Sie sind hier
E-Book

Freunde und Verwandte

Soziale Beziehungen in einer spätmittelalterlichen Stadt

AutorKerstin Seidel
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl350 Seiten
ISBN9783593405735
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis41,99 EUR
Auch im Mittelalter waren verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen wichtige Bezugspunkte im Leben. Kerstin Seidel stellt in einem Vergleich der beiden Beziehungsformen dar, wie sich diese ergänzten, durchdrangen und miteinander konkurrierten. Am Beispiel des spätmittelalterlichen Köln veranschaulicht sie, dass Verwandtschaftsbeziehungen zwar von Konflikten getrübt sein konnten, verglichen mit den zumeist flüchtigen und zweckgebundenen Freundschaften jedoch sehr viel stärkere Bindungen bedeuteten. Freundschaften wurden wichtig, wenn Verwandte fehlten, und oft wurden sie durch Heirat in Verwandtschaft überführt.

Kerstin Seidel, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität Zürich.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe
Einleitung 1. Ausgangspunkte Das Mittelalter dient Historikern oftmals als Gegenfolie, wenn sie neuzeitliche Prozesse, insbesondere Modernisierungstendenzen, beschreiben wollen. Häufig ist das Bild vom ?Vorher?, das in diesen Entwürfen transportiert wird, diffus. Es speist sich aus Globalannahmen über die vormodernen Zeiten oder aus einzelnen Fallstudien, die unzulässig zeitlich erweitert und räumlich übertragen werden. Eine in diesem Zusammenhang oft wiederholte These ist die, dass sich spätestens mit der Industrialisierung die vorherrschenden Familienformen in Mitteleuropa entscheidend verändert hätten, dass die Mobilität der Arbeitskräfte, die durch die veränderten ökonomischen Bedingungen notwendig geworden sei, eine Konzentration auf die Kernfamilie herbeigeführt habe. Neben diesem Argument werden sowohl von Sozialhistorikern als auch von Soziologen zahlreiche andere angeführt, die einen Bedeutungsverlust der weiteren Verwandtschaft in der Moderne belegen sollen. Die Funktionen, die vormals den Verwandten zukamen, hätten nun entweder die Versorgungseinrichtungen des modernen Staates, die Mitglieder der Kernfamilie (in erster Linie der Partner) oder die Freunde übernommen. Vor allem Letzteren wurde im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert in der populären Ratgeberliteratur die Rolle der wichtigsten Bezugspersonen im Leben des modernen Individuums zugeschrieben. Hinter diesen vermeintlich am modernen Untersuchungsgegenstand gebildeten Thesen stehen gleich mehrere Annahmen über die vormodernen Verhältnisse: erstens, dass der große Verwandtschaftsverband ?früher? - und das soll ja vielfach bedeuten: bis ins 18. Jahrhundert hinein - tatsächlich gegenüber kernfamilialen Formen dominiert hätte, zweitens, dass in derart verwandtschaftszentrierten Gesellschaften andere Beziehungsformen wie etwa Freundschaft nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben können, und drittens, dass es eine vergleichbare Mobilität, die andere Beziehungsformen als die Verwandtschaft hätte befördern müssen, noch nicht gegeben hätte. Gegen die erste dieser Annahmen wandten sich zuerst in den 1960er Jahren an Strukturen interessierte Sozialhistoriker wie die Forschergruppe um Peter Laslett, die anhand empirischer Verfahren nachweisen konnte, dass der durchschnittliche Haushalt auch im Mitteleuropa der Vormoderne auf die Kernfamilie konzentriert war. Vertreter einer stärker am handelnden Subjekt orientierten historischen Anthropologie und Kulturgeschichte betonten gegenüber der älteren Metaerzählung von der Stabilität vormoderner Verwandtschaftsverbände die