ordnung. Auf der anderen Seite bediente sie sich selbst der Mittel des modernen Rechtsstaates, um die Stellung der Kirche zu befestigen, soweit sie durch die Auflösung der vorrevolutionären Geschlossenheit der Lebensordnungen bedroht war. Mit dem Kampf für die Befreiung der Kirche von staatlicher Bevormundung wirkte sie zugleich an der Erweiterung der Freiheitsrechte des Einzelnen und der gesellschaftlichen Gruppen in einem pluralistischen Staatswesen mit. Darüber hinaus aktivierte der Katholizismus mit der Mobilisierung breiter Bevölkerungskreise eine ganze Reihe von Gruppeninteressen, die über das Interesse an der Restaurierung kirchlicher Freiheiten und Machtpositionen weit hinausgingen. Vielfach wurde er erst dadurch zu einer politischen Kraft, die an der Gestaltung der modernen Staatsordnung mitwirkte. Er trug damit selbst zur gesellschaftlichen Durchsetzung der Moderne bei; und soweit er sich dabei von der ultramontanen Verengung zu lösen vermochte, wurde er auch zu einem Bestandteil der Moderne. In Deutschland fiel dieser Prozess mit der Konstituierung des modernen Nationalstaats in Form des Kaiserreichs von 1871 zusammen. Das offensive Eintreten einer Minderheit ultamontaner, ganz auf die Macht des Papsttums konzentrierter Katholiken für die Wiederherstellung des Kirchenstaates verleitete Bismarck und seine liberalen Verbündeten, den Kampf um die Einordnung der katholischen Kirche in diesen nationalen Staat mit allen Machtmitteln des Staates zu führen. Bismarcks Kulturkampf war damit, wie im zweiten Beitrag gezeigt wird, in der Hauptsache erfolgreich. Er hatte freilich den Nebeneffekt, dass die große Mehrheit der deutschen Katholiken und die Kirchenführer unter ultramontanen Vorzeichen zusammenrückten und die parlamentarische Vertretung der Ultramontanen, die 'Deutsche Zentrumspartei', zu einem Machtfaktor anwuchs, der zu einer festen Größe im politischen System des Kaiserreichs wurde. Damit wurden nicht nur Bismarcks Hoffnungen auf eine Konsolidierung des Obrigkeitsstaates in Frage gestellt; es stellten sich auch den liberalen Ambitionen auf seine Parlamentarisierung neue Schwierigkeiten entgegen. In der 'stabilen Krise' des Kaiserreichs, die daraus resultierte, nahm das Zentrum eine Schlüsselrolle ein. Wozu das Zentrum diese Schlüsselrolle nutzte, war grundsätzlich offen. Wie in dem Beitrag über Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs argumentiert wird, war der Kampf für den Erhalt der traditionalen Freiheiten und Machtpositionen der katholischen Kirche von Anfang an mit unterschiedlichen sozialen und politischen Bestrebungen verbunden: Im Widerstand gegen die aufklärerisch-repressive Kirchenpolitik artikulierten sich zugleich die Vorbehalte traditioneller Eliten gegen den modernen Nationalstaat; katholische Bürger verbanden die Opposition gegen das Staatskirchentum mit dem Kampf für die eigenen Freiheitsrechte im konstitutionellen Staat; Angehörige der traditionellen Unterschichten ließen sich für die katholische Sache gewinnen, weil sie zugleich der Abwehr liberaler Führungs-­ und Modernisierungsansprüche zu dienen schien; katholische Arbeiter erlebten den Katholizismus als Fluchtpunkt vor den Zumutungen der industriellen Arbeitswelt und möglichen Bundesgenossen bei der Abwehr der Ausbeutung durch liberale Unternehmer. Mit dem Durchbruch zur modernen Industriegesellschaft in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre machten sich diese unterschiedlichen Bestrebungen stärker bemerkbar. Heftige Auseinandersetzungen innerhalb des politischen Katholizismus waren die Folge. Sie mündeten in soziale und ideologische Zerklüftung, die die Zentrumspartei und den verbandlich organisierten Katholizismus zu einem leichten Opfer des totalitären Machtanspruchs der Nationalsozialisten werden ließen. Das Aufzeigen der inneren Gegensätze im politischen Katholizismus Deutschlands und der geringen Prägekraft seines religiösen Kerns, erstmals in meiner 1984 veröffentlichten