Die 1993 veröffentlichte Repräsentativumfrage des Soziologen M. Bochow über Einstellungen und Werthaltungen zu homosexuellen Männern in Deutschland hatte zum Ergebnis, dass die Bevölkerung ungefähr in drei Einstellungsgruppen aufzuteilen ist: „Ein Drittel ist antihomosexuell eingestellt, ein weiteres Drittel äußert sich ambivalent und ein anderes Drittel kann als wertneutral oder wertschätzend bezeichnet werden (Bochow, 1993). An dieser Stelle ist zu fragen, welche konkreten Auswirkungen solche antihomosexuellen oder ambivalenten Einstellungen im Alltag haben. Nach Wiesendanger haben schwule Männer ein hohes Risiko, Opfer physischer und psychischer Gewalt zu werden. Für ihn gehört dazu, dass Schwule in vielen Filmen, der belletristischen Literatur oder der Presse ignoriert oder in einem zwielichtigen Zusammenhang dargestellt werden. Im beruflichen Alltag zählt er Entlassungen, Mobbing oder Übergangenwerden bei Beförderungen sowie unter Jugendlichen das Beschimpfen oder Belachen auf den Pausenplätzen zu den konkreten Diskriminierungen. Auch müssten Pädagogen mit Anfeindungen rechnen, wenn den Eltern ihre sexuelle Orientierung bekannt wird. Wiesendanger erinnert daran, dass während des Nationalsozialismus ca. 50.000 Schwule und Lesben ermordet wurden (Wiesendanger, 2001, S. 29 ff.). Von Interesse ist die Frage, wann diese Diskriminierungen historisch entstanden sind.
Dem Mittelalter von etwa 500 bis 1500 kann man gemäß Hergemöller (Prof. für mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg) keine „einheitliche Terminologie des gleichgeschlechtlichen Handelns und Verhaltens“ unterstellen, weil „sich erst im 12. Jahrhundert eine lebendige Reflexion der Rechts-, Natur- und Sexualproblematik zu entwickeln beginnt“ (Hergemöller, 2000, S. 17). Gleichwohl wurde schon im 1. Jahrhundert n. Chr. in dem Römerbrief des Paulus „eine Demarkationslinie zwischen Erlaubtem und Verbotenen, zwischen Gut und Böse, zwischen Tugend und Schande gezogen“. In dieser Zweiteilung galt auf Fortpflanzung ausgerichtete Sexualität als ‚naturgemäß’, während die ihr zuwiderlaufende als ‚widernatürlich’ bezeichnet wurde (ebd., S. 18). Diese Paulus-Schrift ist aber im Kontext der damaligen Grundannahmen der Zeit zu verstehen. Die sozialen Rollen, auch die der Frauen, waren von einem Prinzip der Unterordnung gekennzeichnet. Paulus bezog seine Ansichten zur Homosexualität auf Päderastie und männliche Prostitution. Die Vorstellung einer „homosexuellen Natur“ kannte er nicht, er verdammte homosexuelle Praktiken, die durch Heterosexuelle ausgeübt werden (Davis, K.C., 1998, S. 476). Im Mittelalter verstand man unter ‚widernatürlich’ zwischenmännliche Sexualkontakte, Oral- und Analverkehr zwischen Eheleuten sowie Sexualkontakte mit Tieren. Der mittelalterliche Begriff der ‚Ketzerei`, der für Glaubenszweifel oder Irrlehre stand, wurde zunehmend auf Analverkehr und auf homosexuelle Akte jeder Art übertragen. Seit dem 13. Jahrhundert wurde auch der Begriff der „stummen Sünde“ von Theologen für gleichgeschlechtlichen Sexualverkehr verwendet, damit brauchte man das „Verwerfliche“ nicht zu verbalisieren (Hergemöller, 2000, S. 19). Die seinerzeit auch verwendete Bezeichnung ‚Sodomita’ wurzelt im Alten Testament auf der Erzählung Genesis 19. Demnach wurden die Bewohner der Stadt Sodom, die Sodomiter, durch Gott mit Feuer und Schwefel vernichtet, u. a. weil sie mit männlichen Gästen sexuell verkehrten. Dies provozierte Gott dermaßen, dass er Rache übte und Kollektivstrafen wie Kriege, Wasser, Feuer, und Erdbeben auch gegen Unschuldige veranlasste (ebd., S. 19 f.). Nach Hergemöller bestand im späten Mittelalter „zumindest in großen Städten, das Bewusstsein von der Existenz kleinerer oder größerer Sodomitergruppen“ (ebd., S. 22). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass man bei der Suche nach Wurzeln homosexueller Diskriminierung an einer Diskussion über die Rolle der Kirche nicht umhin kommt.
1789 war es laut Hekma (Historiker, Dozent im Bereich ‚Homostudien’ an der Universität Amsterdam) die Französische Revolution, „die jenem Zeitalter ein Ende bereitete, das Sodomie in weiten Teilen Europas als Kapitalverbrechen bestrafte“ (Hekma, 2000, S. 43). Durch die Trennung von Kirche und Staat wurden auch Öffentlichkeit und Privatsphäre voneinander getrennt. Der Staat war fortan mehr für den öffentlichen Bereich verantwortlich, der Bürger für den privaten. Die Revolution versprach Freiheit, Gleichzeit und Brüderlichkeit. Zunächst waren damit aber in erster Linie (heterosexuelle) Männer gemeint, diese konnten sich besser von der Kontrolle durch Staat, Kirche und Familie lösen. Die Aufklärung eröffnete neue Möglichkeiten, der Zweck der Sexualität blieb aber zunächst weiterhin die Fortpflanzung, weniger das Vergnügen. Frauen wurde ein lustvolles Wesen aberkannt, eine negative Grundhaltung zur Sodomie wurde bewahrt, auch Onanie wurde verurteilt (ebd., S. 45 ff.). Die Aufklärung „neigte zur Rationalität und nicht zu Hamanns Sinnlichkeit, sie verfolgte eher eine männliche als weibliche Perspektive und eine Ökonomie der Knappheit statt des Überflusses“ (ebd., S. 46; Hamann war ein Vertreter der Gegenaufklärung, ebd. S. 44 ff.).