Fragilität und Konfliktanfälligkeit familialer Konstellationen. Hier kommen auch andere Beziehungsformen neben der alles dominierenden Verwandtschaft in den Blick, so etwa spirituelle Verwandtschaftsverbindungen, Patron-Klient-Beziehungen oder Freundschaft. Die Bedeutung genossenschaftlicher Verbindungen wurde ebenfalls bereits lange betont, ohne dass dies jedoch auf die Verwandtschaftsforschung Einfluss genommen hätte. Gegen die dritte Annahme sind schließlich Gelehrte oder Kaufleute des späten Mittelalters anzuführen, deren gruppenspezifische Mobilität und die damit verbundene Trennung von den Herkunftsfamilien die Etablierung anderer sozialer Beziehungen zur Folge hatten. Studien zu Gelehrtenzirkeln legen durchaus die Vermutung nahe, dass Freundschaft jedenfalls für die Struktur bestimmter Gruppen von großer Bedeutung war. In seiner grundlegenden Einführung zur Geschichte der Stadt im späten Mittelalter bezeichnet Eberhard Isenmann die Verwandtschaft nicht nur als basalste Beziehungsform, sondern auch als Grundlage und Bauprinzip der städtischen Gesellschaft. Ihr zur Seite stellt er als einzige weitere wichtige Sozialform auf freier Einung beruhende Zusammenschlüsse wie Bruderschaften, Gilden und Zünfte, Trinkstuben- und Patriziergesellschaften. Informelle Beziehungen wie Freundschaft erwähnt er nicht. Offenbar spielen sie seiner Ansicht nach für die Organisation und für das Gefüge der Stadt keine Rolle. Tatsächlich kommen der Verwandtschaft beziehungsweise der Familie wichtige Funktionen zu. Michael Mitterauer bringt diese auf die Formel 'Kult, Schutz, Arbeit, Erziehung'. Verlässt man den von ihm angesprochenen Rahmen der Nahverwandten, wären Aspekte wie geregelte Besitzweitergabe, Sozialkontrolle oder auch Identifikationsstiftung zu ergänzen. In der vorliegenden Untersuchung wird nicht nur zu fragen sein, inwiefern Verwandtschaft tatsächlich eine quasi ?systemstabilisierende? Wirkung hatte, sondern auch, ob Freundschaft oder vergleichbaren Beziehungsformen, die nicht analog zur Verwandtschaft strukturiert sind, in bestimmten Kontexten ähnliche Funktionen zukamen wie der Verwandtschaft. Neben dieser Handlungsebene, die auf eine Unterscheidung und Konkurrenz der Beziehungssysteme abhebt, muss die Sprachebene mit einbezogen werden. Auch wenn die Beziehungsformen Freundschaft und Verwandtschaft in der Forschung meist separat behandelt werden, deutet etwa die begriffliche Ambivalenz des Terminus frunt, der sowohl ?Freund? als auch ?Verwandter? heißen kann, darauf hin, dass die Konzepte für enge Sozialbeziehungen Überschneidungen aufweisen, dass die Grenzen nicht trennscharf zu ziehen sind oder dass sie jedenfalls nicht den modernen Begriffen entsprechen. Nicht nur das Vokabular für soziale Nahbeziehungen, auch viele Forschungsergebnisse, so etwa diejenigen Gerd Althoffs zu rituellen Freundschaften, die er als 'künstliche Verwandtschaften' qualifiziert, weisen auf Überschneidungen der Beziehungssysteme Freundschaft und Verwandtschaft hin. Das Augenmerk soll hier daher vor allem auf die Beziehungsformen Verwandtschaft und Freundschaft gelegt werden. Mit Blick auf die ältere Forschung gilt es zum einen, das Bild vom harmonischen Verwandtschaftsverband der Vormoderne zu hinterfragen, aber auch das später dominierende Narrativ von der Konfliktanfälligkeit familialer und verwandtschaftlicher Beziehungen auf seine Plausibilität zu überprüfen. Es gilt zu untersuchen, ob neben der Verwandtschaft auch der Freundschaft gesellschafts- oder gruppenstrukturierende Funktion zukam. Überdies müssen die zeitgenössischen Konzepte von Freundschaft und Verwandtschaft, ihr Zusammenfallen wie ihre Abgrenzungen