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Fromme Lektüre und kritische Exegese im langen 19. Jahrhundert

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783170285538
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis52,99 EUR
Das lange 19. Jahrhundert, von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg, zeichnet sich durch das Nebeneinander konträrer Entwicklungen aus. Dies wirkt sich auch auf die Bibelrezeption und -auslegung aus. Während sich Frauen z. B. in England und Amerika als Wissenschaftlerinnen an der Entwicklung und Verbreitung der historisch-kritischen Exegese beteiligten, hatten Frauen in Spanien, Italien oder Russland oft nur unter großen Schwierigkeiten Zugang zur Bibel. Die Beiträge dieses Bandes beleuchten eine Vielzahl von Regionen und konfessionellen Orientierungen, wie italienische Waldenserinnen, russische orthodoxe Nonnen und Einsiedlerinnen, katholische Ordensfrauen, Jüdinnen und methodistische Predigerinnen aus Amerika, Evangelistinnen, Politikerinnen, Schriftstellerinnen und Künstlerinnen.

Prof. Dr. Michaela Sohn-Kronthaler, Universität Graz. Prof. Dr. Ruth Albrecht, Universität Hamburg.

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Leseprobe

Einleitung


Ruth Albrecht und Michaela Sohn-Kronthaler


Die Verwandlung der Welt – diesen Titel gab der in Konstanz lehrende Historiker Jürgen Osterhammel seiner voluminösen Geschichte des 19. Jahrhunderts, die in kurzer Zeit fünf Auflagen erreichte.1 Neben allem Wandel, der die Epoche zwischen 1789 und 1914/18 bestimmt, dürfen jedoch die beständigen Elemente nicht übersehen werden. Zu den Kennzeichen des langen 19. Jahrhunderts gehört, dass die christlichen Konfessionen und Milieus sich in erheblichem Maß ausdifferenzierten. Diese Binnendifferenzierung war gleichzeitig begleitet von Säkularisationstendenzen, die allerdings nicht dazu führten – wie lange Zeit von der Forschung angenommen –, dass die Bedeutung religiöser Deutungssysteme insgesamt zurücktrat.2

Alle christlichen Kirchen und auch die Gemeinschaften, die erst im Laufe dieses Jahrhunderts durch Abspaltungen bzw. Neugründungen entstanden, maßen den biblischen Texten eine entscheidende Bedeutung zu. Bei genauerem Blick zeigen sich hier große Unterschiede. Die Bibellektüren und die Interpretationen biblischer Texte wurden von disparaten Strömungen beeinflusst. Weiterhin hatten das schlichte Lesen und das Hören der Heiligen Schrift in Gottesdiensten und privater Erbauung ihren Platz. Daneben gewann jedoch im Laufe des langen 19. Jahrhunderts die kritische exegetische Betrachtung der biblischen Überlieferung zunehmend an Raum. Die diversen Zugangsweisen zur Bibel spiegeln sich u. a. in den vielen verschiedenen Bibelausgaben und Bibelübersetzungen, von denen ein kleiner Teil in den hier versammelten Beiträgen Verwendung findet. Die bewährten Bibelausgaben – insbesondere die von der katholischen Kirche verwendete Vulgata sowie die von den lutherischen Kirchen benutzten Übersetzungen Martin Luthers – behielten zwar ihre Bedeutung, doch neue Editionen und Übersetzungen markieren durch die Breite der unterschiedlichen Zugänge zur Bibel die Ablösung autoritativer Auslegungstraditionen. Nicht jede Gruppe oder Strömung des 19. Jahrhunderts bediente sich einer eigenen Bibelausgabe, mit etlichen Neuaufbrüchen waren jedoch auch neue Herangehensweisen an die biblische Überlieferung verbunden.

Die Veränderungen, die in dem sogenannten langen 19. Jahrhundert vor sich gingen, wirkten sich auf alle Bereiche des Lebens und Denkens aus. Männer wie Frauen standen vor neuen Herausforderungen, die in der Regel für die Geschlechter unterschiedlich aussahen. Frauen gewannen größere Freiräume als zuvor: Diese Aussage gilt für das weibliche Geschlecht insgesamt, nicht jedoch für jede einzelne Frau.