Im 19. Jahrhundert bildeten sich in Deutschland zwei geistige Lager der Homosexualitätskonstruktion heraus. Eines, welches männerliebende Männer als „Urninge“ oder „drittes Geschlecht“ bezeichnete, auf der anderen Seite das der „konträren Sexualempfindung“.
Das Lager des dritten Geschlechts vertrat die Auffassung, dass der „Urning“ eine weibliche Seele habe, die in einem männlichen Körper eingeschlossen sei. Hauptvertreter dieser Darstellung waren der Jurist und Publizist Karl Heinrich Ulrichs (1825 - 1895) und der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868 – 1935). Hirschfeld vertrat u. a. die Auffassung, dass bei Menschen viele ‚sexuelle Zwischenstufen’ existieren (Hergemöller, 2000, S. 24 ff.). Obwohl die von Ullrichs und Hirschfeld vertretenen Thesen heute als überholt gelten und nicht mehr vertreten werden, sind beide als wichtigste Personen des Beginns der Homosexuellenbewegung zu verstehen (Sigusch, 2000, S. 76 ff.).
Auf der anderen Seite der Theoriebildung stehen besonders der Nervenarzt Dr. Carl Westphal (1833 -1890) und der Professor für Psychiatrie Richard von Krafft-Ebing (1840 -1902). Krafft-Ebing lehnte die Theorie eines dritten Geschlechts ab und hielt an negativ besetzten Begriffen wie „Abweichung“, „Perversion“ und „Entartung“ fest. Die Theorie zur „konträren Sexualempfindung“ basierte auf der Annahme einer Zweiteilung zwischen „angeborener“ und „erworbener“ Konträrsexualität. Die angeborene verlangte nach psychiatrischer, die erworbene nach strafrechtlicher Behandlung (Hergemöller, 2000, S. 24 ff.).
In dieser Theorie galt Homosexualität gemäß Hergemöller als „angeborene, im Gehirn lokalisierte, ärztlich zu behandelnde Entwicklungsstörung“ (ebd., S. 32). Der dazu gehörende Personenkreis wurde in dieser Theorie als krankhafte Gruppe definiert, die oft auch äußerlich erkennbar sei (S. 32 f.). Für Krafft-Ebing war die ‚perverse’ Empfindung gegenüber dem eigenen Geschlecht entscheidend und nicht der Akt (S. 32).
„Das pathologische Modell der ’konträren Sexualempfindung’ wiederum hatte nachhaltige Auswirkungen auf die künftige Psychiatrie und Psychoanalyse von Sigmund Freud bis Hans Bürger-Prinz, die trotz aller Unterschiede prinzipiell an der Dichotomie zischen ’Normalität’ und ’Abweichung’ beziehungsweise ’Inversion’ festhielten“ (Hergemöller, 2000, S. 33). Für Freud verlangte Sexualität nach Erklärungen, wenn sie nicht zum heterosexuellen Sexualobjekt und dem „normalen“ Sexualziel Koitus strebte. Abweichungen vom „normalen“ Sexualziel verstand Freud vorrangig als Perversionen; Abweichungen in Bezug auf das Sexualobjekt wurden eher als Variationen gedacht (Köhler, 2000, Kap. 4.2.). Direkt zur Homosexualität äußerte Freud sich in dem „Brief an eine amerikanische Mutter“, deren Sohn homosexuell war:
„Homosexualität ist gewiss kein Vorzug, aber es ist nicht etwas, dessen man sich schämen muss, kein Laster, keine Erniedrigung und kann nicht als Krankheit bezeichnet werden (...) Viele hochachtbare Personen in alten und neuern Zeiten sind Homosexuelle gewesen, unter ihnen viele der größten Männer (Plato, Michelangelo, Leonardo da Vinci et cetera). Es ist eine große Ungerechtigkeit, Homosexualität als ein Verbrechen zu verfolgen, und auch eine Grausamkeit“
(Siegmund Freud, 1935, zit. nach Wiesendanger, 2001, S. 49).
4.3. Zur Einschätzung von Homosexualität in Psychiatrie und Psychoanalyse
Nach Wiesendanger blieb Krafft-Ebings Perversionsthese „über Jahrzehnte Grundlage für das ’Verständnis’ der Homosexualität in der Psychiatrie und bewirkte (…) menschenverachtendes Denken und teilweise grausamstes Handeln gegenüber Lesben und Schwulen“ (Wiesendanger, 2001, S. 48). Gehirnoperationen, Zwangskastrationen und -sterilisationen fanden ihren Höhepunkt während der NS-Zeit, wurden aber auch schon länger vorher und noch Jahre danach praktiziert (ebd., S. 48). Auch Schulen der Freudschen Psychoanalyse pathologisierten Homosexualität. Wiesendanger nennt hier zum einen C.G. Jung (dem Kritiker eine Kollaboration mit dem NS-Staat und in der Zeit danach eine NS-Verklärung vorwerfen, vgl. Gebhard, 1997), für...