Die in Kapitel zwei ausgearbeiteten spezifischen Merkmale des Spitzensports, seiner Organisation und der Trainer, als potentiell Geführten, sprechen für eine Notwendigkeit direkter Führung im Spitzensport. Aufgrund der besonderen Bedeutung des Beziehungsaspekts in Bezug auf Führung im Spitzensport wird nachfolgend der LMX-Ansatz thematisiert. Anschließend wird mit dem Followership-Ansatz die Perspektive auf die Führungsaufgabe im Spitzensport erweitert. Insbesondere aufgrund der Charakteristik von Trainern als Experten sowie einer geringeren Akzeptanz von Führung im Spitzensport. Diese theoretischen Perspektiven stellen die Grundlagen für die spätere Analyse dar.
Gemäß der für diese Arbeit gewählten Führungsdefinition sind Personen die Objekte direkter und indirekter Führung. Die niedrigste Ebene der Führung ist damit die Führung einer einzelnen Person. Eingebettet in einen Kontext interagieren bei der direkten Führung Führender und Geführter (vgl. Weibler 2012, S. 8ff.). Abbildung drei konkretisiert die Grundstruktur dieser Führungsbeziehung.
Abbildung 3: Grundstruktur einer Führungsbeziehung (Quelle: Weibler 2012, S. 24)
Führungserfolg steht dabei für das Resultat der Interaktionsprozesse, bezogen auf deren Intention, mit den drei Effektivitätskriterien Leistung, Kohäsion und Zufriedenheit (vgl. Weibler 2012, S. 65 und 72f.). Die prinzipiellen Zurechnungs-, Verzerrungs- und Messprobleme (vgl. Weibler 2012, S. 73) werden im Sport aufgrund der Komplexität und Widersprüchlichkeit des Konstrukts sportlicher Leistung zusätzlich verstärkt (siehe Kapitel zwei) (vgl. Soucie 1994, S. 4).
Abbildung drei zeigt soziale Interaktion als ein wesentliches Grundmerkmal einer Führungsbeziehung. Mit dem Begriff sozial wird zum Ausdruck gebracht, dass die Interaktionspartner sozial orientiert handeln und dass Handeln durch Lernprozesse sozial geformt wird (vgl. Weibler 2012, S. 38). Interaktion ist dabei als eine wechselseitige Verhaltensbeeinflussung zu verstehen (vgl. Klima 1995, S. 307). In Führungsbeziehungen ist dieser wechselseitige Einfluss zumindest zeitweise asymmetrisch zugunsten des Führenden (vgl. Weibler 2012, S. 39). Vertrauen und wahrgenommene Gerechtigkeit sind Basiskategorien sozialer Interaktionen (vgl. Weibler 2012, S. 45).
Im Rahmen dieser Arbeit werden zwei unterschiedliche Perspektiven auf Interaktion verwendet. Da der LMX-Ansatz auf der für die Führungsbeziehung angepassten struktur-funktionalistischen Rollentheorie aufbaut (Graen/Cashman 1975), basiert soziale Interaktion in diesem Kontext auf formellen und informellen Rollenerwartungen (vgl. Weibler 2012, S. 40). Rollen stellen hierbei normative Verhaltenserwartungen an Individuen dar (vgl. Spiess/Rosenstiel 2010, S. 3f.) und sind in diesem Interaktionsverständnis komplementär mit einer sozialen Position verknüpft (vgl. Weibler 2012, S. 40). Eine Position ist dabei personenunabhängig als „Ort in einem Gefüge sozialer Beziehungen“ (Mayrhofer 1995, S. 809) definiert. Die im Rahmen des Followership-Ansatzes verwendete Prozessperspektive (Uhl-Bien et al. 2014) bezieht ihr Interaktionsverständnis hingegen aus dem symbolischen Interaktionismus (Blumer 1969). Zentral ist hierbei ein durch Interaktion (Kommunikation, insbesondere Sprache) angetriebener gemeinsamer Interpretationsprozess. Somit müssen Rollen gemeinsam konstruiert (ausgehandelt) und interpretiert werden. Mittler zwischen Rolle und Person ist die Identität, welche durch Interaktion kontextspezifisch ausdifferenziert wird und selbst auf die Interaktion zurückwirkt (vgl. Fischer/Wiswede 2009, S. 484ff.).
Soziale Interaktion in einer Führungsbeziehung verlangt gemäß der Definition von Führung die Akzeptanz einer Einflussnahme, der wiederum zunächst die Wahrnehmung eines Einflussversuchs vorausgeht. Konzipiert man Führung dabei gemäß der Social Information Processing Theory (Lord/Maher 1991) als ein Wahrnehmungsphänomen, dann entsteht diese Akzeptanz als Resultat eines Zuschreibungsprozesses (vgl. Neuberger 2002, S. 562). Die subjektive Zuschreibung von Ereignissen auf sie bedingende Ursachen wird als Attribution bezeichnet (vgl. Spiess/Rosenstiel 2010, S. 30). Attributionsprozesse umfassen Urteile über die bestimmenden Faktoren eigenen Verhaltens sowie eigener Handlungsresultate, über die Ursachen von Ereignissen, oder über die bestimmenden Faktoren des Verhaltens anderer Personen (vgl. Fischer/Wiswede 2009, S. 278).
