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Gab es eine Alternative? / Vor dem Grossen Terror - Stalins Neo-NÖP

Band 3

AutorWadim S Rogowin
VerlagMEHRING Verlag
Erscheinungsjahr2000
Seitenanzahl475 Seiten
ISBN9783886347742
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Der stalinsche Terror Ende der dreißiger Jahre übersteigt, wie auch der Holocaust, in seinen Ausmaßen und Gräueln das menschliche Vorstellungsvermögen. Wadim Rogowin gelingt es mit diesem Buch, die gesellschaftlichen Veränderungen in der Sowjetunion der Jahre 1934-1936 aufzudecken, die den großen Terror möglich und für die herrschende Bürokratie notwendig machten. Er widerlegt all diejenigen, die das anscheinend Unerklärliche der stalinschen Verbrechen nutzten, um sie als notwendiges Ergebnis der sozialistischen Ideen zu bezeichnen. Nach dem sechsjährigen Bürgerkrieg gegen die Bauernschaft, der Zwangskollektivierung, begann die Bürokratie durch die Wiedereinführung marktwirtschaftlicher Mechanismen, der so genannten stalinschen Neo-NÖP (Neue Ökonomische Politik), privilegierte Schichten zu schaffen, die eine neue soziale Stütze in der Gesellschaft werden sollten. Wadim Rogowin beschreibt im Einzelnen, wie die soziale Polarisierung zunahm und die 'Welt der Privilegien' die Unterdrückung jeder Kritik und Opposition verlangte. Gestützt auf bisher unzugängliche Dokumente und Augenzeugenberichte zeigt Rogowin, dass die große Säuberung eine Reaktion auf ein starkes Anwachsen der oppositionellen Kräfte in den Jahren 1934-1936 darstellte, denn mit einem präventiven Bürgerkrieg sollte die Herrschaft der stalinschen Bürokratie gesichert werden. Mit diesem Buch liefert Rogowin den Schlüssel zu einem Verständnis der Moskauer Prozesse.

Wadim S. Rogowin war Doktor der Philosophie und Professor am Soziologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Anlass zu bisweilen heftigen Kontroversen boten in der Sowjetunion seine umfangreichen Veröffentlichungen zu Problemen der Sozialpolitik, zur Entwicklungsgeschichte des gesellschaftlichen Bewusstseins und zur Geschichte politischer Bewegungen in der UdSSR. Der Linken Opposition gegen den Stalinismus galt von jeher sein besonderes Interesse. Die Öffnung zuvor geheimer Archive infolge der Auflösung der Sowjetunion ermöglichte ihm die Vervollständigung seiner Forschungen durch eine Fülle neuer Erkenntnisse.

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Leseprobe

1. KAPITEL:
Die Liberalisierung der Wirtschaft in der UdSSR


Die größten ökonomischen Schwierigkeiten für das Land infolge der Zwangskollektivierung und der forcierten Industrialisierung entfielen auf das Jahr 1933. Die »Überspitzungen« im Wirtschaftsleben wurden beseitigt, indem man von zu ehrgeizigen Plänen und einem unzumutbaren Tempo bei der Entwicklung der Industrie Abstand nahm. Das letzte Parteiforum, das derartige Aufgaben gestellt und einen neuen großen Sprung in der Wirtschaft vorgesehen hatte, war die siebzehnte Parteikonferenz der KPdSU (B) (Januar – Februar 1932). In den Beschlüssen hieß es, der zweite Fünfjahrplan werde zu einer Periode der vollständigen und endgültigen Beseitigung der Klassenunterschiede in der UdSSR. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass das Problem einer klassenlosen Gesellschaft wie auch die Frage des vollständigen und endgültigen Sieges des Sozialismus in den nachfolgenden Jahrzehnten Gegenstand unzähliger »Korrekturen« und »Präzisierungen« wurde. Obwohl Stalin 1936 den vollständigen Sieg des Sozialismus in der UdSSR verkündete, konnte er sich nicht zu der Erklärung entschließen, dass im Lande eine klassenlose Gesellschaft entstanden sei. Die letzte »Eröffnung« in dieser Hinsicht erfolgte 1981 auf dem 26. Parteitag, als die These aufgestellt wurde, man könne die klassenlose Gesellschaft im »historischen Rahmen des Sozialismus« errichten, d.h. in einem unbestimmten historischen Zeitraum.

