Die besondere, präsenzerzeugende Rezeptionsqualität und Situation von Virtual Reality lässt sich auch als Perspektivenverschiebung zwischen Computerspielen, die aus der ersten Person dargestellt werden – First-Person Games wie Ego-Shooter oder First-Person Adventures – und der Oculus Rift VR-Brille, als ein erster Prototyp kommerzieller Head-Mounted Displays für ein Massenpublikum, verdeutlichen. Dabei wird ersichtlich, dass theoretische Betrachtungen zur Rezeptionsperspektive in First-Person Games bereits Eigenschaften beanspruchen, die im direkten Vergleich zur VR-Perspektive jedoch neu diskutiert werden müssen.
Stephan Günzel (2012) schreibt der Bild-Perspektive aus der ersten Person mehrere Besonderheiten zu. Die primäre Bildansicht des Ego-Shooters könne als subjektiv und realistisch bezeichnet werden. Die Perspektive des Interaktionsbildes aus der ersten Person ist demnach eine originäre, da sie phänomenologisch nicht aus einer anderen abgeleitet werden kann. Daher spricht Stephan Günzel dem Ego-Shooter als Interaktionsbild die Eigenschaft der Ipseität bzw. Selbstheit als originäres Strukturmerkmal der ersten Person zu, in welcher der Spieler sein Ego/Ich an Stelle der Spielfigur wahrnimmt (vgl. Günzel, 2012: 178). Allerdings setzen First-Person Games stets den Blickmittelpunkt mit einem Interaktionsfokus (siehe Abb. 1)[14] oder dem Zielkreuz einer Schusswaffe gleich (siehe Abb. 2)[15].
Abbildung 1: First-Person Perspektive des Adventure Games Gone Home (The Fullbright Company, 2014).
Abbildung 2: Typische Ego-Shooter Perspektive mit der Gleichsetzung des Blickmittelpunkts mit dem Trefferpunkt. Screenshot aus Advanced Warfare (Sledgehammer Games, 2014).
Günzel bleibt daher in seiner Beschreibung der Ego-Perspektive sehr allgemein und nicht trennscharf genug, wenn er die subjektive Perspektive im Computerspiel als Simulationsbild zur Verortung des Ichs und seinen Handlungen in einer virtuellen Umgebung, vor dem Hintergrund der phänomenologischen Philosophie von Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty, einer annähernden Übereinstimmung zur real-subjektiven Perspektive des Spielers gleichsetzt (vgl. Günzel, 2012: 185). Im Vergleich zu einer subjektiven Perspektive mittels VR-Brille erscheint diese Behauptung unspezifisch und greift zu kurz. Jedoch liefert Günzel einen zentralen Punkt zum Vergleich von Ego- und VR-Perspektive, indem er auf den Diskurs zur Differenzierung des Konzepts der Immersion in der Computerspielforschung bezüglich der Grenzverwischung der Bildpräsentation verweist. So lässt sich nach Günzel (2012: 73) das Computerspiel von VR in Relation zum Bild unterscheiden in (a) der materiellen Eigenschaft und (b) einem psychischen Zustand:
„Immersion auf der Ebene des Bildträgers liegt etwa in begehbaren Bildsimulationen wie einer CAVE (Cave Automatic Virtual Environment) oder in der Verwendung von Datenbrillen (Head Mounted Display) vor. In beiden Fällen kann der Rahmen als Grenze zwischen Bild und Wirklichkeit nicht mehr selbst gesehen werden“ (Günzel, 2012: 73).
Günzel zitiert indessen den Bildtheoretiker Lambert Wiesing, der in diesem Sinne die voll-immersive Eigenschaft der VR-Perspektive beschreibt:
„Der Besucher eines Cyberspace kann zwar noch wissen, aber nicht mehr wahrnehmen, dass er sich in einer virtuellen Realität befindet. Die Immersion wird im Fall dieser Technologie vollkommen; die Wahrnehmung einer bildlichen Darstellung hat sich ununterscheidbar an die Wahrnehmung der realen Welt angeglichen“ (Wiesing, 2005: 108).
Der grundlegende Unterschied zwischen der Ego-Perspektive von Computerspielen und einer VR-Perspektive besteht damit im Vorhandensein der Bildgrenze: „Spieler können zwar nahe an den Monitor heranrücken oder die Zimmerbeleuchtung ausschalten, aber die Bildbegrenzung lässt sich dadurch allenfalls zurückdrängen, nie aber gänzlich aufheben, wie es etwa bei einem Panoramabild der Fall ist“ (Günzel, 2012: 73). Beim Spielverlauf eines Ego-Shooters handele es sich daher quasi um „erspielte Bilder“ (Bausch & Jörissen, 2005: 347). In der Bildinteraktion (Bild-an-Bild-Reihung) kann so für den Spieler der Eindruck entstehen, er vollziehe eine Bewegung durch die Räume, aber „streng genommen [erfolgt] eine Bewegung des Raumes im Bildrahmen“ (Günzel, 2010: 99).
