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E-Book

Future Sex

Wie wir heute lieben. Ein Selbstversuch

AutorEmily Witt
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl250 Seiten
ISBN9783518751381
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR

Emily Witts Prognose für die weibliche Sexualität lautet: selbstbewusst, frei und unerschrocken. Mit einem wachen Blick, großer Begeisterungsfähigkeit und einer außergewöhnlichen Beobachtungsgabe erforscht die New Yorker Journalistin die neuen Formen weiblicher Sexualität, von Tinder über Feminist Porn bis hin zur Orgasmic Meditation.
Emily Witt ist Mitte dreißig, Single und lebt in Brooklyn. Die ideale Voraussetzung für ein bewegtes Liebes- und Sexleben. Könnte man meinen. Doch eigentlich hat auch Witt trotz all der schillernden Angebote ein ganz bestimmtes Ziel im Visier: Ehemann, Kinder und ein Eigenheim. Um die Möglichkeitswelt jenseits der tradierten Ideale zu erkunden, entschließt sich die Journalistin zu einer Reise nach San Francisco, der Hochburg der freien Liebe und der digitalen wie libidinösen Zukunft. Sie durchstreift die Sphären des Internetdatings, feiert auf einer Hochzeit von Polyamoristen, spricht mit der Königin eines feministischen Kinky-Porn-Unternehmens, sie sondiert und überschreitet ihre eigenen Grenzen bei dem legendären Exzessfestival »Burning Man« und begibt sich ins Zentrum der »Orgasmic Meditation«. Am Ende ihrer Reise steht eine überraschende Erkenntnis.



<p>Emily Witt ist Mitte dreißig, Journalistin und Schriftstellerin und lebt in New York. Sie studierte u. a. an der Columbia University und in Cambridge. Witt schreibt für n+1, The New Yorker, The New York Times, GQ und The London Review of Books. <em>Future Sex</em> ist ihr erstes Buch.</p>

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Leseprobe

ERWARTUNGEN


Ich war Single, hetero und weiblich. Als ich 2011 dreißig wurde, stellte ich mir immer noch vor, mein Sexleben würde irgendwann eine Endstation erreichen wie die Monorail-Bahn in Disney World das Epcot Center. Ich würde aussteigen, einem anderen Menschen gegenüberstehen, und wir würden in unserer neuen Dauersituation verbleiben: in der Zukunft.

Ich war kein Single aus Überzeugung, aber Liebe ist selten und meistens unerwidert. Ohne Liebe sah ich keinen Grund, mich langfristig an einen bestimmten Ort zu binden. Liebe legte fest, wie Menschen sich im Raum arrangierten. Weil sie Personen dauerhafte Vereinbarungen bescherte, nahm meine Umgebung sie als absolutes, messianisches Endzeitereignis wahr. Meine Freunde wussten mit religiöser Bestimmtheit, dass auch für mich die Liebe kommen würde, als wäre das Universum sie jedem Einzelnen von uns schuldig und als gäbe es vor ihr kein Entrinnen.

Ich hatte durchaus meine Erfahrungen mit der Liebe gemacht, aber deshalb wusste ich auch, dass ich weder die Macht besaß, sie zu entfachen, noch die, sie auf Dauer zu erhalten. Trotzdem beharrte ich auf meiner Vorstellung der Zukunft, die ich als Standardprogramm meiner Sexualität sah, als Schicksal, nicht als Wahlmöglichkeit. Auch wenn meine tatsächlichen Erfahrungen eher stürmisch verliefen, trug ich wie ein unantastbares Juwel das kristallklare Bild eines Zielorts im Kopf. Allerdings wusste ich, dass nicht jeder an diesem Ziel ankam, und als ich älter wurde, machte ich mir Sorgen, dass auch ich es nicht tun würde.

Ein, zwei Jahre vergingen mit einem Freund, dann wieder ein, zwei ohne. Zwischendurch schlief ich manchmal mit Bekannten. Im Laufe der Zeit hatten auch viele andere aus meinem Freundeskreis miteinander geschlafen. Affären fingen so schnell an, wie sie wieder aufhörten, oder sie implodierten unter Tränen oder vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit, verliefen im Großen und Ganzen aber friedlich. Wir waren Seelen in der Schwebe, die sich wie vertrocknete Blätter im Wind aneinanderhäuften und nach Endzeittrompeten und Hochzeitsglocken lauschten.

