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Frühkindliche Traumatisierungen

Auswirkungen aus der Perspektive der Bindungstheorie sowie sozialpädagogische, bindungsbasierte Präventions- und Interventionsangebote

AutorSabrina Barche
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783656402367
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2010 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,0, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Sprache: Deutsch, Abstract: Seit den ersten wissenschaftlichen Abfassungen der Bindungstheorie seitens des englischen Psychiaters und Psychoanalytikers John Bowlby (1907-1990) in den 1950er Jahren sowie den daran anschließenden grundlegenden empirischen Arbeiten der kanadischen Forscherin Mary Ainsworth sind mehr als 60 Jahre vergangen. Schon damals revolutionierten die Überlegungen Bowlbys die Ansichten über die Bedeutung der frühen Mutter- Kind-Beziehung, weil sie die Rolle anfänglicher Interaktionen mit der mütterlichen Bindungsperson sowie frühe Erfahrungen, wie zum Beispiel die Trennung von der Mutter, für die weitere Persönlichkeitsentwicklung des Kindes unterstrichen. Die einzige Theorie, die es bezüglich des engen Bandes zwischen Mutter und Kind damals gab, besagte, dass ein Kind eine emotionale Beziehung zu seiner Mutter entwickelt, weil diese es ernährt. Bowlby, u.a. geprägt durch evolutionstheoretische Forschungen von Konrad Lorenz, verneinte dies ausdrücklich und erklärte, dass es ein biologisch angelegtes System der Bindung gibt, das für die Entwicklung der emotionalen Beziehung zwischen Mutter und Kind verantwortlich ist (vgl. Grossmann & Grossmann 2003, S.41). Emotionale Bindung hängt also folglich nicht von der Nahrungszufuhr ab, ist weiterhin bei allen Menschen genetisch vorgeprägt, d.h. aus der Evolution hervorgegangen und sichert das Überleben des Babys. Ferner bildet jedes Kind aufgrund der unterschiedlichen Eltern- Kind- Interaktionen verschiedene Bindungstypen und -muster aus, welche die Entwicklung des Kindes in vielfacher Weise ein Leben lang beeinflussen (vgl. Spangler & Zimmermann 2002, S.12). Nachdem es Mary Ainsworth mit ihren Forschungsarbeiten gelungen war, die theoretischen Annahmen Bowlbys der empirischen Forschung zugänglich zu machen, wuchs das Interesse an der Bindungsforschung auffallend und löste weltweit wahrlich einen Boom an Forschungsaktivitäten aus. Seit Beginn der 80er Jahre ist das Thema Bindung weltweit auf renommierten Fachkongressen zentraler Bestandteil und zum Inhalt vieler Beiträge von vor allem englischsprachigen Fachzeitschriften wie z.B. 'Child Development' oder 'Journal of Personality' geworden (vgl. Spangler & Zimmermann 2002, S.9). Inzwischen haben bindungstheoretische Erklärungen und Konzepte nach und nach auch in Deutschland in der professionellen Arbeit im psychologischen und auch sozialpädagogischen Bereich an Bedeutung gewonnen.[...]

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Leseprobe

2 Die frühe Kindheit- ein vulnerabler Lebensabschnitt


 

Wie in der Einleitung erwähnt, soll sich diese Arbeit zu Beginn sowohl aus pädagogischer als auch entwicklungspsychologischer Sichtweise mit der Lebensperiode der frühen Kindheit beschäftigen. Jener Lebensabschnitt, indem ein jeder Mensch weitreichende Fortschritte in seiner Entwicklung macht, z. B. schreitet die Hirnentwicklung explosionsartig voran, soll im Fokus stehen.

 

Der hier betrachtete Lebensabschnitt umspannt den Zeitraum von der Geburt bis zum Ende des dritten Lebensjahres, also die Altersabschnitte, die in der englischen Fachliteratur auch mit „infancy“ und „toddlerhood“ bezeichnet werden. (Oerter & Montada 2008, S.149) Ein infant ist dabei ein der Sprache noch nicht mächtiges Kind (etwa die ersten zwei Lebensjahre) und ein „toddler“ ist ein Kind, dass sich erst unsicher, aber eigenständig fortbewegen kann (zweites und drittes Lebensjahr) (vgl. ebd., S.149).

 

Dieses erste inhaltliche Kapitel erfolgt, um zu verdeutlichen, warum gerade in diesem Zeitpunkt des Lebens traumatische Erfahrungen so gravierende negative Folgen nach sich ziehen können.