Habilitionsschrift, hat für Irritationen gesorgt. In dem Beitrag über Katholische Milieubildung, katholische Subgesellschaft und Zentrumspartei wird mit dem Abstand von über drei Jahrzehnten Bilanz aus den dadurch ausgelösten Diskussionen und weiteren Forschungen gezogen. Es wird bekräftigt, dass die besondere Sozialform des deutschen Katholizismus zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik mehr und anderes war als ein sozialmoralisches Milieu und dass Milieus innerhalb des Katholizismus vielfältiger und entwicklungsfähiger waren, als es das in der Forschung lange Zeit populäre statische Bild einer Segmentierung der deutschen Gesellschaft in vier historische Großmilieus - neben dem katholischen ein ostelbisch-konservatives, ein liberal-bürgerliches und ein sozialistisches - suggeriert. Während die Formierung der Frömmigkeit im ultramontanen Sinn und die Ausgrenzung der Katholiken durch den Kulturkampf milieubildend wirkten, sorgten die Emanzipationsbewegungen eines katholischen Bürgertums, ländlicher Unterschichten und einer katholischen Arbeiterbewegung für eine Ausdifferenzierung dieses Milieus. Diese ging jedoch mit der Zeit über das Milieu als Lebensform hinweg. Politikfähig waren nach der Erfahrung der totalitären Bedrohung nur noch jene Fraktionen des Katholizismus, die schon lange einer Überwindung der Grenzen von Milieu und Subgesellschaft das Wort geredet hatten: die bürgerlichen Modernisierer und die katholische Arbeiterbewegung. Die Verbindung von religiösem und politischem Engagement wird exemplarisch in einem Beitrag über Georg Friedrich Dasbach vorgeführt. Der Trierer Kaplan mobilisierte 1875 zunächst mit einem Sonntagsblatt und dann auch mit einer Tageszeitung das katholische Volk der Moselregion zur Verteidigung seines Bischofs Matthias Eberhard, der wegen Verweigerung der Anzeigenpflicht bei Besetzung der Pfarrstellen gerade 300 Tage im Gefängnis verbracht hatte. Wie ultramontane Vorkämpfer in anderen Teilen des Reiches nutzte Dasbach das allgemeine und gleiche Wahlrecht, das bei den Wahlen zum Reichstag zum ersten Mal galt, um die 'kleinen Leute' zu politisieren und damit eine Waffe im Kampf mit der preußischen Obrigkeit und dem liberalen Gegner zu schmieden. Da er sich dazu auch der weltlichen Interessen seiner Leser und Wähler annehmen musste, entstand auf diese Weise eine mächtige soziale Bewegung und politische Kraft. Dasbach wurde in der Ausübung seiner seelsorglichen Tätigkeit behindert, bezog daraus aber weitere Impulse für den Aufbau eines gewaltigen Presseimperiums, half bei der genossenschaftlichen Organisation von Landwirten und Winzern und regte die erste gewerkschaftliche Organisation von Bergarbeitern im Kohlerevier an der Saar an. Als Abgeordneter im Preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag gehörte er zu den führenden 'Zentrumsdemokraten', die die Reichsleitung ebenso das Fürchten lehrten wie die bürgerlichen Honoratioren der Zentrumspartei. Neben den 'roten Kaplänen' wie Dasbach trugen auch die deutschen Sozialkatholiken, die an der Wende zum 20. Jahrhundert hervortraten, zur Formierung einer katholischen Arbeiterbewegung bei. In dem Beitrag, der ihnen gewidmet ist, wird zum einen der habilitierte Philosoph und sozialpolitische Sprecher der Zentrumsfraktion Georg von Hertling vorgestellt, der das soziale Denken der Katholiken aus der Bindung an mittelalterlich-zünftigen Ordnungsvorstellungen löste und einer Kombination von starken Sozialgesetzen und gewerkschaftlicher Organisation der Arbeiter das Wort redete. Zum anderen wird die Entwicklung von katholischen Priestern wie Franz Hitze, August Pieper, Heinrich Brauns und Otto Müller skizziert, die Hertlings Anregungen aufgriffen, weiterentwickelten und vor allem gegen vielfache Widerstände umsetzten - als sozialpolitische Theoretiker, Partner der katholischen Gewerkschaftsführer und hauptamtliche Direktoren des Volksvereins für das katholische Deutschland. Einige dieser