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Freuds Atheismus im Widerspruch

Freud, Weber und Wittgenstein im Konflikt zwischen säkularem Denken und Religion

AutorHerbert Will
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl182 Seiten
ISBN9783170250239
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Sigmund Freuds Atheismus wurde zum Vorbild vieler religionskritischer Bewegungen im 20. Jahrhundert. Dieses Buch stellt seinen Absolutheitsanspruch infrage. Während seinerzeit religionskritische Kämpfe zu entscheidenden Fortschritten geführt haben, leben wir heute in einer Zeit größerer Nachdenklichkeit. Der Autor stellt eine historische Konfliktlinie vor, die sich zwischen Glaube und Unglaube, Atheismus und Kirche, säkularem Denken und Religion entfaltet hat. Er zeigt, wie Freud in seinem Leben und Denken auf sehr menschliche Weise darin verstrickt ist, und schildert, wie andersartig der Soziologe Max Weber und der Philosoph Ludwig Wittgenstein ihr Verhältnis zu Religion und Säkularität gestalten. Er möchte die Leser anregen, ihre eigenen Erfahrungen und Überzeugungen im Konfliktfeld zwischen moderner Rationalität und verzaubernder Religiosität zu reflektieren.

Dr. Herbert Will ist als Psychoanalytiker in der therapeutischen Praxis, Lehre und Wissenschaft engagiert und hat mehrere erfolgreiche Bücher zu psychoanalytischen Themen publiziert. Er vertritt einen interdisziplinären Zugang zu Religion und Spiritualität.

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Leseprobe

1


Einleitung


In diesem Buch geht es um zwei Themen. Das eine beschäftigt sich mit dem Schicksal der Religion in der Moderne. Es nimmt die epochale Veränderung auf, die Friedrich Nietzsche und Max Weber besonders dramatisch in Worte gefasst haben: den Tod Gottes oder vielmehr seine Ermordung, den Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott und den Sieg des Atheismus. Nietzsche hat ihn ein gesamt-europäisches Ereignis genannt (1887, 481. 599). Weber hebt die Zäsur säkularen Formats hervor, welche die moderne rationale Welt, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, von der religiös-metaphysisch bezauberten alten Welt mit ihren Glaubenswahrheiten scheidet (Tyrell 1991). Beide muten ihren Zeitgenossen zu, diese epochale Diskontinuität persönlich und intellektuell sich anzueignen.

Wie machen sich Sigmund Freud, Max Weber und Ludwig Wittgenstein diesen Zeitenbruch zu eigen? Genau um diese Frage geht es, wenn ich ihre religiöse Biografie und ihr Denken in den Mittelpunkt stelle. An ihrem Beispiel möchte ich untersuchen, wie vielfältig, widersprüchlich und individuell das moderne Subjekt seine religiösen, anti- oder areligiösen Überzeugungen ausbildet. Damit übernehme ich die historische Perspektive Webers und wende sie auf drei individuelle Schicksale an. Weber steht für eine Nachdenklichkeit, welche die persönliche und zeitgenössische religiöse Lage soziohistorisch zu fassen sucht. Freud tritt dagegen mit der Perspektive des stolzen Atheisten auf. Er stellt sich in größte Distanz zur Religion, entlarvt sie als illusionäre Wunscherfüllung und bekämpft ihre Macht (Will 2006c). Wittgenstein schließlich erobert ein neues Verständnis von Religiosität. Er nimmt Religion von innen her ernst und artikuliert sie als Teil seiner eigenen Existenz und seines emotionalen Erlebens (Biletzki 2009).

Es wird sich zeigen, dass diese drei unterschiedlichen Perspektiven Widersprüche auch in sich enthalten. Die Religionsverhältnisse in der Moderne erweisen sich als ziemlich spannungsvoll, und zwar nicht nur gesellschaftlich und zwischen den Individuen, sondern auch innerhalb der einzelnen Person. Um das fassen zu können, gehe ich von einer konflikthaften Struk-tur des Religiösen im Individuum aus, also von einem psychoanalytischen Gedanken. Erweitert wird er in der These, dass sich diese konflikthafte Struktur in den letzten Jahrhunderten auch gesellschaftlich und kulturell ausgestaltet hat: in der vormodernen Spannung zwischen Glauben und Unglauben, in dem Kampf zwischen Atheismus und Kirche zu Freuds Zeit und im Widerspruch zwischen Säkularität und Religion in unserer Gegenwart. Die säkulare Welt gewinnt sich selbst, indem sie sich von Religion abgrenzt und zu ihr in Widerspruch tritt (Weber 1915; Habermas 2001a; Taylor 2007). Auf diese Weise kommt der Untertitel des Buches zustande, in dem ich von dem Konflikt zwischen säkularem Denken und Religion spreche. Ich hoffe, dieser Konflikt taugt als analytische Kategorie, um Freud, Weber und Wittgenstein besser zu verstehen.

Das zweite Thema des Buches ist Freuds Atheismus. Hier wende ich mich nicht gegen Freuds atheistisches Denken, aber gegen die Verlötung der Psychoanalyse mit der atheistischen Position. Ich stelle die Selbstgewissheit und den imperialen Anspruch infrage, mit denen er – und viele seiner Nachfolger – diese und die darauf aufbauende Religionskritik verficht. In diesem Punkt tritt er auf, als stünde er jenseits der Geschichte. Ich meine, dass er damit seiner eigenen Aufforderung zur psychoanalytischen Selbstreflexion nicht gerecht wird. Zudem verkennt er, dass er eine Position in einem historischen Kampf gegen andere Positionen einnimmt. Neben internen Widersprüchen in seiner antireligiösen Haltung führe ich Weber und Wittgenstein als externe Zeugen dafür an, dass andere Haltungen zur Religion bei vergleichbarer intellektueller Redlichkeit möglich sind. So kommt der Haupttitel des Buches: Freuds Atheismus im Widerspruch zustande.

