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Gab es 1968?

Eine Spurensuche

AutorArmin Nassehi
Verlagkursbuch.edition
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl232 Seiten
ISBN9783961960095
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Keine neue Nacherzählung, sondern eine Frage, nämlich die, ob es '1968' gegeben hat, ist Gegenstand dieses Essays. Natürlich hat es das Jahr 1968 gegeben. So wie auch die damit verknüpfte Studentenbewegung stattgefunden hat. Aber war '1968' wirklich der Umschlagpunkt, der eine verkrustete, unbewegliche Welt in eine offene Zukunft geführt hat? Jedenfalls ist der Mythos '1968' ein Erzählanlass, dem auf den Grund gegangen werden muss. Denn was für individuelle Biografien gilt - dass sie sich eingängiger erzählen lassen anhand eines kritischen, alles ändernden Ereignisses -, gilt auch für die Nacherzählung von gesellschaftlichen Entwicklungen: Wenn es einen Kairos gibt, den entscheidenden Moment, durch den das chronologische Nacheinander beeinflussbar ist, lässt sich - im Nachhinein - alles erklären. Da aber auch solche vermeintlichen Plötzlichkeiten nicht einfach vom Himmel fallen, sind auch sie erklärungsbedürftig. Zu klären ist, welche gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen und Veränderungen '1968' möglich gemacht haben. Ob '1968' Ursache oder Effekt von Veränderungen war. Und was davon geblieben ist.

Armin Nassehi, geboren 1960 in Tübingen, ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er hat Philosophie, Soziologie, Erziehungswissenschaften und Psychologie studiert und arbeitet heute auf den Gebieten der Politischen Soziologie, der Kultur-, der Organisations-, der Wissens- und der Religionssoziologie. Nassehi hat zahlreiche Bücher und Aufsätze verfasst und mischt sich auch aktiv in öffentliche Debatten ein. Neben seiner akademischen Tätigkeit ist er zugleich als Berater und Redner in Unternehmen und Verbänden unterwegs. Seit Herbst 2011 ist er neuer Herausgeber des Kursbuches. Alle Informationen zum Kursbuch unter kursbuch-online.de.

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Leseprobe

Eine linke Bewegung?

»Mit der Revolution geht alles, gegen die Revolution geht nichts.«

Fidel Castro, 1961

»Die Kochkunst ist keine revolutionäre Kunst.«

Hans Magnus Enzensberger, 1968

Was für eine Frage! Wenn etwas mit 1968 verbunden werden kann, dann doch wohl, dass es eine linke Bewegung war. Die Charakterisierung von 1968 als eine explizit linke Bewegung beziehungsweise als ein explizit linkes Phänomen dürfte besonders bei denen, die sich von 1968 abwenden oder eine Abwendung vorschlagen, wohl besonders unstrittig sein. Von dem, was damit gemeint ist, eine linke Bewegung zu sein, hängt vieles ab, auch wenn in sowohl kritischer wie affirmativer Haltung zu 1968 ein scheinbarer Konsens über das »Linke« an 1968 zu bestehen scheint. Deswegen ist die Frage dieser Einschätzung von besonderem Interesse.

Meine Hypothese ist die, dass es eine explizite und eine implizite Seite des »Linken« an 1968 gibt. Die eine Seite, die explizite, werde ich im Folgenden mit einer Analyse zweier Dokumente des vielleicht prominentesten deutschsprachigen Sprechers der 68er-Ereignisse analysieren, nämlich von Rudi Dutschke. Die andere, die implizite Seite, wird mein inklusionstheoretisches Argument wieder aufnehmen und weiterführen. Mir geht es darum, zu verstehen, inwiefern der Generationszusammenhang von »1968« womöglich auch diejenigen mit linken Formen identifiziert, manche würden sagen: kontaminiert, die das explizit ausschließen würden, die sich also niemals als »links« beschreiben würden.

Das explizit Linke

Rudi Dutschke war sicher das intellektuelle Gesicht der unmittelbaren kurzen Bewegung, zugleich jemand, der mit seiner revolutionären Ästhetik, der Strenge der Erscheinung und der Unbedingtheit seines Auftritts eine große Faszination ausübte. Er war ganz sicher nicht repräsentativ für die Bewegung, aber die Art des Redens und seine Stoßrichtung sind exemplarisch für deren linken Sound. Ich meine, dass in Rudi Dutschke erheblich mehr zum Ausdruck kommt als die zeittypische Form der linken, provokativen Rede. Er repräsentiert die Grundparadoxie des Linken überhaupt und das, was ich das »Sympathieparadox« der Linken nennen möchte.