Sozialreformer - so Heinrich Brauns - engagierten sich schließlich nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs für eine überkonfessionelle, demokratisch und sozial orientierte Partei-Neugründung, die die Sozialdemokraten als natürliche Verbündete bei der Festigung der deutschen Demokratie betrachtete. Andere hingegen - darunter August Pieper - flüchteten sich angesichts der Schwierigkeiten praktischer Sozialpolitik allerdings wieder in romantische Vorstellungen von ständestaatlicher Ordnung. Der praktische Beitrag der katholischen Sozialreformer zur Formierung einer katholischen Arbeiterbewegung bestand vor allem in der Entwicklung des Volksvereins zu einer Massenorganisation, die hauptsächlich von sozial und politisch engagierten Arbeitern getragen wurde. Ursprünglich als 'Vereinigung zur Verteidigung der christlichen Wahrheit' geplant, nutzte sein langjähriger Generaldirektor August Pieper (ab 1892) den Verein zur Bildung einer 'soziale Fortbildungsschule für das gesamte katholische Deutschland'. Sein Bildungsangebot an Schriften, Abendveranstaltungen und mehrwöchigen 'Volkswirtschaftlichen Kursen' wurde vor allem von sozialpolitisch engagierten Arbeitern wahrgenommen; aus ihren Reihen rekrutierten sich die Funktionäre und Führer der katholischen Arbeitervereine und der Christlichen Gewerkschaften. Katholische Arbeiter unterstützten dieses Bildungswerk mit ihren Mitgliedsbeiträgen; so kam der Volksverein nach schwierigen Anfängen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs auf über 800.000 Mitglieder - nur ein Fünftel weniger, als die Sozialdemokratische Partei für sich gewinnen konnte. Die Mobilisierung katholischer Arbeiter für die Idee der Sozialreform und das Engagement in den Christlichen Gewerkschaften wäre vermutlich noch erfolgreicher gewesen, wenn sie nicht auf das Misstrauen und die Feindschaft kirchlicher Kreise gestoßen wäre. Der Beitrag über Bischof Karl Joseph Schulte von Paderborn und der Streit um die Christlichen Gewerkschaften zeigt, wie dieses Misstrauen zu Bestrebungen führte, die Beteiligung von Katholiken an interkonfessionellen Gewerkschaften zu verbieten, und diese Bestrebungen teilweise Erfolg hatten: Mit der Enzyklika Singulari quadam vom September 1912 wurde den katholischen Arbeitern die Zusammenarbeit mit Nichtkatholiken in den Christlichen Gewerkschaften nur unter Vorbehalten und nur vorläufig gestattet. Nur die geschickte Intervention des Paderborner Bischofs sorgte dafür, dass diese Misstrauenskundgebung nicht zum Bruch der Christlichen Gewerkschaften mit dem kirchlich gebundenen Katholizismus führte. Der Beitrag beleuchtet das Selbstbewusstsein, das die katholischen Arbeiterführer unterdessen entwickelt hatten, aber auch die Weltfremdheit und das taktische Gerangel im deutschen Episkopat, die zwei Jahrzehnte später in der Konfrontation mit dem NS-Regime noch weit verheerendere Folgen haben sollten. Was folgte aus diesen Spannungen und Entwicklungen für die Durchsetzung der Demokratie in Deutschland? Das Eintreten für die 'bürgerliche Freiheit aller Angehörigen des Reiches', die Wahrung der Rechte der Einzelstaaten, Kommunen und Provinzen sowie die Ausdehnung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts auf alle Bundesstaaten (auch auf das im Reich dominierende Preußen) gehörten, so wird in dem jetzt folgenden Längsschnitt argumentiert, unter den Bedingungen des Kulturkampfs zur programmatischen Grundausstattung der Zentrumspartei. Mit dem Abklingen des Kulturkampfs bahnte sich allerdings eine konservative Reorientierung des Zentrums an. Sie wurde durch den Erfolg der 'Zentrumsdemokraten' gestoppt, die damit eine Einschränkung der Reichstagsrechte und eine Abkehr vom gleichen Wahlrecht im Reich verhindern konnten. Ein Kompromiss mit der Reichsleitung im Zeichen imperialistischer 'Weltpolitik' wurde von ihnen 1906 aufgekündigt. Es folgte nach einer Phase strategischer Offenheit eine Konstellation, die auf die Parlamentarisierung