Religion perspektivisch betrachtet


Die Kritik der Freudschen Position – nicht ihrer Einsichten, sondern ihrer behaupteten Absolutheit – war das ursprüngliche Interesse dieses Buchprojektes. Sie erweiterte sich zur jetzigen Fragestellung. Da ich meine, dass die persönliche Lebenserfahrung und der soziokulturelle Hintergrund einen ganz besonders prägenden Einfluss auf die jeweiligen (a)religiösen Überzeugungen und Theoriebildungen haben, ist es wichtig, die jeweilige Perspektivität zu berücksichtigen; das gilt natürlich auch für Autoren, Leserinnen und Leser. Deshalb möchte ich meinen Hintergrund kurz skizzieren.

Als Jugendlicher hatte ich Ende der 1960er Jahre Freuds Schriften kennengelernt. Ich war fasziniert von ihnen und hatte das Gefühl, endlich jemanden gefunden zu haben, der gleichsam innerlich mit mir verbündet ist und mir bei meiner Freiheitssuche hilft. Später stellte ich fest, dass es anderen genauso ging wie mir.1 Auch seine Religionskritik nahm ich sehr ernst und fand sie plausibel. Gleichwohl verließ mich nie die Ahnung, dass irgendetwas daran nicht stimmt. Ich war in einer Familie mit einer menschenfreundlichen protestantischen Tradition Herrnhuter Ausprägung aufgewachsen. Von daher hatte ich keinen Anlass, wie viele meiner Altersgenossen eine Religionsaversion oder Kirchenaversion zu entwickeln. Religionsfragen interessierten mich. Ich studierte evangelische Theologie, Philosophie und Sozialwissenschaften, dann noch Medizin, und machte die psychoanalytische Ausbildung. Ich war ausgesprochen erstaunt, als Jahre nach meiner intensiven analytischen Selbsterfahrung tief von innen heraus eine religiöse Überzeugung hochstieg, die bis heute trägt. Nun musste ich konstatieren, dass meine eigene Lebenserfahrung in Widerspruch zu jener atheistischen Überzeugung trat, die bis heute von vielen geradezu als Eigenart der Freudschen Psychoanalyse angesehen wird. Am eigenen Leib erfuhr ich gewissermaßen die Spannung zwischen der profiliert säkularen Freudschen Position und meiner eigenen Erfahrung. Ich sah mich gezwungen, sowohl persönlich als auch wissenschaftlich über diesen Widerspruch nachzudenken. Seither gehört das psychoanalytische Verständnis von Religion zu meinen Arbeitsfeldern als Psychoanalytiker.

Innerhalb der Psychoanalyse gibt es eine starke, vor allem europäische Tradition, welche die atheistische Haltung mit der aufgeklärten Vernunft und die Religion mit einer wahnhaften Illusion gleichsetzt (z. B. Mitscherlich 1963; Beland 2009). Wer Religiosität erlebt und praktiziert, ist sofort dem Verdacht ausgesetzt, in dieser Hinsicht unaufgeklärt zu sein. Theodor Reik hat die atheistische Tradition der Psychoanalyse in seinem Referat zu Freuds Zukunft einer Illusion bei der Vorstandssitzung der Wiener psychoanalytischen Vereinigung im Dezember 1927 besonders drastisch formuliert:

»Die Wissenschaft verkündet zwar, Gott sei tot, aber er lebt unterirdisch weiter. Hier nun muss die Forschungsarbeit der Analyse einsetzen: man muss diesen Toten exhumieren und sich davon überzeugen, dass er wirklich tot ist. ›Ce sont les morts qu’il faut qu’on tue.‹« (Reik 1928, 28 f).

Diese Einstellung hat sich in letzter Zeit tendenziell verändert (Black 2006; O’Neil & Akhtar 2009; Bohleber 2009). Im Gegensatz zur weitgehend atheistischen Vergangenheit der Disziplin hat sich in Teilen der Psychoanalyse eine neue Art von Langmut gegenüber der Religion entwickelt, wie Whitebook (2009, 836) treffend formuliert. Doch auch Langmut ist noch keine Anerkennung. Da ich mich selbst in der aufklärerischen Tradition der Psychoanalyse verankert sehe (Will 2003), kann ich mich – wie viele andere – nicht damit einverstanden erklären, wenn mir der aufgeklärte Vernunftgebrauch abgesprochen wird. Im Gegensatz zur atheistischen Position meine ich, dass praktizierte Religiosität und aufgeklärte Vernunft miteinander vereinbar sind – und zwar wenn beide reflexiv werden. Diese Reflexivität gehört wohl zu den Forderungen unserer Zeit. Das gilt auch für die Psychoanalyse, die bezüglich der Religion erst teilweise den Schritt zur Selbstaufklärung vollzogen hat, der eigentlich genuin zu ihr gehört (Will 2014b). Ich meine, dass heute die kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen in einer Weise verändert sind, die diese Selbstaufklärung erleichtern. Im Sinne von Whitebooks (2009) Plädoyer halte ich die Zeit für gekommen, der Religion mehr Gerechtigkeit angedeihen zu lassen und zugleich das psychoanalytische Projekt der Emanzipation und Autonomie nicht zu verraten, sondern weiterzuführen.

Nun taucht diese Aufgabenstellung keineswegs nur in der psychoanalytischen Diskussion auf. Wie Hartung und Schlette (2012) hervorheben, ist das moderne Selbstverständnis tief durch das Spannungsverhältnis geprägt, welches zwischen aufgeklärter Vernunft und praktizierter Religiosität...

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