Die siebzehnte Parteikonferenz verabschiedete die Direktiven zur Aufstellung des zweiten Fünfjahrplans (1933–1937), die vorsahen, in dieser Zeitspanne die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder bei den wichtigsten ökonomischen Kennziffern einzuholen. Diese Orientierung wurde durch Kontrollziffern bekräftigt, laut denen es »absolut erforderlich« war, 1937 die Erzeugung von Elektroenergie auf mindestens 100 Milliarden Kilowattstunden zu erhöhen, die Kohleförderung auf mindestens 250 Millionen Tonnen, die Gusseisenproduktion auf mindestens 22 Millionen Tonnen und die Getreideerzeugung auf mindestens 130 Millionen Tonnen. Die Erdölgewinnung sollte im Vergleich zu den für 1932 angenommenen Werten innerhalb des vorgegebenen Zeitraums auf das Zweieinhalb- bis Dreifache und die Maschinenbauproduktion auf das Drei- bis Dreieinhalbfache gesteigert werden.[[1]]

Ebenso gewaltige Aufgaben stellte man auch hinsichtlich des Volkswohlstands. Die Versorgung mit den grundlegenden Konsumgütern, u.a. mit Nahrungsmitteln, sollte innerhalb von fünf Jahren auf mindestens das Zwei- oder Dreifache steigen.[[2]]

Dass dieser »große Sprung« unrealistisch war, zeigte sich schon 1932, als deutlich wurde, dass die Erzeugung von Elektroenergie lediglich 13,5 Milliarden Kilowattstunden betrug (gegenüber 22 Milliarden, wie der erste Fünfjahrplan vorgesehen hatte), die Kohleförderung 64,4 Millionen Tonnen (gegenüber 75 Millionen) und die Gusseisenproduktion 6,2 Millionen Tonnen (gegenüber 10 Millionen Tonnen). Noch beunruhigender waren die Ergebnisse des Jahres 1933, in dem der Zuwachs an Industrieproduktion lediglich 5,5% betrug (gegenüber 16,5%, wie es der Jahresplan vorgesehen hatte, und 25,2% nach der optimalen Variante des ersten Fünfjahrplans). Unter Berücksichtigung der Fehleinschätzung bei den Planaufgaben im ersten Jahrfünft verkündete Stalin auf dem ZK-Plenum im Januar 1933 die Abkehr von der Politik eines »maximal beschleunigten Entwicklungstempos« und erklärte, es sei nicht erforderlich, »das Land weiterhin anzupeitschen und anzutreiben«. Dementsprechend schlug er für das zweite Planjahrfünft eine jährliche Zunahme der Industrieproduktion um 13–14% »als Minimum« vor.[[3]]

Die Hauptaufgaben des zweiten Fünfjahrplans wurden auf dem zwei Jahre nach der siebzehnten Parteikonferenz stattfindenden siebzehnten Parteitag der KPdSU (B) beschlossen. Die Parteitagsbeschlüsse bestätigten die Richtlinie der Konferenz, wonach die politische Hauptaufgabe des zweiten Fünfjahrplans in der »endgültigen Beseitigung« nicht nur der kapitalistischen Elemente, sondern auch der Klassen generell sowie in der »Überwindung der Überreste des Kapitalismus in der Wirtschaft und im Bewusstsein der Menschen« bestand.[[4]] Dennoch wurden parallel dazu die Kontrollziffern des Fünfjahrplans im Vergleich zu den Direktiven der siebzehnten Parteikonferenz beträchtlich gesenkt. So war zum Ende des Fünfjahrplans die Erzeugung von 38 Milliarden Kilowattstunden Elektroenergie vorgesehen, die Produktion von 16 Millionen Tonnen Gusseisen, von 46,8 Millionen Tonnen Erdöl und Gas, 17 Millionen Tonnen Stahl und 105 Millionen Tonnen Getreide. Der durchschnittliche Jahreszuwachs der Industrieproduktion sollte in den Jahren 1933 bis 1937 16,5% betragen.[[5]]

Eine wichtige Besonderheit des zweiten Fünfjahrplans war die Orientierung auf die vorrangige Entwicklung der Industriezweige aus der Gruppe »B« (Konsumgüterproduktion) im Vergleich zu den Zweigen aus der Gruppe »A« (Produktionsmittelerzeugung). Entsprechend dieser Orientierung wurden in den Plan hohe Kennziffern bei der Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung aufgenommen: die Verdoppelung bei der Erzeugung landwirtschaftlicher Güter, die Erhöhung des Konsums auf das Zwei- bis Dreifache, die Senkung der Einzelverkaufspreise um 35% und die Verdoppelung der Reallöhne bei den Arbeitern und Angestellten.[[6]]

Wenngleich die Aufgaben des zweiten Fünfjahrplans, besonders im Hinblick auf das Wachstum des Wohlstands der Bevölkerung, auch nicht erfüllt wurden, so gab es doch größere Erfolge als im ersten Fünfjahrplan. Es zeigte sich, dass die »verspätete Modernisierung« der Wirtschaft erfolgreicher vonstatten ging, wenn es keine unaufhörliche Beschleunigung des Entwicklungstempos (bzw. kein, wie es Stalin zynisch nannte, »Antreiben des Landes«) gab.

