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E-Book

Funkstille

Wenn Menschen den Kontakt abbrechen

AutorTina Soliman
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl196 Seiten
ISBN9783608100730
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Nahe Verwandte oder Partner brechen plötzlich, ohne Vorwarnung, jeglichen Kontakt ab, sie reagieren nicht und sind unerreichbar. Was den Zurückgelassenen bleibt, ist nur die nicht enden wollende Hilf- und Ratlosigkeit und die quälende Frage nach dem Warum. Der Sohn von Lisa-Maria W. lebt und ist gesund. Doch für sie ist er nur noch ein Phantom. Das älteste ihrer drei Kinder will keinen Kontakt mehr zu ihr. Es gab keinen Abschied, keine erklärenden Worte - und bis heute kein Wiedersehen ... Kann das Band zwischen zwei Menschen so brutal gekappt werden? Was geht in Menschen vor, die sich plötzlich abwenden? Wie gehen die Angehörigen mit ihrem Schmerz und ihren Fragen um? Und vor allem: Gibt es Möglichkeiten, solche abrupten Kontaktabbrüche zu verhindern? Mit viel Einfühlungsvermögen spürt Tina Soliman die Hintergründe auf, vor denen sich das Phänomen der Funkstille abspielt. Sie begleitet Verlassene auf der Suche nach Antworten und spricht auch mit den Menschen, die wortlos gegangen sind.

Tina Soliman ist Journalistin, Autorin und Regisseurin. Sie volontierte bei der »FAZ«. Seit den 90er-Jahren hat sie preisgekrönte TV-Dokumentationen für die ARD und das ZDF realisiert. Tina Soliman erhielt u.a. den »6. Marler Fernsehpreis für Menschenrechte« von Amnesty International, den »Katholischen Medienpreis der Deutschen Bischofskonferenz«,  die Silbermedaille bei den New York Festivals sowie zahlreiche Nominierungen, u.a. beim 54.  FESTIVAL DE TELEVISION DE MONTE-CARLO. Ihre Dokumentationen werden weltweit ausgestrahlt. Sie arbeitet als regelmäßige Autorin für die ZDF-Sendereihe »37 Grad«, »Die Story im Ersten« (ARD) und für das Politikmagazin »Panorama« (ARD).Wenn Sie Fragen an Tina Soliman haben: tinasoliman@yahoo.de

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Leseprobe

Erstes Kapitel

Die Verlassenen

»Dieses Schweigen ist wie eine offene Wunde«

Mit der Sichtweise der Verlassenen verknüpfen sich Gefühle, die so ambivalent sind, dass man sich wundern muss, wenn Zurückgebliebene darüber nicht verrückt werden. Derjenige, der den Kontakt abbricht, der Abbrecher, fehlt. Sein Fehlen ist wie die scharf umrissene Leere auf einer Fotografie, aus der jemand eine Gestalt mit einem präzisen Scherenschnitt herausgelöst hat, und nun ist die fehlende Gestalt wichtiger, beherrschender als alles andere. Er ist gerade durch seine Abwesenheit ständig präsent.

17 Jahre ist es her, dass Claudia den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen hat. Es war ein totaler Bruch mit dem bis dahin gelebten Leben. Ute vermisst die große Schwester Claudia sehr: »Claudia brach ganz plötzlich den Kontakt zur gesamten Familie ab, zu meinen Kindern, zu unserer Mutter, Tante, Freunden, ihrem Ex-Mann. Sie war plötzlich weg. Man muss dabei wissen, dass Claudia ein Teil meiner Familie war und gerade zu ihrer Nichte, zu Annika, meiner Tochter, ein sehr enges Verhältnis hatte. Annika ging mit ihren Problemen zu Claudia, nicht zu mir. Meine Schwester war ein vollwertiges Mitglied unserer Familie«, betont Ute im Gespräch mit mir, und gerade weil sie dies so vehement unterstreicht, überlege ich, ob es wirklich so war. Dennoch, die Schwestern hatten ein enges Verhältnis zueinander, fuhren gemeinsam in den Urlaub, feierten zusammen; die Kinder – Claudias Tochter und Utes Kinder – spielten miteinander. Claudias Tochter starb neunjährig an Krebs. Danach wurde der Kontakt zwischen den Schwestern noch enger, meint Ute. Zu eng?, frage ich mich unwillkürlich. Nähe macht verletzlich.