Die Sprache, mit der wir diese Beziehungen beschrieben, diente nicht der eindeutigen Definition. Sie zeichneten sich dadurch aus, dass wir in einer Beziehung waren und doch allein blieben, aber niemand wusste so recht, wie diese Art der Verbindung zu bezeichnen war. »Rummachen« hörte sich an, als fehlte unseren Begegnungen jegliche Feierlichkeit und Würde. »Einen Liebhaber haben« war altmodisch, und außerdem waren wir einfach mit denen befreundet, mit denen wir schliefen, wenn auch nicht »nur befreundet«. Meistens nannten wir es schlicht »Dating«, worunter vom One-Night-Stand bis zur mehrjährigen Beziehung alles fallen konnte. Wer datete, war Single, wenn er oder sie nicht gerade jemanden datete. Auch »Single« hatte jede Präzision verloren: Es konnte »unverheiratet« heißen wie auf der Steuererklärung, aber auch Unverheiratete waren manchmal nicht Single, sondern »in einer Beziehung«; für diese vorübergehende Verpflichtung hatten wir kein Wort parat. Freund, Freundin oder Partner bedeutete Verbindlichkeit und Zielgerichtetheit und traf deshalb nur in bestimmten Fällen zu. Ein Bekannter von mir sprach von seiner »Nicht-Ex«, mit der er ein Jahr lang eine »Nichtbeziehung« geführt hatte.

Unsere Beziehungen hatten sich verändert, aber nicht unsere Bezeichnungen dafür. Wir sprachen darüber, als wäre alles wie früher, merkten aber, dass die Worte nicht passten. Viele von uns sehnten sich nach einem Arrangement, das wir benennen konnten, als wäre es dann automatisch nicht nur vertrauter, sondern auch besser. Manche von uns versuchten es mit Neologismen, aber die meisten vermieden sie. Wir waren zufällig und ungeplant in dieser Situation gelandet. Keiner aus meinem Bekanntenkreis sprach von einem »bewussten Lebensstil«. Niemand bezeichnete das Singledasein in New York mit sporadischen Sexbeziehungen als »sexuelle Identität«. Ich stellte mir meine Lage als Zwischenzustand vor, der enden würde, wenn die Liebe eintraf.

 

 

Im Jahr meines dreißigsten Geburtstags endete eine Beziehung. Ich war todtraurig, aber meine Traurigkeit langweilte alle, mich eingeschlossen. Da ich so eine Niedergeschlagenheit schon mal durchgemacht hatte, ging ich davon aus, ich könnte sie bald wieder abschütteln. Ich hatte Internetdates, verspürte aber kaum sexuelles Verlangen nach Fremden. Stattdessen traf ich auf einer Party oder in der U-Bahn Freunde, Männer an die ich schon mal gedacht hatte. Im Herbst und Winter schlief ich mit drei Typen und küsste noch ein, zwei andere. Die Zahlen erschienen mir maßvoll und vernünftig. Ich hatte die Männer alle schon eine Weile gekannt.

In unmittelbarer Nähe zu anderen Menschen war ich glücklicher, aber manchmal brachte so ein Nichtfreund ein düsteres Echo mit sich, das in meinem Handy weiterlebte. Eine Sehnsucht ohne jegliche Hoffnung auf Erfüllung, ohne Sehnsuchtsobjekt. Ich starrte blinkende Auslassungspunkte auf Bildschirmen an. Ich unterzog Social-Media-Fotos forensischen Analysen. Ich gab mich unbeschwert durch Ausrufezeichen, ausgeschriebene Lacher und Emoticons. Ich zögerte meine Antworten künstlich hinaus. Ich gab mich beschäftigt und hatte deine Nachricht wirklich gerade erst gesehen, ehrlich! Es nervte mich, dass mein Handy mich seinen Klischees unterwarf. Mein Ziel waren Gelassenheit und gute Laune. Ich ging auf alle Weihnachtspartys.

Die Illusion, ich sei mit meinen Umständen zufrieden, hielt vom Herbst bis ins neue Jahr. Als im März die knöcherigen Bäume tauten, rief mich ein Mann an und riet mir, mich auf eine Geschlechtskrankheit testen zu lassen. Wir hatten gut einen Monat vorher miteinander geschlafen, ein paar Tage vor dem Valentinstag. Ich war in einer Bar in der Nähe seiner Wohnung gewesen. Ich hatte ihn angerufen, und er war vorbeigekommen. Durch leere Straßen waren wir zu ihm gegangen. Ich war nicht über Nacht geblieben und hatte seitdem nicht mehr mit ihm gesprochen.