Plakat (1934) »Wer – wen? … Einholen und überholen«

Die Arbeitsproduktivität stieg im Zeitraum 1933–1937 auf das Doppelte gegenüber 41% im ersten Fünfjahrplan. Die Industrialisierung begann Wirkung zu zeigen. 4-500 Großbetriebe nahmen ihre Tätigkeit auf. Die Bruttoindustrieproduktion stieg auf das 2,2-Fache (gegenüber dem Zweifachen im ersten Fünfjahrplan), obwohl die Anzahl der Arbeiter und Angestellten im ersten Fünfjahrplan viermal so schnell wie im zweiten zugenommen hatte.

Durch die Erfolge bei der Entwicklung der Industrie brauchte nun kein Getreide mehr exportiert zu werden, um vom Erlös Maschinen und Ausrüstungen zu kaufen. Die Sowjetunion stellte den Import von Traktoren und anderen landwirtschaftlichen Maschinen ein, für die man im vorangegangenen Fünfjahrplan 1,15 Milliarden Rubel ausgegeben hatte. Auch Baumwolle wurde nicht mehr importiert, für die im ersten Fünfjahrplan etwa der gleiche Betrag bezahlt worden war. Die Kosten für den Import von Schwarzmetall sanken von 1,4 Milliarden Rubel im ersten Fünfjahrplan auf 88 Millionen im zweiten. Der Import von Werkzeugmaschinen für den Maschinenbau reduzierte sich im Gesamtumfang des Werkzeugmaschinenbedarfs von 66% im Jahre 1928 auf 14% im Jahre 1935. Insgesamt verringerte sich die Einfuhr von Maschinen 1934/35 auf ein Zehntel im Vergleich zu 1931. Durch die Einstellung des Imports von Traktoren und Autos und die beträchtliche Reduzierung des Imports von Industrieausrüstungen sowie Bunt- und Schwarzmetallen konnte die Auslandsverschuldung von 6,300 Millionen Rubel im Jahre 1931 auf 400 Millionen Rubel im Jahre 1936 gesenkt werden. Während 1931/32 der Export weit über dem Import lag, hatte die UdSSR 1934 eine aktive Handelsbilanz und ab 1935 auch eine aktive Zahlungsbilanz. Dazu trug auch der schnelle Aufschwung bei der Goldgewinnung im Land bei. 1936 stand dieser Zweig an erster Stelle in der Welt. Aufgrund der angesammelten Gold- und Devisenressourcen konnte die Sowjetunion nunmehr im wesentlichen die nötigen Waren gegen Bargeld kaufen und Abstand nehmen von Krediten ausländischer Firmen, die zu stark überhöhten Zahlungen für die Importe geführt hatten.

All dies zeugte davon, dass das Land seine wirtschaftliche Selbstständigkeit erlangt hatte. Die stalinsche Führung war jedoch nicht in der Lage, aus dieser günstigen Situation Nutzen zu ziehen. Sie profitierte nicht von den Vorteilen der internationalen Arbeitsteilung, sondern ging bei der Entwicklung der Industrie zu autarken Methoden über. Das Export- und Importvolumen sank von 4,5 Milliarden Rubel im Jahre 1930 auf 1,4 Milliarden im Jahre 1936. Der Anteil der Importgüter am Gesamtverbrauch des Landes betrug 1936 weniger als 1%.

Die Jahre des zweiten Fünfjahrplans brachten große Erfolge bei der Stärkung der Verteidigungskraft des Landes. Während 1931/32 die Flugzeugindustrie 860 Flugzeuge pro Jahr herstellte, betrug in den Jahren 1935–1937 die mittlere Jahresproduktion 3.578 Flugzeuge. Die durchschnittliche Zahl bei Panzern stieg im gleichen Zeitraum von 740 auf 3.139, bei Artilleriewaffen von 1.911 auf 5.020 und bei Gewehren von 174.000 auf 397.000.

Beträchtliche Fortschritte vollzogen sich bei der Mechanisierung der Landwirtschaft, hauptsächlich im Getreideanbau. In den Jahren 1933–1937 wurden mehr als 500.000 Traktoren, 123.500 Mähdrescher und 142.000 LKW für das Dorf hergestellt. Außer in die Landtechnik investierte die Sowjetunion jedoch in die sonstige Entwicklung der Landwirtschaft fast überhaupt nicht. Neuerungen wie die richtige Saatfolge, die Selektion von...

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