 

2.1 Definitorische Annäherung


 

Bevor sich dem Begriff der frühen Kindheit genähert werden soll, muss geklärt werden, was sich hinter dem Ausdruck Kindheit (Hervorh. d. V.) verbirgt. Als Kindheit wird im Allgemeinen die Lebensphase bezeichnet, die der Phase der Jugend vorangeht. Kindheit kann desweiteren in frühe Kindheit (frühkindliche Entwicklung), Kindergartenalter und Schulalter unterteilt werden. Nach dem Jugendhilferecht[1] ist Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist, danach beginnt das Jugendalter.

 

Diese erste Phase des menschlichen Lebenslaufes hat die wissenschaftliche Forschung schon immer interessiert. Wie sich Menschen am Anfang ihres Lebens entwickeln und was das für ihre Möglichkeiten im weiteren Lebenslauf bedeutet, dies beschäftigt nicht nur Erziehungswissenschaften und Sozialpädagogik sondern auch die Psychologie, Soziologie sowie die Medizin.

 

Dabei muss gleich zu Beginn festgehalten werden, dass es die universelle Kindheit nicht gibt und es sie nie gegeben hat (Herv. d. V.). Im Altertum und Mittelalter galt das Kind als kleiner Erwachsener, wie sich auch vor allen Dingen an bildlichen Darstellungen zeigen lässt (s. auch Aries 1975), auf denen das Kind die Körperproportionen eines Erwachsenen hat. Der Kindheit wurde kein eigener Status eingeräumt und Erwachsene und Kinder erledigten, soweit wie möglich, die gleichen Aufgaben und hielten sich an ähnlichen Orten auf. Dies veränderte sich jeweils maßgeblich in den verschiedenen Epochen. Hinzu kommt die kulturelle Differenzierung von Kindheit. Währenddessen sich Kindheit in von der unsrigen sehr unterscheidenden Kulturen, wie in schriftlosen Stammes- und Dorfkulturen, durch lebensnotwendige harte Mitarbeit der Kinder in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen äußert, zeigt sich beispielsweise in der japanischen Kultur eine gezielte Ausrichtung der Kindheit auf die kognitive Förderung, zum Teil schon mit vorgeburtlichen Trainingsprogrammen, welche die Intelligenz der Kinder schon im Mutterleib schulen und fördern sollen (vgl. Oerter & Montada 2008, S.225). Diese Unterschiede zwischen den Kulturen, aber auch vor allem auch der Wandel, dem die neuere europäische Kindheit unterliegt, unterstreicht der inzwischen verstorbene Neil Postmann (1994) in seiner durchaus bekannten und umstrittenen Darstellung über das Verschwinden der Kindheit. Er stellt Kindheit in seinem Buch als ein gesellschaftliches Konstrukt dar, das mit der Erfindung der Druckerpresse mit beweglichen Lettern entstand und dann die „soziale Literalität“ nah sich zog (Postman 1987, S.28). Er berichtet, dass durch das Massenmedium Fernsehen die Hochphase der Kindheit vorüber sei, ja die Kindheit sei sogar aus der Gesellschaft verschwunden. Obwohl hierbei zu kritisieren ist, dass seine Argumentation wissenschaftlich unsolide und empirisch nicht beweisbar ist, wird dennoch deutlich, dass sich auch aktuell die Kindheit jederzeit durch technische Innovationen und damit verbundene Auswirkungen verändern und wandeln kann sowie sich heutzutage z. B. schon sehr deutlich von der Straßenkindheit in Nachkriegszeiten unterscheidet.

 

Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich Kind sein also erheblich gewandelt. Kinder wachsen heutzutage in einem anderen gesellschaftlichen Kontext auf, welcher das Wesen der Kindheit erheblich modifiziert und verändert hat. Erzählen die Großeltern von ihrer Kindheit und unter welchen Bedingungen sie damals aufgewachsen und sozialisiert worden sind, so lassen sich zur modernen Kindheit erhebliche Unterschiede feststellen. Möchte man heute die veränderten Lebensbedingungen und Handlungsweisen von Kindern verstehen, so muss man sich zwingend auch mit den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen in den letzten Jahrzehnten näher auseinandersetzen.