Zurückgehend auf Heider (1958) wurden in der Sozialpsychologie verschiedene Erklärungsansätze für Attributionsprozesse entwickelt (vgl. Fischer/Wiswede 2009, S. 259). Das Kovariationsmodell von Kelley (1973) bildet eine wichtige Grundlage (vertiefend vgl. Weibler 2012, S. 119ff.). Darauf aufbauend wurde durch Calder (1977) für die Zuschreibung von Führung ein Modell eines mehrstufigen Attributionsprozesses entwickelt (vertiefend vgl. Weibler 2012, S. 123ff.). Neben dem Prozess der Zuschreibung von Führung zu einer Person durch die (dann) Geführten, finden Attributionsprozesse im Kontext von Führung auch in die entgegengesetzte Richtung statt (Lakshman 2008). Diese umfassen beispielsweise die Bewertung (durch den Führenden) der Leistung von Geführten im Rahmen der Aufgabenerfüllung (Green/Mitchell 1979), inklusive ihrer Einflussvariablen und Folgen für die Führungsbeziehung (Martinko/Gardner 1987).
Soziale Interaktionsprozesse im Rahmen einer Führungsbeziehung werden auch durch das Umfeld einer Führungsbeziehung beeinflusst (siehe Abbildung drei). Diese spezifische Führungssituation ist dabei eingebettet in einen allgemeinen Führungskontext. Der Spitzensport und seine Organisation in einem Verband sind im Rahmen dieser Arbeit sekundäre und primäre Führungssituationsfaktoren. Sie werden als Konstrukt und nicht als exakte Größe berücksichtigt (vgl. Weibler 2012, S. 57).
Entsprechend der dargelegten Grundstruktur einer Führungsbeziehung sind ferner Führende und Geführte wesentliche Grundelemente von Führungsbeziehungen (siehe Abbildung drei). Führender und Geführter bezeichnen in diesem für die Arbeit wichtigen Verständnis zunächst bestimmte Kategorien (zum Begriff vgl. Fischer/Wiswede 2009, S. 189). Spitzensportpersonal und Trainer sind im Kontext dieser Arbeit daher zunächst ebenfalls als Kategorien zu verstehen. Als Personen haben sie eine bestimmte Stelle (zum Begriff vgl. Bea/Göbel 2010, S. 264) in einem Verband inne.
Kategorien sind als kognitive Vereinfachungsmechanismen zu verstehen, um aufgrund der begrenzten Informationsverarbeitungskapazität des Menschen Stimuli und Erfahrungen zu enkodieren. Schemata, Skripte, Einstellungen, Stereotype und Prototypen sind Teilmengen von Kategorien (vgl. Fischer/Wiswede 2009, S. 190f.). Kategorien sind dabei in hierarchischen Netzwerken organisiert (vgl. Rosch 1978). Eine Anpassung von Kategorien und Kategorisierungen im Zeitverlauf ist möglich (vgl. Gilbert et al. 1988) und wird mithilfe der Aussagen der Adaptive Resonance Theory erklärt (vgl. Grossberg 1999). Das Entwickeln von Kategorien in Sozialisations- und Lernprozessen (vgl. Fischer/Wiswede 2009, S. 189) bedeutet also auch, dass Führende und Geführte als Persönlichkeiten prototypische Vorstellungen darüber entwickeln, welche Verhaltensweisen und Persönlichkeitseigenschaften notwendig sind, um eine beobachtete Person in die Kategorie Führender oder Geführter einzuordnen (vgl. Weibler 2012, S. 25). Ein Beobachter (der Adressat des Einflussversuchs) definiert also mittels kognitiven Prozessen, ob der Sender des Einflussversuchs in die Kategorie Führender einzuordnen ist (vgl. Weibler 2012, S. 20f.). Dies setzt beim Beobachter ein Kriterienbündel über notwendige typische Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen für eine solche Einordnung als Führender voraus. Ein solches Kriterienbündel kann als implizite Persönlichkeitstheorie bezeichnet werden (vgl. Fischer/Wiswede 2009, S. 247).
Führende und Geführte entwickeln also implizite Theorien (Schneider 1973), zu verstehen als persönliche Annahmen darüber, welche Verhaltensweisen und Eigenschaften Führende bzw. Geführte charakterisieren und nutzen dafür Kategorien (vgl. Lord et al. 1984). Bspw. entwickelt demnach ein Führender (Leader[2]) mithilfe automatisch ablaufender Kategorisierungen eine implizite Followership Theorie (LIFT) im Sinne von individuellen und persönlichen Annahmen über die Eigenschaften und Verhaltensweisen, die einen Geführten (Follower) charakterisieren (vgl. Sy 2010, S. 73f.). Kognitive Strukturen eines Führenden, welche die Eigenschaften und Fähigkeiten spezifizieren, die einen Führenden kennzeichnen, bilden dann also die implizite Leadership Theorie des Führenden (LILT). Da eine implizite Theorie als Konstruktion im Denken eines Menschen entsteht, erzeugt sie eine subjektive Realität und Wahrnehmung (vgl. Epitropaki et al. 2013, S....