Er habe gemerkt, dass etwas nicht so ganz stimme, und sich testen lassen, erklärte er. Die Laborergebnisse seien noch nicht da, aber der Arzt vermute Chlamydien. Zu der Zeit, als wir miteinander geschlafen hatten, hatte er etwas mit einer anderen Frau, die an der Westküste wohnte. Er sei am Valentinstag zu ihr geflogen, und sie sei stinkwütend auf ihn. Sie werfe ihm vor, sie betrogen zu haben, und er fühle sich wie ein Drecksack, der mit einer Geschlechtskrankheit gestraft worden sei. Er habe Joan Didions Essay »Über Selbstachtung« gelesen. Ich lachte – das war ihr schlechtester Essay –, aber er meinte es ernst. Ich sagte das Einzige, was mir einfiel: Er sei kein schlechter Mensch, wir beide seien keine schlechten Menschen. Die eine Nacht sei endlich und unkompliziert gewesen. Wir sollten ihr nicht solche Aufmerksamkeit schenken. Als wir aufgelegt hatten, legte ich mich aufs Sofa und starrte die weißen Wände meiner Wohnung an. Ich musste bald umziehen.

Ich dachte, mit dem Anruf hätte sich die Sache erledigt, aber dann bekam ich eine vorwurfsvolle E-Mail von einer Freundin der anderen Frau. »Ich bin wirklich überrascht von dir«, stand dort. »Du wusstest, dass er ein paar Tage später verabredet war, hast dich davon aber nicht stören lassen.« Das stimmte. Es hatte mich nicht gestört. Dass er »etwas mit einer anderen hatte«, hatte ich als Garant dafür genommen, dass unser Treffen begrenzt war, nicht als moralische Prüfung. »Ich würde dir raten, mal im ungeschönten, erwachsenen Tageslicht darüber nachzudenken, was du getan hast«, schrieb mein Gegenüber und hielt mich weiterhin dazu an, »nicht mehr den theatralischen Kick zu suchen« und »schonungslos die wirklichen, menschlichen Konsequenzen meiner Handlungen in der Realität zu überdenken.«

Am nächsten Tag saß ich im vollgestopften Wartezimmer eines öffentlichen Gesundheitszentrums in Brooklyn und lauschte einer Ärztin, die ihrem unfreiwilligen, verschlafenen Publikum einen Vortrag hielt, wie man richtig ein Kondom überzieht. Wir warteten darauf, dass unsere Nummer aufgerufen wurde. In diesem ungeschönten, erwachsenen Tageslicht dachte ich darüber nach, was ich getan hatte. Das Nähebedürfnis eines Singles ist nicht zu unterschätzen. Um mich herum saßen meine unvollkommenen Mit-New-Yorker, die wohl zum großen Teil auch hier waren, weil sie gegen Regeln des gesunden Menschenverstandes verstoßen hatten. Aber ich ging davon aus, dass die meisten von ihnen zumindest wussten, wie man ein Kondom benutzt.

Die Ärztin reagierte gelassen auf gelegentliches Gejohle aus der Runde. Die Frage einer jungen Frau, ob sich ein Femidom auch »im Arsch« anwenden lasse, verneinte sie freundlich. Während wir nach ihrem Vortrag weiter warteten, liefen auf Bildschirmen an der Wand Gesundheitsaufklärungsvideos in Endlosschleife. Sie stammten aus den Neunzigern und dramatisierten den ungeregelten Lebenswandel von Leuten wie mir, bloß dass diese alle vorsintflutliche Jeans trugen, was das Ganze nicht besser machte. Sie legten die Stirn in Falten, als sie Diagnosen akzeptierten, Affären eingestanden und mit riesigen Schnurlostelefonen Beichtanrufe tätigten. Männer schleppten einander in Fernsehstudiobars ab, während ein, zwei Komparsen sich im Hintergrund über Whiskygläsern unterhielten und Pseudo-Partymusik dudelte wie in einem Porno, in dem es nie zum Sex kam. Später sinnierten sie in Reality-TV-Beichtinterviews über ihre Erlebnisse. Von unseren Stühlen aus, die alle in dieselbe Richtung zeigten, wohnten wir den geschilderten Konsequenzen bei, während wir auf unsere Abstriche und Blutabnahmen warteten. (Einer der Männer aus...

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