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Frieden schließen mit dem Kind in uns

Wie wir uns von Einflüssen der Vergangenheit befreien

AutorMichael Mary
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783492993579
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Während der Kindheit sammeln wir grundlegende Überzeugungen darüber, wie die Welt funktioniert und worauf es im Leben ankommt. Diese »Wahrheiten« entscheiden später mit darüber, ob Paarbeziehungen gelingen, ob wir uns beruflich durchsetzen können, wie wir Konflikte lösen oder was wir im Leben für erstrebenswert halten. Der  Einfluss nachteiliger Erfahrungen aus der Vergangenheit lässt sich aufheben, indem wir sie »umschreiben«: indem wir aus heutiger Perspektive heraus neue Bewertungen treffen, zu anderen Wahrheiten gelangen und so zu neuen, besseren Ansichten über das Leben finden. Michael Mary zeigt, wie das gelingt.

Michael Mary ist seit 35 Jahren Berater und hat sich auf Paar-, Single- und Individualberatung spezialisiert. Er ist Autor zahlreicher erfolgreicher Sachbücher, darunter Bestseller wie »5 Lügen, die Liebe betreffend«. Bei Piper erschien zuletzt 'Die Liebe und das liebe Geld'. Für den NDR und SWR führte er etliche Paarberatungssendungen durch. Michael Mary lebt und arbeitet in Hamburg.

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Leseprobe

1 Alltägliche Begegnungen mit dem Inneren Kind


Zwar glauben manche Menschen, mit dem Inneren Kind nicht viel oder nichts zu tun zu haben. Dass das aber nicht sein kann, ergibt sich allein schon aus der Definition des Begriffs: Das Innere Kind bezeichnet eine in der Vergangenheit entstandene Wahrnehmung. Und über eine solche verfügt natürlich jeder.

Die Vergangenheit ist insofern nie vorbei, als sie sich jeden Moment auf die Gegenwart auswirkt. Sie beeinflusst das Denken und Fühlen, das Verhalten und die Lebenshaltung, das Glücksempfinden und die Lebenszufriedenheit jedes Einzelnen. Wie sich dieser Einfluss konkret auswirkt, das ist den meisten Menschen allerdings unklar, denn er vollzieht sich überwiegend unbewusst. Hinzu kommt, dass sich die meisten erst dann auf Spurensuche in die eigene Wahrnehmung begeben, wenn sich nachteilige Folgen einstellen, die mit der Vergangenheit verbunden sind. Auch das ist bei jedem Einzelnen – natürlich in unterschiedlichem Ausmaß – der Fall.

Solche nachteiligen Auswirkungen zeigen die folgenden Beispiele. In ihnen lassen sich Spuren verfolgen, die aus dem gegenwärtigen Leben in die Vergangenheit weisen.

 

Frau Brede ist Ende vierzig, sie arbeitet als selbstständige Architektin. Ihr Geschäft läuft gut, sie verdient mehr, als sie zu einem guten Leben braucht. Weil sie sich aber seit Jahren kräftemäßig am Limit bewegt, hat sie beschlossen, weniger Aufträge anzunehmen. Nur gelingt es ihr nicht, diesen Entschluss in die Tat umzusetzen. Aus ihr unerfindlichen Gründen nimmt sie weiterhin mehr Arbeit an, als sie bewältigen kann, obwohl die dauernde Erschöpfung ihre Lebensqualität erheblich beeinträchtigt. Sie arbeitet oft siebzig Stunden wöchentlich, nimmt kaum Urlaub und wenn, kann sie dort schlecht entspannen.

Ihr Ehemann, der ihrem Treiben seit Jahren frustriert zusieht, stellt mittlerweile die Beziehung infrage, denn er bekommt seine Frau nur selten zu Gesicht. Er droht schließlich mit Trennung. Erst daraufhin lehnt seine Frau schweren Herzens tatsächlich einige Aufträge ab. Nach sechs Monaten hat sie den Auftragsstau so weit abgearbeitet, dass sie zumindest teilweise bei einem Achtstundentag angekommen ist.