Die Moderne eröffnete überhaupt erst die Möglichkeit, dass Frauen einen Platz als Subjekt, als eigenständiges Individuum, als politische Akteurin und Staatsbürgerin beanspruchen konnten. Trotz der extremen normativen Kodifizierung ihres Alltagslebens erweiterte sich für Frauen in dieser Zeit der Bereich des Möglichen, und neue kühne Aussichten rückten in greifbare Nähe.3

Diese Sätze aus der Einleitung zum Band über das 19. Jahrhundert in der fünfteiligen Geschichte der Frauen stehen unter dem Leitmotiv „Ordnungen und Freiheiten“. Mit diesen beiden Begriffen versuchen die Herausgeberinnen des Buches die widersprüchlichen Tendenzen des Jahrhunderts unter der Perspektive von Frauen zu fassen. Die Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert gehört zu den Schwerpunkten der historischen Frauenforschung, die seit den 1970er Jahren damit begann, feministische Theorien auf die Vergangenheit anzuwenden. Religiöse Aspekte fanden zunächst wenig Beachtung, inzwischen jedoch kommt eine Rekonstruktion des sogenannten langen Jahrhunderts nicht mehr ohne die Beachtung der weibliche Lebensentwürfe vielfach bestimmenden religiösen Orientierungen aus.4 Die Geschichte der Frauen widmet drei der zwanzig analytischen Kapitel diesem Aspekt, indem der Katholizismus, der Protestantismus und das Judentum thematisiert werden.5

Die Bibel als das grundlegende schriftliche Dokument des Christentums verbindet zum einen alle christlichen Konfessionen – zum anderen jedoch bilden unterschiedliche Herangehensweisen an die Heilige Schrift bisweilen trennende Merkmale der konfessionellen Familien. Die Differenzen hinsichtlich der Rezeption und Interpretation der biblischen Überlieferung trennen aber auch die verschiedenen Strömungen in den großen Kirchen voneinander. Im 19. Jahrhundert stießen diese Gegensätze scharf aufeinander und gaben Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen.

Sieht man von Einzeluntersuchungen ab, so erschienen 2006 und 2007 gleich zwei Aufsatzbände, die sich dem Verhältnis von Frauen zur biblischen Tradition zuwenden. Marion Ann Taylor und Heather E. Weir veröffentlichten eine Publikation, in welcher Frauen und ihre Rezeption des Buches Genesis präsentiert werden. Der Sammelband, den Christiana de Groot und Marion Ann Taylor – beide haben auch als Autorinnen an dem nun vorliegenden Band mitgewirkt – veröffentlichten, macht Bibelinterpretatorinnen des 19. Jahrhunderts bekannt; weitere Werke kamen in den vergangenen Jahren hinzu.6 Es ist bezeichnend, dass sich bislang noch keine größere deutschsprachige wissenschaftliche Publikation mit der Rezeption der Bibel durch Frauen und deren Bibelverständnis auseinandergesetzt hat.

Das 2012 in den USA publizierte Handbook of Women Biblical Interpreters, von Marion Ann Taylor herausgegeben, das zum ersten Mal Frauen aus allen Jahrhunderten als Interpretinnen biblischer Texte zusammenstellt, umfasst insgesamt 180 Artikel. Mehr als ein Drittel davon widmet sich Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts.7 Während dieses Handbuch vor allem repräsentative Vertreterinnen der unterschiedlichen Strömungen der Bibellektüre vorstellt, liegt der Fokus unseres Bandes darauf, die Diversität der Beiträge von Frauen zum Bibelverständnis und deren Bibelinterpretation hervorzuheben. Die verschiedenen christlichen Konfessionen weisen dabei unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten für Frauen auf. So hatten Protestantinnen andere Spielräume als etwa Katholikinnen, deren autonome Schriftauslegung grundsätzlich eingeschränkt oder durch die kirchliche Hierarchie reglementiert wurde, sieht man von speziellen Ausnahmefällen ab, wie der Beitrag von Adriana Valerio im vorliegenden Band zeigt.