 

Auch die deutsche Vorstellung von Kindheit als eigene Lebenswelt, die von der Welt der Erwachsenen getrennt ist, hat sich im Verlauf der Geschichte entwickelt und durchgesetzt. Dabei ist anzumerken, dass im 20. Jahrhundert die Probleme der Kindheit noch gesetzlich unter dem Aspekt der Jugend betrachtet und erst durch das KJHG aus dem Jahre 1990 beide Lebensphasen nebeneinander gestellt wurden. Inzwischen handelt es sich bei der Kindheit also um einen klar umschriebenen, von der Jugend- und Erwachsenenzeit abgetrennten Lebensabschnitt, indem das Kind gewisse Pflichten, wie z.B. die Schulpflicht, zu erfüllen hat und im Gegenzug dazu auch individuelle und spezifische Rechte[2] besitzt, aber dennoch nicht dieselbe Verantwortung wie ein Erwachsener zu tragen hat. Die Entfernung zur Erwachsenenwelt ist sehr groß, ja wird schier immer größer, so dass wenige Konflikte zwischen Erwachsenen- und Kinderrolle entstehen (vgl. Oerter & Montada 2008, S.225). Eine hoch spezialisierte Aufgabendifferenzierung zwischen Erwachsenen und Kindern erlaubt diesen höchstens im Spiel in die Rolle der Erwachsenen zu schlüpfen und lässt sie nur äußerst selten zum Erwachsenen in Konkurrenz treten.

 

Auch Erfahrungen mit Geschwistern werden in vielen europäischen Ländern aufgrund der rückläufigen demographischen Entwicklung seltener. Die Geschwistersozialisation, in Rahmen derer soziales Lernen und das spielerische Erfahren von Konflikten sowie eigener Grenzen möglich ist, wird immer mehr reduziert oder fällt ganz weg (vgl. Lukesch & Peez 2001, S.62). Auch Hilfen bei der Kinderbetreuung fallen weg, weswegen Eltern zunehmend auf Angebote öffentlicher Institutionen, wie zum Beispiel Ferienveranstaltungen öffentlicher Träger, angewiesen sind (vgl. ebd., S.63).

 

Prägend für die heutige Kindheit und ein Beweis dafür, dass Kindheit nicht universell ist und stets einem Wandel unterliegt, ist, dass früher das Spielen auf der Straße mit meist mehreren Geschwistern uneingeschränkt möglich war, heute aber viele Kinder auch aufgrund der Berufstätigkeit der Eltern einige Zeit des Tages allein ohne Geschwister in der Wohnung verbringen. Der Kindergarten und die Schule werden bei Einzelkindern zum dominanten Ort für soziale Erfahrungen, da sie ansonsten zu extra für sie eingerichtete Räume gebracht werden müssen und nur in diesen vorgefertigten, unveränderbaren Räumen spielen dürfen (vgl. ebd., S.64).

 

Trotz und auch gerade aufgrund dieser „verinselten Kindheit“, wie Helga Zeiher (1994) sie nannte, befindet sich das Kind in allen wichtigen Angelegenheiten und wesentlichen Lebensfragen in vollkommener Abhängigkeit. Jedoch erlebt jedes Kind nach wie vor seine Kindheit, die von Familie zu Familie durch höchst unterschiedliche Strukturen, Rollenerwartungen, Persönlichkeiten, Beziehungsqualitäten, Erziehungsstilen, Regeln sowie Verhaltens- und Interaktionsmuster bestimmt ist. Kinder wachsen in verschiedenen Umwelten und sozialen Milieus auf, haben andersartige Beziehungen zu Bezugspersonen und werden unterschiedlich in ihrer Entwicklung gefördert. Frühe Kindheit und Kindheit allgemein sind dabei aber trotz und eventuell auch gerade aufgrund dieser Unterschiedlichkeiten von jeher Abschnitte im menschlichen Leben, denen Aufmerksamkeit gewidmet wurde und die auch aktuell- vor allem im Rahmen des Diskurses um die frühkindliche Bildung und die elterliche Vernachlässigung- einen breiten Raum in der öffentlichen Diskussion einnehmen.

 

An dieser Stelle muss hinzugefügt werden, dass es trotz dieser beschriebenen, sehr großen Vielfalt an gelebten Kindheiten zwei wichtige gemeinsame Faktoren gibt, die alle Kinder teilen: die Bindung zu einem oder beiden Elternteilen oder anderen Bezugspersonen sowie die tiefe Verletzbarkeit dieser jungen Menschen aufgrund erlebter traumatischer Erfah-rungen.

 

Da sich die weitere Diskussion in dieser Diplomarbeit explizit auf die frühe Kindheit beschränkt, soll sich im Folgenden nur noch auf die ca. drei ersten Jahre eines jeden menschlichen Individuum und gleichzeitig auf eine der wohl kritischsten und für Störungen an-fälligsten Phase im Leben eines Menschen konzentriert werden.

 

Doch was macht diese Lebensphase denn nun zu solch einem vulnerablen Lebensabschnitt?

 

Die menschliche Entwicklung in den ersten Jahren definiert man heute in nahezu allen Bereichen medizinischer und psychologischer Forschung als einen kontinuierlichen...

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