des Reiches hinauslief, seine Demokratisierung (insbesondere durch die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen) aber in ungewisse Fernen verschob. Unter den Belastungen des Weltkrieges war diese Konstellation freilich nicht länger tragfähig. Matthias Erzberger konnte jetzt mit der 'Friedensresolution' vom Juli 1917 den Übergang zur parlamentarischen Demokratie anbahnen. Nach der Novemberrevolution arbeitete das Zentrum konstruktiv an der Etablierung der Weimarer Republik mit. Die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie, die zu ihrer Konsolidierung notwendig war, wurde jedoch schon im Spätherbst 1923 wieder aufgegeben; für eine prinzipielle Verteidigung der republikanischen Staatsform engagierte sich nur eine Minderheit der Partei. Mit der Wahl des Prälaten Ludwig Kaas zum Parteivorsitzenden im Dezember 1928 rückten Politiker in Schlüsselpositionen ein, die auf eine autoritäre Umgestaltung der Republik hinarbeiteten. Dass sie dabei gegenüber der Hitler-Partei den Kürzeren zogen, war angesichts der inneren Spaltungen ihrer Formation nur konsequent. Es bedurfte der Erfahrung der Konsequenzen dieser Niederlage, um den deutschen Katholizismus definitiv auf einen demokratischen Kurs zu verpflichten. Nach dem Überblick über diese wechselvolle Geschichte der politischen Interventionen des Zentrums in der Demokratisierungsfrage schildert das Kapitel Zentrum und Kolonialpolitik den Wendepunkt von 1906 in exemplarischer Verdichtung. Es zeigt einen jugendlichen Matthias Erzberger, der, auf die Erbitterung der 'kleinen Leute' gestützt, die skandalösen Verhältnisse in den deutschen Kolonien gnadenlos offenlegte und damit das prekäre Machtgleichgewicht zwischen der bürgerlichen Zentrumsführung dieser Zeit und der Reichsleitung zum Einsturz brachte. Antikatholische Vorurteile der Liberalen hinderten sie, die damit gegebenen Chancen zur Demokratisierung des Reiches zu nutzen, und brachten das Zentrum selbst immer mehr auf das Gleis der wilhelminischen 'Weltpolitik'. Mehr als ein vorübergehendes Stagnieren im Parlamentarisierungsprozess war damit aber nicht erreicht. Von den Halbheiten der Parlamentarisierung und Demokratisierung des Kaiserreichs führt ein direkter Weg zum Untergang nicht nur der Weimarer Republik sondern auch des politischen Katholizismus. In dem Beitrag Das Reichskonkordat und der Untergang des politischen Katholizismus wird eine Bilanz der Kontroverse gezogen, die der katholische Historiker Konrad Repgen Ende der 1970er Jahre mit der Kritik an einer Darstellung des evangelischen Kirchenhistorikers Klaus Scholder entfacht hat. Sie mündet in die Feststellung, dass Hitlers Angebot eines Reichskonkordats den Widerstand des Zentrumsvorsitzenden Ludwig Kaas gegen eine Auflösung der Partei schwächte und bei der Entscheidung der Zentrumsfraktion für das Ermächtigungsgesetz neben Drohungen und Belästigungen auch Verlockungen eine Rolle gespielt haben. Nachdem die Wahl von Kaas zum Vorsitzenden den Konsens, der die Zentrumspartei zusammenhielt, schon auf den kirchenpolitischen Kern reduziert hatte, fiel dieser mit dem Angebot des Reichskonkordats ebenfalls weg. Da blieb nichts mehr, was den Kampf für die Fortexistenz der Partei hätte rechtfertigen können - jedenfalls dann nicht, wenn für diesen Kampf mit beruflichen und gesellschaftlichen Nachteilen oder sogar mit Verfolgung gezahlt werden musste. Von Katholischer Kirche und Widerstand im 'Dritten Reich' ist in diesem Zusammenhang zu berichten, dass Widerstand im Sinne einer Verweigerung verbrecherischer Befehle oder eines aktiven Hinwirkens auf eine Beseitigung des Regimes nur von einzelnen Katholiken, Laien wie Kleriker, geleistet wurde. Wegen der Risiken für Leib und Leben, die damit verbunden waren, durfte die Kirche ihren Gläubigen die Verantwortung für die Entscheidung zum Widerstand auch nicht abnehmen. Allerdings hätte die mobilisierende Kraft kirchlicher Verlautbarungen durchaus größer sein können, wenn