voneinander, untersucht werden, um Aufschluss über die Relevanz der Beziehungsformen in der spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft zu erlangen. Als Untersuchungsraum wurde die Stadt Köln gewählt; Grundlage sind dementsprechend nahezu ausschließlich Quellen, die in der Stadt am Rhein entstanden sind. Die Verfasser dieser Quellen und die Akteure in ihnen gehören hauptsächlich drei Gruppen der städtischen Ober- und Mittelschicht an: Es sind Vertreter der alten Patriziergeschlechter, die bis zur so genannten ?Revolution? von 1396 die alleinige Macht in der Stadt innehatten, es sind Kaufleute, also die wirtschaftlich potenten und politisch einflussreichsten Kölner im 15. Jahrhundert, und es sind Kölner Bürger, die als Gelehrte an der Kölner Universität wirkten. Die zeitliche Eingrenzung der Untersuchung ergibt sich aus der Überlegung, die Umbrüche einzubeziehen, die die stadtkölnische Gesellschaft im späten Mittelalter erlebte, nämlich einerseits den Sturz der Geschlechterherrschaft im Jahr 1396 mit den damit verbundenen politischen und sozialen Veränderungen, und auf der anderen Seite die Auseinandersetzungen mit humanistischen Strömungen zum Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Vorwort10
Einleitung12
1. Ausgangspunkte12
2. Forschungslage15
3. Fragestellung und Untersuchungsgang22
4. Köln im späten Mittelalter25
I Verwandtschaft interpretieren: Das Kölner Ratsschriftgut34
1. Hintergrund: Der Kölner Rat und seine Gesetzgebung34
2. Hochzeiten und Todesfälle: Verwandtschaft in den Luxusgesetzen39
3. Verwandtschaft als Problem: Umbewertungen in städtischen Konflikten47
4. Fazit: Bedeutung und Umdeutung von Freundschaft und Verwandtschaft55
II Der Verwandtschaft gedenken: Die Kölner Testamente57
1. Hintergrund: Bürgertestamente in Köln und anderswo57
2. Zugehörigkeiten demonstrieren: Die Wahl der Grabstätte63
3. Gemeinschaft der Lebenden und der Toten: Stiftungen für das Seelenheil81
4. Gruppenzusammenhänge im Diesseits: Die Erben85
5. In der Vertrauensposition: Wer wird Treuhänder?104
6. Fazit: Bindungsmuster in den Kölner Testamenten118
III Schreiben über Verwandtschaft: Selbstzeugnisse aus Köln123
1. Hintergrund: Familienbücher im Kontext der Selbstzeugnisforschung123
2. Die Slosgins: Familienidentität und soziale Verortung einer Kaufleutefamilie131
3. Werner Overstolz: Formen patrizischer Repräsentation156
4. Hermann von Weinsberg: vox audita perit, litera scripta manet177
5. Fazit: Differente Entwürfe sozialer Beziehungen203
IV Sprechen über Freunde und Verwandte: Zur Semantik sozialer Beziehungen208
1. Hintergrund: Forschungen zur Semantik208
2. Polyvalente Bezeichnungen214
3. Übertragene Bedeutungen: Ratsfreunde und Amtsbrüder227
4. Fazit: Begriffliche Konzepte von Freundschaft und Verwandtschaft234
V Verwandte machen, verwandt sein: Beziehungsnormen und Konflikte236
1. Hintergrund: Was ist Verwandtschaft?236
2. Die Ehegemeinschaft: Kooperation und Konflikt239
3. Ein ›Generationenvertrag‹ im Mittelalter? Die Eltern-Kind-Beziehung245
4. Geschwister: Verbündete Rivalen?260
5. Das Fehlen der entfernten Verwandten in der Kölner Überlieferung266
6. Die fruntschaft verneuweren: Gevatterschaften und Eheschließungen269
7. Fazit: Über die Bindekraft der Verwandtschaft275
VI Freunde finden: Probleme mit einer sozialen Beziehung277
1. Reprise: Auf der Suche nach Freunden277
2. Freundschaft als Strukturprinzip der Gelehrtengemeinschaft289
3. Die appellative Funktion der Freundschaft: Kaufleute und ihre Korrespondenzen297
4. Fazit: Der appellative Kern der Freundschaft309
Schluss311
Quellen und Literatur316
1. Quellen316
2. Literatur319
Sach- und Personenregister339