Ute lebt heute mit Tochter Annika (22) in einer freundlichen Dachwohnung in Hamburg. Die Möbel sind weiß, Fotos hängen an der Wand, auch Claudia ist darauf zu erkennen. Die Wände sind bemalt. Ute und Annika haben die Einrichtung bei Ikea erstanden, weil beide dort arbeiten. Die Zimmer wirken neu eingerichtet, und sie sind es auch. Mutter und Tochter wohnen erst seit einem Jahr zusammen. Utes Söhne Tobi (25) und Benni (19) wohnen in der Nähe. Ihr Mann, mit dem sie eine große Gärtnerei betrieb, hat sich vor Kurzem von Ute getrennt, nach 30 gemeinsamen Jahren. »Natürlich ist das auch ein Grund, warum mir Claudia jetzt besonders fehlt. Ich hätte sie gebraucht, aber so wiederholt sich nur ein drittes Mal in meinem Leben eine Geschichte des Verlassen-Werdens«, erzählt Ute mir.

Sie geht in die Küche und setzt einen Kaffee auf, kommt zurück, und es ist offensichtlich, dass sie geweint hat. Die Trennung von ihrem Mann ist frisch, sie tut noch weh, aber das allein ist es nicht. Sein Verlassen der Familie ruft bei Ute geradezu traumatische Erinnerungen wach. Die Trennung hat einen wunden Punkt getroffen, unverarbeitete Verletzungen aus Utes Vergangenheit reaktiviert. »Warum kann man vergangene Verletzungen nicht einfach abschütteln?«, fragt Ute mich.

Die Frage bleibt im Raum stehen.

Die 55-Jährige wirkt plötzlich hilflos wie ein kleines Kind, und das nicht zum ersten Mal. Sie kann es weder ertragen noch akzeptieren, dass sie ihre Schwester für immer verloren haben soll. Auch Annika, die eine besonders enge Beziehung zu ihrer Tante hatte, ist wütend: »Jemanden anzuschweigen ist im Zwischenmenschlichen die größte Strafe überhaupt, einfach nicht zu sagen, was los ist und abzuhauen. Dieses Schweigen ist wie eine offene Wunde, die immer klafft und die sich nicht schließen kann, weil es den Faden zum Zunähen nicht gibt, weil es die Antwort auf das ›Wieso bist du gegangen?‹ nicht gibt. Es ist einfach wahnsinnig feige, ist purer Egoismus. Der Abbrecher ist ja offenbar unfähig, sich reif und vernünftig mit seinem Gegenüber auseinanderzusetzen. Von einem erwachsenen Menschen sollte man aber erwarten, dass er Verantwortung für sein Handeln übernimmt, sagt: ›So sehe ich das, tut mir leid, aber ich kann nicht anders, weil …‹«.

Im Laufe unserer vielen Gespräche werde ich mehr als einmal erstaunt sein, wie klar, überlegt, fast schon weise die 22-Jährige die Situation einer Funkstille erfasst, eher intuitiv, nicht forschend, aber klar und kompromisslos. Annika ist es auch, die immer wieder ihre Mutter an die Hand nimmt und ihr vorsichtig rät, das Verhalten der Schwester endlich zu akzeptieren oder sie zu suchen, um endlich eine Antwort auf die Frage nach dem »Warum« zu bekommen. Ihre Mutter könne dann endlich einen Schlussstrich ziehen oder aber den Faden wieder aufnehmen, hofft die Tochter.

Ute wirkt abwesend, doch sie hat ihrer Tochter gut zugehört, und langsam wächst in ihr ein Plan. Annika ist fest davon überzeugt, dass nur jemand selbstbestimmt lebt, der es versteht, sich zur Sprache zu bringen. Ute ihrerseits ist nicht wütend, sondern einfach nur traurig. Sie fühlt sich schwach, empfindet ihre Schwester eher als hart, unnachgiebig und, ja, manchmal auch als böse. »Sie muss doch wissen, dass sie mich verletzt.« Ist Claudia einfach nur egoistisch, wie Annika vermutet? Der Schweizer Psychoanalytiker und Psychotherapeut Udo Rauchfleisch meint dazu: »Solch ein Kontaktabbruch hat schon etwas sehr Egoistisches! Darunter liegt aber vor allem extreme Unsicherheit, sich nicht artikulieren zu können, sich nicht zu trauen, oder aber die Situation, dass jemand denkt: Jetzt habe ich das x-mal angedeutet. Jetzt reicht’s, jetzt geh’ ich, weil die andere Person zu wenig sensibel ist. Ich würde das nicht einfach unter Egoismus subsumieren.«

Ute sucht seit 17 Jahren nach dem Grund für den Kontaktabbruch der Schwester. Natürlich, denke ich, wir wollen offenbar wissen, aus welchem Grund die Dinge in unserem Leben geschehen.