die deutschen Bischöfe denn den Unrechtscharakter des NS-Regimes deutlicher und früher erkannt hätten und illusionäre Hoffnungen auf Sicherung der kirchlichen Belange nicht manche von ihnen bis zuletzt von energischeren Stellungnahmen abgehalten hätten. Die Auseinandersetzungen innerhalb der Bischofskonferenz um die Deutlichkeit öffentlicher Stellungnahmen offenbaren einmal mehr ein hohes Maß an Weltfremdheit und Kleinmut. Sensibilität und Mut, die bei einzelnen und letztlich nicht ganz wenigen Vertretern des Katholizismus zu finden waren, werden am Beispiel von Nikolaus Groß vorgeführt, der als Mitverschwörer des 20. Juli 1944 am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde. Nikolaus Groß gehörte zu den katholischen Bergleuten des Ruhrgebiets, die die 'Galopp-Universität' des Volksvereins absolvierten und auf dieser Grundlage hauptamtliche Funktionen in der katholischen Arbeiterbewegung übernahmen. Von 1927 an leitete er die Redaktion der Westdeutschen Arbeiterzeitung, des Organs der Katholischen Arbeiterbewegung Westdeutschlands. Politisch trat er für einen 'demokratischen Volksstaat' ein, und dieses Engagement führte ihn von 1935 an zusammen mit den anderen Führungskräften der KAB in den Widerstand. Als sich die Führer des konservativen Widerstands 1943 auf die Notwendigkeit eines baldigen Staatsstreichs verständigten, trugen die KAB-Führer diese Entscheidung nicht nur mit. Sie beteiligten sich aktiv an der Organisation des Umsturzregimes und an der Gewinnung von zuverlässigen Personen, deren Mitarbeit für die Etablierung des neuen Regimes unabdingbar war. Das Risiko, dieses Engagement für 'für die Freiheit und Würde seines Volkes' (wie er es nach seiner Verhaftung formulierte) mit dem Tod bezahlen zu müssen, nahm Groß in vollem Bewusstsein auf sich. Abschließend wird der Blick auf das Verhältnis des deutschen Katholizismus zur Demokratie unter dem Titel Katholizismus, Pluralismus und die moderne Demokratie noch einmal zusammengefasst und in Ausführungen zur Situation in den europäischen Nachbarländern eingebettet. Der ambivalente Charakter des Katholizismus im Hinblick auf die demokratische Ordnung tritt damit noch deutlicher hervor. Die Angst vor der Moderne ließ die kirchlichen Autoritäten wiederholt intervenieren, wenn sich Gruppierungen des sozialen oder politischen Katholizismus allzu stark für die Sicherung von Freiheitsrechten und Emanzipation engagierten. Die Vorstellungen von einer korporatistischen Neuordnung des Staates, wie sie etwa in der Enzyklika Quadragesima anno von 1931 sichtbar wurden, begünstigten die Abkehr von der republikanischen Staatsform. Die fatalen Konsequenzen dieser Entscheidungen führten dann aber nach 1945 zu einem umso stärkeren Engagement für die parlamentarische Demokratie. Es wird in der Zusammenschau deutlich, dass dieses heute mehr denn je gebraucht wird. Die vierzehn Beiträge können je nach Interesse unabhängig voneinander gelesen werden. Um den Gang der Forschung nachvollziehen zu können, sind sie im Wesentlichen unverändert gelassen worden. Es wurden lediglich Standardisierungen in der Präsentation vorgenommen; und bei Beiträgen, die schon vor längerer Zeit publiziert wurden, wurden Hinweise auf die seither erschienene Literatur hinzugefügt. Der Leser kann sich damit jeweils rasch über den aktuellen Forschungsstand informieren. Der Band lässt sich aber auch als eine fortlaufende Erzählung des Beitrags des Katholizismus zur Entstehung der deutschen Demokratie lesen - mit einigen unvermeidlichen Wiederholungen, aber in der Hauptsache doch mit unterschiedlichen Blickrichtungen, Schwerpunktsetzungen und exemplarischen Verdichtungen, die insgesamt ein umfassendes Bild ergeben. Der deutsche Katholizismus, soviel dürfte dabei deutlich werden, ist voller unterschiedlicher Facetten, aber wenn man die Geschichte des deutschen Nationalstaats und der deutschen Demokratie verstehen will, muss man sich die Mühe machen, sie im Einzelnen