Weitere E-Books zum Thema: Mittelalter - Renaissance - Aufklärung

Heilsrahmen

E-Book Heilsrahmen
Spirituelle Wallfahrt und Augentrug in der flämischen Buchmalerei des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Format: PDF

In einigen Stundenbüchern lassen sich eingenähte metallene Pilgerzeichen oder auch deren illusionistisch gemalte Abbildungen finden. Pilgerzeichen wurden von 1480-1530 in Stundenbücher…

Die Landmauer von Konstantinopel-Istanbul

E-Book Die Landmauer von Konstantinopel-Istanbul
Historisch-topographische und baugeschichtliche Untersuchungen - Millennium-Studien / Millennium StudiesISSN 18 Format: PDF

Millennium transcends boundaries - between epochs and regions, and between disciplines. Like the Millennium-Jahrbuch, the journal Millennium-Studien pursues an international, interdisciplinary…

Die Landmauer von Konstantinopel-Istanbul

E-Book Die Landmauer von Konstantinopel-Istanbul
Historisch-topographische und baugeschichtliche Untersuchungen - Millennium-Studien / Millennium StudiesISSN 18 Format: PDF

Millennium transcends boundaries - between epochs and regions, and between disciplines. Like the Millennium-Jahrbuch, the journal Millennium-Studien pursues an international, interdisciplinary…

Die Landmauer von Konstantinopel-Istanbul

E-Book Die Landmauer von Konstantinopel-Istanbul
Historisch-topographische und baugeschichtliche Untersuchungen - Millennium-Studien / Millennium StudiesISSN 18 Format: PDF

Millennium transcends boundaries - between epochs and regions, and between disciplines. Like the Millennium-Jahrbuch, the journal Millennium-Studien pursues an international, interdisciplinary…

Weitere Zeitschriften

ARCH+.

ARCH+.

ARCH+ ist eine unabhängige, konzeptuelle Zeitschrift für Architektur und Urbanismus. Der Name ist zugleich Programm: mehr als Architektur. Jedes vierteljährlich erscheinende Heft beleuchtet ...

Archiv und Wirtschaft

Archiv und Wirtschaft

"Archiv und Wirtschaft" ist die viermal jährlich erscheinende Verbandszeitschrift der Vereinigung der Wirtschaftsarchivarinnen und Wirtschaftsarchivare e. V. (VdW), in der seit 1967 rund 2.500 ...

BIELEFELD GEHT AUS

BIELEFELD GEHT AUS

Freizeit- und Gastronomieführer mit umfangreichem Serviceteil, mehr als 700 Tipps und Adressen für Tag- und Nachtschwärmer Bielefeld genießen Westfälisch und weltoffen – das zeichnet nicht ...

Burgen und Schlösser

Burgen und Schlösser

aktuelle Berichte zum Thema Burgen, Schlösser, Wehrbauten, Forschungsergebnisse zur Bau- und Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Denkmalschutz Seit ihrer Gründung 1899 gibt die Deutsche ...

Das Grundeigentum

Das Grundeigentum

Das Grundeigentum - Zeitschrift für die gesamte Grundstücks-, Haus- und Wohnungswirtschaft. Für jeden, der sich gründlich und aktuell informieren will. Zu allen Fragen rund um die Immobilie. Mit ...

SPORT in BW (Württemberg)

SPORT in BW (Württemberg)

SPORT in BW (Württemberg) ist das offizielle Verbandsorgan des Württembergischen Landessportbund e.V. (WLSB) und Informationsmagazin für alle im Sport organisierten Mitglieder in Württemberg. ...

Evangelische Theologie

Evangelische Theologie

Über »Evangelische Theologie« In interdisziplinären Themenheften gibt die Evangelische Theologie entscheidende Impulse, die komplexe Einheit der Theologie wahrzunehmen. Neben den Themenheften ...