Im Lauf dieser Monate macht sie eine erstaunliche Entdeckung. Sie sagt: »Wenn ich abends von der Arbeit nicht kaputt bin, bekomme ich Existenzängste. Ich kann dann schlecht einschlafen, grüble endlos und mache mir Sorgen. Wenn ich aber total fertig nach Hause komme, bin ich zwar müde, aber frei von Angst.«

Offenbar dient Frau Brede ihre Erschöpfung als Gradmesser eines existenziellen Sicherheitsgefühls. Das würde erklären, warum es ihr bisher nicht gelingt, ihre Arbeit vernünftig zu strukturieren. Wenn sie entspannt ist, beschleicht sie Angst. Nur wenn sie erschöpft ist, scheint alles in Ordnung zu sein. Hier ist ganz deutlich das Innere Kind am Werk.

 

Wie genau das Innere Kind in diesem Fall wirkt, darauf gehe ich im nächsten Abschnitt ein. Lassen Sie mich zuvor ein weiteres Beispiel anführen:

 

Herr Peters ist Anfang vierzig, als er ohne Ankündigung von seiner Frau verlassen wird. Die Umstände sind krass. Er kommt von einer kleinen Dienstreise nach Hause und findet die Schränke seiner Frau leer. Sie ist zu einem anderen Mann gezogen, in einem Brief kündigt sie ihre Scheidungsabsicht an. Herr Peters fällt augenblicklich in ein tiefes Loch. Der gestandene Mann wird zu einem Häuflein Elend. Er hat Schwierigkeiten, seine Arbeit zu bewältigen. Nachts kann er kaum schlafen. Manchmal liegt er zitternd und weinend im Bett. Seine Gefühle spielen Achterbahn, mal ist er todtraurig, mal wütend und hasserfüllt. Er fühlt sich allein und hat Angst, niemals wieder eine Liebe zu finden.

Auch hier ist das Innere Kind am Werk. Herr Peters nimmt das wahr, denn er sagt: »Ich fühle mich verlassen, wie ein verlorenes Kind.«

 

Es ließen sich noch endlos Beispiele für Situationen aufführen, in denen sich das Innere Kind bemerkbar macht, in denen die Wurzeln von Erlebens- und Verhaltensweisen in die Vergangenheit reichen. Etwa bei:

  • einer Frau, die ihren Mann anklagt, sie nicht »zu sehen«;
  • einem Mann, der jede Auseinandersetzung mit seiner Frau scheut und ihr aus dem Weg geht;
  • einem Mann, der seine Partnerin bedroht, damit sie auf seine Bedürfnisse eingeht;
  • jemandem, der nie genug Geld oder Ruhm oder Macht hat und verbissen an der Vermehrung dessen arbeitet;
  • einem eifersüchtigen Partner, der ausrastet, wenn der andere nicht pünktlich nach Hause kommt oder mit jemandem flirtet;
  • einem Künstler, dessen Publikum schwindet und der daraufhin in eine Depression fällt;
  • einem Menschen, der seine Arbeit verliert, in Panik gerät und existenzielle Ängste verspürt;
  • einem streitenden Paar, das sich in Vorwürfen und Beschuldigen verliert;
  • einem Menschen, der sein Leben lang hart schuftet, um das Leben »später« zu genießen;
  • einer Frau, die sich klaglos für Kinder und Familie aufopfert, sich selbst und ihre Bedürfnisse aber hintanstellt;
  • einem Menschen, der Angst vor Autoritäten zeigt und sich ihnen gegenüber zurücknimmt;
  • einem Single, der sich nicht mehr auf Liebe einlässt, weil er Angst vor dem Schmerz der Trennung hat;
  • jemandem, der lustlos zur Arbeit geht und sich dazu gezwungen fühlt;
  • jemandem, der seine Bedürfnisse ignoriert;
  • und in unzähligen anderen Situationen mehr.

 

All diese Beispiele deuten an, dass die Vergangenheit in der Gegenwart auftauchen und ein Leben bestimmen kann, jedenfalls wesentliche Teile davon. Die Frage ist nur, auf welche Weise das geschieht.

Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass in den beiden ausführlich geschilderten Beispielen das Innere Kind auf unterschiedliche Weise aufgetaucht ist: Im ersten Fall hat es sich unbemerkt in ein Leben eingeschlichen, im zweiten ist es plötzlich und überfallartig dort hineingebrochen.