auszuleuchten. Ich danke dem Centrum für Religion und Moderne der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und insbesondere den Herausgebern seiner Schriftenreihe Religion und Moderne für ihre Unterstützung bei der Realisierung dieses Buches. Ebenso danke ich Jürgen Hotz vom Campus-Verlag, der sich auch dieses Projekts mit Sorgfalt und Weitblick angenommen hat. 1.Katholizismus und Moderne - Überlegungen zu einem dialektischen Verhältnis I. Ultramontane Abwehr Im Verständnis einer aufgeklärten Geschichtswissenschaft wird der Katholizismus in der Regel zu den Kräften gerechnet, die dem Projekt der Moderne entgegenstanden und gegen die sich die Modernisierer erst einmal durchsetzen mussten. Daran ist so viel richtig, dass sich die katholische Bewegung, die den Katholizismus im Laufe des 19. Jahrhunderts prägte, gegen die Umsetzung der Ideen der Aufklärung in der französischen Revolution formierte und Prinzipien verfocht, die den 'Ideen von 1789' diametral entgegengesetzt waren. Gegen die Betonung der menschlichen Vernunft und des Fortschritts propagierte sie die Verbindlichkeit der göttlichen Offenbarung und der Tradition des kirchlichen Lehramts. Gegen die Idee der Volkssouveränität hielt sie am göttlichen Ursprung der Staatsgewalt fest und am Anspruch der Kirche auf Gestaltung der öffentlichen Ordnung. Gegen die Tendenzen zur Herausbildung einer modernen Industriegesellschaft predigte sie die Einbindung in eine zeitlos harmonische ständestaatliche Ordnung. Gegen die Explosion der modernen Wissenschaften setzte sie auf die Weisheit der mittelalterlichen Scholastik. Und gegen den modernen Nationalismus entwickelte sie den Ultramontanismus, die absolute Bindung an den Papst in Rom. Die antimoderne Ausrichtung des Katholizismus ist immer wieder durch päpstliche Erklärungen bestätigt und bekräftigt worden. Das begann mit Pius VI., der sich nicht damit begnügte, die Zivilkonstitution der französischen Nationalversammlung zu verurteilen, weil sie die Kirche, gallikanischer Tradition entsprechend, ganz als Staatsinstitution behandelte, sondern ausdrücklich die Erklärung der Menschenrechte als mit der katholischen Lehre unvereinbar ablehnte: unvereinbar im Hinblick auf den Ursprung der Staatsgewalt, auf die Religionsfreiheit und auf die gesellschaftliche Ungleichheit. Und es erreichte seinen Höhepunkt mit der prägnanten Verurteilung der liberalen Ideen, die Pius IX. 1864 mit der Enzyklika Quanta cura und dem beigefügten Syllabus errorum vorlegte: Sie richtete sich ausdrücklich gegen die Vorstellung, die Gesellschaft könne ohne Rücksicht auf die Religion und ohne Unterschied zwischen den verschiedenen Religionen organisiert werden, und verurteilte dann Volkssouveränität, Glaubens- und Kultusfreiheit, Pressefreiheit, Säkularisierung der gesellschaftlichen Institutionen und Trennung von Kirche und Staat als Ausdruck dieses Irrglaubens, ebenso wie Rationalismus, Ökonomismus und Sozialismus. Die globale Absage des Katholizismus an die Moderne war kein Zufall und auch nicht nur die Folge unbedachter Eskalation der Gegensätze kirchenpolitischer Auseinandersetzungen. Die Aufklärung stellte einen Angriff auf den Monopolanspruch der katholischen Weltdeutung dar, und die Revolution bedrohte die materiellen Grundlagen der kirchlichen Machtstellung, besonders seit sie sich zum Zugriff auf die Kirchengüter und die geistlichen Fürstentümer entschlossen hatte. Da war es ganz unwahrscheinlich, dass es der Kirche gelingen würde, sich rechtzeitig von den traditionalen Verhältnissen zu lösen und die christlich gestaltbaren, zum Teil sogar christlich fundierten Momente des Umbruchs zur Moderne zu erkennen. Viel näher lag es, sich in der Abwehr von Aufklärung und Revolution mit all jenen Kräften zu verbünden, die gegen die Entwicklung zur Moderne opponierten, und in idealistischer Verklärung der vorrevolutionären Verhältnisse auf die Schaffung eines neuen christlichen Weltreiches zu hoffen. In den innerkirchlichen