»Man lebt damit wie mit einem abgeschlagenen Bein«

Die 72-jährige Lisa-Maria W. wirkt gefasst. Ich treffe die gutaussehende ältere Dame, ihre 42-jährige Tochter Christine und die 18-jährige Enkelin Anna das erste Mal in einem Café in Kiel. In unserem Gespräch geht es um Michael (46), den ältesten Sohn von Lisa-Maria W., der vor rund zwei Jahrzehnten den Kontakt zu ihr abgebrochen hat. Mit seinen Geschwistern – es gibt außer der Schwester noch einen älteren Bruder, Christian (44) – und den Nichten und Neffen hält Michael Kontakt, wenn man das so nennen kann. »Ja, wir haben Kontakt zu ihm, aber es kann auch passieren, dass wir verabredet sind und er nicht kommt, ohne abzusagen, dass er mitten im Gespräch aufsteht und geht. Und wenn wir vorsichtig versuchen, ihn auf unsere Mutter anzusprechen, droht er uns mit Kontaktabbruch. Also halte ich mich zurück. Ich habe einfach Mitleid mit ihm, will nicht, dass er dann gar niemanden mehr hat«, beschreibt Christine das Verhältnis zu ihrem Bruder.

Ihre Tochter Anna führt den Gedanken weiter: »So kann doch kein Mensch glücklich sein, ob er das jetzt mit Absicht macht oder nicht, das sei dahingestellt. Das glaube ich auch nicht, aber ich glaube auch nicht, dass er glücklich ist und wenn, wird er auch nicht mehr lange glücklich sein mit der Art, die er an den Tag legt.«

Lisa-Maria W. hört zu, scheint gelernt zu haben, mit dem fehlenden Kontakt zu ihrem ältesten Sohn zu leben. Schließlich nimmt sie das Gespräch auf. Natürlich überlebe man das. »Man lebt damit, wie mit einem Geschwür oder einem abgeschlagenen Bein«, schildert sie das Lebensgefühl ohne ihren Sohn. Sie erzählt von dem Bruch, dem Schweigen, der Ablehnung und der Zeit der Versuche, ihrem Sohn wieder näherzukommen. Immer wieder habe sie den Kontakt gesucht, habe Briefe geschrieben, einige abgeschickt, einige für sich behalten. An den Geburtstagen habe sie angerufen und Geschenke geschickt. Keine Reaktion. Irgendwann schrieb sie keine Briefe mehr, rief nicht mehr an, schwieg: »Es muss eine wechselseitige Kommunikation sein. Es hat keinen Zweck, wenn der Eine immer nur klopft und der andere nicht hinhört. Das geht nicht mehr. Über diesen Punkt des Hinterherkriechens bin ich weg. Ich lass’ ihn jetzt in Ruhe.«

Warum bricht ein Sohn den Kontakt zur Mutter ab? Warum haben die anderen Kinder ein inniges, gar herzliches Verhältnis zu ihrer Mutter? »Wenn sie eine schlechte Mutter gewesen wäre, dann doch auch für uns«, meint Tochter Christine. Hinzu kommt, dass Lisa-Maria W. immer wieder Pflegekinder aufnahm, und das sogar bis heute. Die Geschwister erinnern sich im Gegensatz zu Michael an eine behütete und liebevolle Kindheit. Ahnt die Mutter wirklich nicht, warum ihr Sohn partout keinen Kontakt zu ihr haben will? Nach einigen weiteren Besuchen, die im Haus von Lisa-Maria W. in der Nähe von Kiel stattfanden, erklärte sie mir ziemlich überraschend: »Ich weiß, dass ich Michael selten gestreichelt habe. Das ist mir vor zehn Jahren erst aufgefallen, als ich Enkel kriegte. Da merkte ich, irgendetwas habe ich bei dem ja gar nicht gemacht.« Dann bricht es aus ihr heraus: »Also, wissen Sie was? Ich gebe mir alle Schuld der Welt. Ich bin aber nicht so vermessen zu sagen, das stört mich nicht. Doch, es stört mich. Doch, das tut es – meine Seele hat oft geweint.«

Auch wenn der Experte die Mutter nicht von ihrer Mitverantwortung freisprechen möchte, warnt er davor, die Mütter für sämtliche Fehlentwicklungen der zwischenmenschlichen Kommunikation in der Familie verantwortlich zu machen: »Es heißt immer, die Mutter ist schuld, interessanterweise wird nicht auf den Vater verwiesen, der ja auch zur Erziehung beiträgt. Der Vater hat nämlich einen erheblichen Einfluss, gerade wenn es um Gewalt geht. In Populärtheorien ist es immer die Mutter, von der man sich fragt: Hat sie das Kind zu stark gebunden, hat sie es vernachlässigt? Natürlich sind das Theorien, die von Männern formuliert wurden. Die Kinder haben bestimmte...

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