Die beiden Dokumente sind das bereits erwähnte TV-Interview mit Günter Gaus, das am 3. Dezember 1967 im ersten Fernsehprogramm ausgestrahlt wurde, sowie das denkwürdige Gesprächsprotokoll einer Diskussion, die der Kursbuch-Begründer Hans Magnus Enzensberger mit Protagonisten der damaligen Studentenproteste geführt hat. Das Gespräch ist 1968 im Kursbuch 14 publiziert worden.58

In dem sehr intensiven, von Gaus durchaus offensiv geführten TV-Gespräch – zweifellos eines der bekanntesten Dokumente von und über den Studentensprecher –, hat Dutschke die Möglichkeit, seinen Standpunkt deutlich zu formulieren. Man muss bedenken: Das Gespräch fand noch vor der Etablierung des linken Sounds der Reflexionszirkel der 1970er-Jahre statt, Dutschke trifft also auf eine in dieser Hinsicht noch weitgehend ungeübte Öffentlichkeit. Auf die Frage von Gaus zum parlamentarischen System sagt Dutschke: »Ich halte das bestehende parlamentarische System für unbrauchbar. Das heißt, wir haben in unserem Parlament keine Repräsentanten, die die Interessen unserer Bevölkerung – die wirklichen Interessen unserer Bevölkerung – ausdrücken.« 59 Die »wirklichen« Interessen ist Dutschke durchaus zu definieren in der Lage: Wiedervereinigung, Arbeitsplatzsicherheit, Staatsfinanzen, ökonomische Ordnung – also Fragen, um die es in der demokratischen politischen Auseinandersetzung stets auch geht. Dann aber kommt ein entscheidender Satz: »Nun gibt es aber eine totale Trennung zwischen dem Repräsentanten im Parlament und dem in Unmündigkeit gehaltenen Volk.« 60

Der Sound dieses Satzes könnte nicht aktueller sein, denn ganz ähnlich sprechen auch die inzwischen parlamentarisch gewordenen Vertreter der Neuen Rechten – was zunächst einmal lediglich als eine Tatsache genommen sei, ohne voreilige Schlüsse daraus ziehen zu wollen. Dutschke macht jedenfalls deutlich, dass es ihm vor allem darum zu tun ist, die eigentlichen, die wirklichen Bedürfnisse der Menschen nicht nur auszuformulieren, sondern auch zu repräsentieren. Dabei muss er den Argumentationsschritt hinkriegen, die wahren Bedürfnisse der Menschen zu kennzeichnen, obwohl sie selbst offensichtlich noch nicht in der Lage sind, diese zu erkennen. Deshalb führt er hier einen »Prozeß der Bewußtwerdung der an der Bewegung Beteiligten« ein, in dem »die bewußtseinsmäßigen Voraussetzungen geschaffen [werden, AN], die es verunmöglichen, daß die Eliten uns manipulieren. Daß es eine neue Klasse gibt.« 61 Auf die unmittelbare Nachfrage von Gaus, ob Dutschke den Menschen für »absolut bildungsfähig« hält, repliziert dieser, der Mensch habe seine Geschichte zwar stets selbst gemacht, aber nicht bewusst: »Und jetzt muß er sie endlich bewußt machen – unter Kontrolle nehmen.« 62

Man liest schnell darüber hinweg, aber genau darum geht es, die Geschichte (und damit auch die geschichtlichen Subjekte) unter Kontrolle zu nehmen. Auf die Frage, wie denn der Idealmensch geführt werden könne, sagt Dutschke: »Er führt sich – und dieses Problem der Selbstorganisation ist nicht, daß ich jetzt wieder Fremde für mich entscheiden lasse. Wenn ich sage, die Menschen haben ihre Geschichte schon immer gemacht, aber noch nicht bewußt gemacht, dann soll das bedeuten, wenn sie sie bewußt machen, dann stellt sich das Problem der verselbständigten Apparate nicht mehr.« 63