In den Einzelstudien unseres Bandes geht es darum, sowohl bekannte als auch weithin unbekannte Frauen und ihr Verhältnis zur Bibel in Wort und Bild zu dokumentieren. Autorinnen aus der Zeit vom späten 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert kommen mit ihren Deutungen und Interpretationen zur Sprache. Selbst den wenigen hier versammelten exemplarischen Untersuchungen gelingt es, die Vielfalt weiblicher Bibellektüre unter Beweis zu stellen. Trotz der notwendigen Beschränkung auf einige detaillierte Analysen lässt sich erkennen, dass eine große Bandbreite des Umgehens mit der Heiligen Schrift dokumentiert werden kann. Diese reicht von der Applizierung biblischer Gestalten als Vorbilder der eigenen Lebensgestaltung bis hin zur Beteiligung an der wissenschaftlichen Exegese. Die von Frauen verwendeten literarischen Gattungen, in denen sich ihre Beschäftigung mit der Bibel niederschlägt, reicht von Briefen, Tagebüchern und autobiografischen Aufzeichnungen über Erzählungen, Romane, Lieder und Gedichte bis hin zu exegetischen Spezialabhandlungen und Kommentaren zu einzelnen biblischen Büchern. Frauen sprachen und schrieben in ausgesprochen unterschiedlichen Kontexten vom kleinsten privaten Zirkel bis zu hin öffentlichen Massenversammlungen über ihr Bibelverständnis. Einigen ging es lediglich darum, die in ihrer kirchlichen Tradition vorgefundene Deutung biblischer Texte durch ihre Auslegung zu bestärken und zu bezeugen. Bei anderen stand ausdrücklich die Absicht im Vordergrund, die bisherige Lesart der Bibel durch den eigenen Beitrag zu verändern. Die Bibel bleibt wichtiger Bezugsrahmen, auch wenn sich Frauen von deren Geltungsanspruch distanzieren. Die Unterschiedlichkeit der Bibelrezeption durch Frauen erstaunt und ist bisher so nicht dargestellt worden. Konfessionelle Paradigmen werden durchbrochen, Jüdinnen, Christinnen und Frauen am Rande der christlichen Tradition lesen biblische Texte teilweise mit vergleichbaren Impulsen. Sie sehen sich darin bestärkt, für Gleichheit und Bildungschancen von Frauen einzutreten, weil sie in der biblischen Überlieferung Vorbilder für ihr Handeln finden. Konfessionelle Prägungen unterscheiden aber auch die Autorinnen: Eine russisch orthodoxe Einsiedlerin oder Äbtissin eines Frauenklosters liest die Bibel mit anderer Perspektive als eine amerikanische Methodistin oder eine vom Luthertum geprägte deutsche Evangelistin, die Impulse der angelsächsischen Heiligungsbewegung aufgreift.

Als Konsequenz der oben angesprochenen Bedeutung der unterschiedlichen Bibelausgaben und -übersetzungen haben wir uns dazu entschieden, Bibelzitate in der Originalsprache zu belassen. Wenn wir eine der gängigen deutschsprachigen Bibelausgaben verwendet hätten, wäre dies auf Kosten der Differenziertheit geschehen: Eine italienische Nonne benutzte nicht die Lutherbibel, und eine methodistische Amerikanerin hatte vermutlich keine Kenntnis katholischer Ausgaben, die auf dem Vulgatatext beruhten. Nur italienische und spanische Bibeltexte wurden ins Deutsche übersetzt, die englischsprachigen Bibelzitate wurden möglichst im Original abgedruckt, um so die hohe Bedeutung des Bibeltextes und seiner Auslegung hervorzuheben. Zitate, die drei Zeilen und mehr umfassen, wurden ebenfalls im Englischen belassen, da spezifische Bedeutungen verloren gehen, wenn diese Formulierungen der Sprache des 19....

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