Auseinandersetzungen, die auf die Erschütterung durch Revolution und Säkularisation folgten, hatte der Ultramontanismus darum von vorneherein die besseren Karten; und auch bei der Formierung des Katholizismus im gesellschaftlichen und politischen Raum stand er bald im Vordergrund, während Ansätze zur Bildung eines liberalen Katholizismus immer Episoden blieben. Die Frontstellung gegen die Moderne wurde noch dadurch zusätzlich gefördert, dass der Papst als Herrscher über den Kirchenstaat selbst Teil der alten Ordnung war und der Klerus auch in den übrigen italienischen Staaten über starke Machtpositionen verfügte. Das legte es allein schon aus Gründen des Machterhalts nahe, für die Restauration der alten Ordnung zu kämpfen, förderte den Glauben an die Durchsetzbarkeit der theoretischen Visionen und bestärkte die liberale Bewegung in ihrer Neigung, den Katholizismus pauschal mit der Reaktion zu identifizieren und entsprechend zu bekämpfen. In der Tat nahm der Kirchenstaat nach seiner Restauration 1815 bald die Züge eines christlichen Polizeistaates an, der modernem rechtsstaatlichem Empfinden Hohn sprach, und die Päpste wandten sich nach 1848 wie nach 1870 dem Bündnis mit den konservativen Mächten zu, um ihre Herrschaft über den Kirchenstaat wiederherzustellen. Beides stärkte die ultramontanen Positionen und zog denjenigen, die an einem Ausgleich der Kirche mit der modernen Welt arbeiteten, den Boden unter den Füßen weg. II. Bewegung in der Moderne Dennoch - dies muss nun gegen eine Auffassung betont werden, die immer noch allzu sehr von dem Kampf geprägt ist, den die Kräfte der Aufklärung gegen die katholische Kirche zu führen hatten - lässt sich der Katholizismus auch in seiner ultramontanen Ausprägung nicht ohne Einschränkungen als eine Bewegung gegen die Moderne charakterisieren. Dagegen spricht zunächst, dass er, aus den Initiativen vieler Einzelner und Gruppen, nicht etwa aus Weisungen der kirchlichen Hierarchie hervorgegangen, sich selbst der Mittel des modernen Rechtsstaates bediente, um die Stellung der Kirche zu befestigen, soweit sie durch die Auflösung der vorrevolutionären Geschlossenheit der Lebensordnungen bedroht war. Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Parlamente und ihre Mitspracherechte wurden von den Anwälten der katholischen Bewegung dazu genutzt, das katholische Volk für die Anliegen der Kirche und des Papstes zu mobilisieren und die Kirche als gesellschaftliche Kraft in der nachrevolutionären Ordnung zu verankern. Der Katholizismus stellte damit selbst eine moderne Bewegung dar, dessen Existenz an die Voraussetzung der Errungenschaften der Revolution und der Säkularisierung gebunden war - eine moderne Bewegung gegen die Moderne sozusagen, die aber allein schon aus Eigeninteresse keinen Totalangriff gegen die Moderne führen konnte, vielmehr selbst Elemente der Moderne in sich trug und, indem sie die verlorengegangenen feudalen Stützen durch gesellschaftliche und politische Mobilisierung der Katholiken ersetzte, die Kirche partiell modernisierte. Darüber hinaus verfocht der ultramontane Katholizismus selbst liberale Prinzipien, wenn und soweit die Erben der Aufklärung diese vergaßen. Das galt insbesondere für ihre Amalgamierung mit der staatskirchlichen Tradition, aber auch für die aus einem holistischen Volksbegriff resultierende Neigung zur Entwicklung moderner Staatsomnipotenz und für die Verengung der liberalen Bewegung auf die Förderung bürgerlicher Klasseninteressen. Die katholische Kritik an diesen Entwicklungen fußte gewiss nicht auf der bewussten Übernahme liberaler Theoreme; sie gründete vielmehr teils in der Überzeugung von der Unveräußerlichkeit vorstaatlicher Rechte und stellte zum Teil auch nur eine opportunistische Ausnützung der Schwächen der liberalen Gegenspieler dar. Erst recht weitete sie sich nicht zu einer Infragestellung der eigenen Weltordnungsansprüche aus, was ihre Glaubwürdigkeit natürlich von vorneherein stark