In schriftlicher Form verlieren die Sätze von Rudi Dutschke viel von ihrer Kraft. Das Fernsehbild zeigt einen jungen Mann von unglaublicher suggestiver Kraft, der auch unter der sehr kritischen Befragung von Günter Gaus den Eindruck von Unbedingtheit vermittelt. Die Kameraführung tut ein Übriges. Die TV-Interviewserie Zu Protokoll, die 1963 unter dem Titel Zur Person zunächst im ZDF begann, ist eigentlich durch eine eher ruhige Kameraführung bekannt. Im Falle Dutschkes hat die Bildregie den dramatischen Sound des Gesprächs durch häufige Einstellungswechsel und Nahaufnahmen verstärkt und jemanden präsentiert, dessen Radikalität darin liegt, dass er dasteht und nicht anders kann.

Ich verwende diese Formulierung nicht von ungefähr, denn es ist eine Luther’sche Unbedingtheit, wie Helmut Plessner sie in seiner großartigen Studie Die Grenzen der Gemeinschaft schon 1924 über die spezifisch deutsche Form des sozialen Radikalismus auf den Begriff gebracht hat. Plessner identifiziert bei den Deutschen einen Hang zur Unbedingtheit und sagt: »Der Deutsche ist stolz darauf, in seinen besten Männern das Gewissen der Welt zu sein.« 64 Das ist keine Völkerpsychologie, sondern eine kultursoziologische Analyse des Deutschen, damals geschrieben gegen die Blut-und-Boden-geschwängerte Jugendbewegung, aber auch gegen die radikale Linke.

Den Radikalismus der Deutschen macht Plessner vor allem am Luther’schen Protestantismus fest, der Staats- und Kulturreligion des eigentümlich bürgerlichen Radikalismus der Deutschen. »Protestantismus ist die Religion der Konzessionslosigkeit, weil der Mensch unmittelbar zu Gott ist, und damit ein Bruch mit der Wirklichkeit. Protestantische Menschen, die eine Berufung zur Wirklichkeit kennen und nicht auf Gottes Werk verzichten, haben nur zwei Möglichkeiten: den tragizistischen Dualismus ewiger Unvereinbarkeit zwischen den Forderungen der sündigen Realität und den Geboten Gottes, das Ethos Luthers, des Deutschen, oder das gleichsam alttestamentarische System der Eintracht zwischen weltlichem Erfolg auf Gottes Erde und Erwähltheit durch Gottes Gnade, das Ethos Calvins.« 65 Zur Sprache kommt hier nicht der real existierende Protestant, sondern der Sozial- und Kulturtypus, der sich in Gestalt des Lutherischen als das Deutsche schlechthin darstellt. Max Weber nicht unähnlich heißt es bei Plessner: »Dem Katholiken nimmt die Synthesis der Gegensätze die Kirche ab, dem Calvinisten Gottes Gnadenwahl, dem Lutheraner aber ist sie nicht abgenommen, sie wuchtet mit unermeßlicher Schwere auf seinem Gemüt, er selbst, der Mensch, soll Schauplatz des Kampfes und durch Versöhnung aller Gegensätze in Gott sein.« 66

Dutschke präsentiert sich konzessionslos, aber keineswegs konfessionslos. Von Gaus angesprochen auf seine Schülervergangenheit in der evangelischen Jungen Gemeinde in der DDR, auf den Einfluss des christlichen Sozialismus auf sein Denken und auf seine couragierte Wehrdienstverweigerung in der DDR, betont Dutschke, in Südamerika würde er mit der Waffe in der Hand kämpfen, aber nicht in der Bundesrepublik. Für den Fall aber, dass sich die Bundeswehr etwa am Vietnamkrieg beteiligen würde, versichert er, »daß wir dann im eigenen Land kämpfen werden«.67 Das ist nicht einfach dahingesagt, sondern zeugt tatsächlich davon, wie sich in diesem Revolutionär »der Schauplatz des Kampfes aller Gegensätze« wiederfindet. Manche Formulierungen geraten ins Eschatologische: »Warum sollen wir vor dieser geschichtlichen Möglichkeit haltmachen«, ruft Dutschke fragend aus.68

Aber wie bekommt man diesen Prozess »unter Kontrolle«? Das ist die Frage des Revolutionärs, und seine Antwort war die nach der entsprechenden Bewusstseinsbildung, danach,...

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