Sich ins Leben einschleichen oder plötzlich darin einbrechen – das sind die beiden grundsätzlichen Erscheinungsweisen des Inneren Kindes im Leben eines Erwachsenen. Schauen wir uns beide Varianten näher an.

Wie sich das Innere Kind ins Leben eines Erwachsenen einschleicht


Das unbemerkte Einschleichen des Inneren Kindes in das Leben eines erwachsenen Menschen lässt sich gut anhand des Beispiels von Frau Brede aufzeigen. Die Architektin hat sich an den Rand eines Burn-outs geschuftet und schließlich eine Entdeckung gemacht: »Wenn ich abends von der Arbeit nicht kaputt bin, bekomme ich Existenzängste.«

Was musste Frau Brede tun, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen? Gehen wir ein paar Schritte zurück: Ihre Äußerung und ihr Zustand lassen Rückschlüsse auf ihr Verhalten in der Arbeitswelt zu. Seit sie sich selbstständig gemacht hat, überfordert sie sich. Sie arbeitet bis zu siebzig Stunden pro Woche, obwohl sie das materiell nicht nötig hat. Und obwohl sie rational um ihre Belastung weiß, gelingt es ihr nicht, das selbstschädigende Verhalten zu ändern. Erst unter dem Druck ihres Mannes, der sie mit der Trennungsandrohung gewissermaßen zu einer Verhaltensänderung zwingt, kann sie das Arbeitspensum wenigstens ein Stück weit reduzieren.

Damit stellt sich die Frage nach den Motiven ihres Verhaltens. Was mag Frau Brede dazu bringen, man könnte sogar sagen, dazu zwingen, derart über ihre Grenzen zu gehen? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, jedenfalls nicht, wenn man Frau Brede direkt nach ihren Motiven fragt. Sie könnte dann lediglich antworten: »Ich weiß es selbst nicht, ich verstehe es selbst nicht.«

Man muss auf andere Weise nach den Motiven suchen. Indem man fragt: »Wovon muss ein Mensch überzeugt sein, damit ein solch fragwürdiges Verhalten einen Sinn für ihn ergibt? Was muss er für wahr halten, um sich so verhalten zu müssen?« Fragen wie diese wenden sich nicht an den Verstand, nicht an die kluge Überlegung. Von dort ist keine Antwort zu erwarten, denn das Verhalten von Frau Brede ist weder rational noch klug. Die passenden Antworten sind im Unbewussten zu finden, in vagen Gefühlswelten. Frau Brede muss daher »aus dem Gefühl« heraus antworten, und zwar so, als ob sie sich absichtlich und mit gutem Grund so verhalten würde.

 

Frau Brede macht sich auf die Suche nach entsprechenden Überzeugungen. Am treffendsten erscheinen ihr schließlich folgende Aussagen:

»Man muss alles geben, sonst geht man unter!«

»Wer sich nicht anstrengt, kommt nicht weit!«

»Nur wenn ich alles gebe, wird alles gut!«

Diese Aussagen mögen irrational erscheinen, und sie sind es auch. Dennoch erklären sie das belastende Verhalten.

Wahrheiten wirken


Unterstellen wir einmal, was Frau Brede da aus dem Bauch heraus äußert, wäre wirklich wahr. Es würde sich um zutreffende Wahrheiten und Überzeugungen handeln. Um die Wahrheit! Dann wäre ihr Verhalten keineswegs sinnlos und falsch, sondern sinnvoll und richtig.

Ein Mensch, der so etwas glaubt, muss sich einfach so verhalten. Und Frau Brede glaubt so etwas, allerdings glaubt sie es, ohne sich darüber bewusst zu sein. Ihre Antworten legen eine Spur in ihre Kindheit. Anders gesagt: Es muss in ihrer Kindheit eine Zeit gegeben haben, in der es sinnvoll erschien, sich so zu verhalten. Wieso? Beispielsweise aufgrund familiärer Situationen, aufgrund der Anforderungen der Eltern an das Kind, aufgrund der Verhaltensbeispiele, die das Kind bei den Eltern sah, aufgrund von Ängsten, die es von den Eltern...

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