beeinträchtigte. Dennoch wirkte der Katholizismus mit dieser Kritik bisweilen als liberales Korrektiv, das mit dem Kampf für die Befreiung der Kirche von staatlicher Bevormundung zugleich an der Erweiterung der Freiheitsrechte des Einzelnen und der gesellschaftlichen Gruppen in einem pluralistischen Staatswesen mitwirkte. Drittens aktivierte der Katholizismus mit der Mobilisierung breiter Bevölkerungskreise eine ganze Reihe von Gruppeninteressen, die über das Interesse an der Restaurierung kirchlicher Freiheiten und Machtpositionen weit hinausgingen, der Bewegung aber vielfach überhaupt erst die nötige politische Virulenz verschafften. So artikulierten sich im Widerstand gegen die aufklärerisch-repressive Kirchenpolitik zugleich die Vorbehalte traditionel
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Einleitung10
1.Katholizismus und Moderne – Überlegungen zu einemdialektischen Verhältnis20
I. Ultramontane Abwehr20
II. Bewegung in der Moderne22
III. Der deutsche Katholizismus26
IV. Erfolg und Niedergang34
2.Bismarcks Kulturkampf – Modernisierungskrise,Machtkämpfe und Diplomatie36
I. Die Formierung der Zentrumspartei37
II. Kulturkampf-Maßnahmen41
III. Windthorst gegen Bismarck47
IV. Schwierige Verhandlungen49
V. Ein stabiler Kompromiss54
3.Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs55
I. Das katholische Deutschland55
II. Ultramontanismus und Milieubildung57
III. Der ländliche Populismus63
IV. Der bürgerliche Aufbruch72
V. Die katholische Arbeiterbewegung78
VI. Integration und Erosion87
4.Katholische Milieubildung, katholische Subgesellschaft und Zentrumspartei93
I. Milieus als sozio-kulturelle Gebilde94
II. Milieubildung im katholischen Deutschland97
III. Katholische Subgesellschaft103
IV. Pluralisierung und Integration106
5. Georg Friedrich Dasbach – Kulturkämpfer und Baumeister des Katholizismus109
6.Die deutschen Sozialkatholikenin der Krise des Fin de siècle118
I. Aus dem Turm heraus119
II. Sozialpolitischer Empirismus121
III. Sozialer und zivilisatorischer Fortschritt126
IV. Getrennte Wege131
7. Der Volksverein für das katholische Deutschland134
I. Eine Notgeburt135
II. August Pieper und die Kraft der Organisation139
III. Erfolg mit der Arbeiterbewegung143
IV. Grenzen und Krisen147
8.Bischof Karl Joseph Schulte von Paderborn (1910–1920) und der Streit um die Christlichen Gewerkschaften150
I. Die katholische Arbeiterbewegung unter Verdacht151
II. Die Bischöfe, der Volksverein und die Gewerkschaften153
III. Die Intervention des Papstes156
IV. Schultes Vermittlung160
V. Schulte gegen Kopp162
VI. Halbherzige Duldung166
9. Der Katholizismus und die Durchsetzung der Demokratie in Deutschland168
I. Pragmatischer Konstitutionalismus170
II. Stärkung des Reichstags174
III. Verschleppte Demokratisierung180
IV. Polarisierung im Weltkrieg186
V. Aufbau und Untergang192
VI. Das Ende der Ambivalenz197
10.Zentrum und Kolonialpolitik198
I. Bekehrung zur Weltpolitik199
II. Opposition der »Zentrumsdemokraten«205
III. Bürgerlicher Imperialismus212
11. Das Reichskonkordat und der Untergang des politischen Katholizismus216
I. Ein ursächlicher Zusammenhang?216
II. Einwände219
III. Was bleibt?221
12. Katholische Kirche und Widerstand im »Dritten Reich«226
I. Halbherziger Protest227
II. Anprangerung des Unrechtsstaats233
III. Die Frage des Widerstands238
IV. Ergebnisse241
13.Nikolaus Groß – Christliche Existenz in totalitärer Zeit244
I. Ein katholischer Arbeiterführer245
II. Katholische Arbeiterbewegung im »Dritten Reich«249
III. Engagement im Widerstand252
IV. Die Unterstützung des Attentats255
14.Katholizismus, Pluralismusund die moderne Demokratie259
I. Eine grundsätzliche Ambivalenz259
II. Rerum novarum und Demokratisierung265
III. Antimodernismus und autoritäre Versuchung267
IV. Die Christdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg273
Quellen und Literatur277
Verzeichnis der ursprünglichenDruckorte der Beiträge300
Personenregister303

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