Dieser Bildrahmen wird also durch Virtual Reality aufgelöst, was Stefan Günzel aber als reine Subjektikonologie auch für den Ego-Shooter annimmt: „Rein ist diese deshalb, weil erst im Computerspiel die Perspektive der ersten Person permanent eingenommen wird“ (Günzel, 2010: 100). Es ist wichtig, zu beachten, dass Günzel sich in seiner bildtheoretischen Differenzierung ausschließlich auf Ego-Shooter bezieht. In der Totalität seiner Annahmen wäre der Bezug auf VR-Games jedoch zutreffender. Denn die Perspektive eines Ego-Shooter als dehumanisierte Sichtweise (vgl. Günzel, 2010: 100), die zwar im Raum beweglich aber in Relation zum Körper des Spielers fixiert als „through-the-gunsight-perspective“ (Jenkins & Squire, 2002: 65), wird von VR abgelöst.
Zudem muss beachtet werden, dass die subjektive Perspektive in Computerspielen stets eine Figurenperspektive beinhaltet, also „[…] eine durch die Wahrnehmung einer diegetischen Figur geleitete Ansicht“ (Beil, 2012: 181) ist und nicht die subjektive Perspektive des Spielers darstellt. In diesem Sinne bedeutet das Verschwinden der Bildgrenze, hin zu einer potenziell totalen Subjektivierung der Spiel-Perspektive mit einer VR-Brille, auch eine Hinwendung der Aufmerksamkeit des Spielers zu den auf den eigenen Körper bezogenen, psycho-physiologisch schematisierten Selbstwahrnehmung (Körperschema). Diese körperlichen Aspekte bezieht Benjamin Beil (2012) in eine zeitgenössisch differenziertere Spezifizierung der subjektiven Perspektive in First-Person Spielen mit ein, indem er diese als Avatar-Bilder beschreibt.
Die First-Person Perspektive in konventionellen Computerspielen beinhaltet also immer die Positionierung des Bildes aus Sicht eines Avatar-Körpers. Im Falle von VR wird dieser Avatar-Körper prinzipiell durch die räumlich schematisierte Eigenwahrnehmung des Spielers ersetzt. Ute Enderlein beschreibt diese Übertragung der Körperbewegung in VR im Detail wie folgt:
„Die erste wesentliche Bewegung, die die virtuelle Umgebung tatsächlich als eine Umgebung erfahrbar macht, ist die Drehung des Kopfes (bzw. die Drehung des ganzen Körpers, damit sich der Nutzer umschauen kann). Die Positionen des Kopfes werden über spezielle Trackingverfahren aufgezeichnet und gelten dem Rechner als Eingabebefehle, das visuelle Image entsprechend zu verändern. Die tatsächliche Eigenbewegung des Nutzers (bzw. seines Kopfes) führt also zu jener Wahrnehmung, die er auch aus nichttechnisierten Wahrnehmungspraxen kennt: Das Sichtfeld verändert sich kontinuierlich und in der Bewegung wird eine Rundumsicht möglich. […] Auf dieser Ebene der Navigation dienen also die quasi natürlichen (nicht auf die Technik hin entwickelten) Körperbewegungen dazu, dem Rechner Befehle zu erteilen und die entsprechenden, als realistisch anzusehenden Wahrnehmungen zu ermöglichen“ (Enderlein, 2002: 167).
Das ist vor allem dann relevant, wenn der Spieler eine subjektive Kamera-Perspektive einnimmt und keinen Avatar-Körper zur innerspielweltlichen Verortung besitzt. Beispielsweise präsentiert das prototypische VR-Spiel Windlands (Ilja Kivikangas, 2014) für die Oculus Rift keinen Avatar-Körper, wodurch die subjektive Perspektive des Spielers im Mittelpunkt steht (siehe Abb. 3)[16]. Demgegenüber ist es mittlerweile eher die Regel als die Ausnahme von First-Person Spielen, einen Avatar-Körper zur Verortung der Ego-Perspektive zu präsentieren (vgl. Beil, 2012: 189 f.).
Im Rahmen dieser Abschlussarbeit wird nun die Perspektive in Computerspielen mit Ego- bzw. First-Person Perspektive begrifflich von der durch VR-Brillen ermöglichten Perspektive unterschieden. Gegenüber der lebensweltlich real-subjektiven Perspektive des Rezipienten realisieren First-Person Games eine quasi-subjektive und VR-Brillen eine hypersubjektive Perspektive.
Abbildung 3: Stereoskopisch subjektive Perspektive mit der Oculus Rift VR. Eigener Screenshot aus Windlands (Ilja Kivikangas, 2014).
Letztere bezeichnet also die real-subjektive Perspektive des Rezipienten, die mit der vermittelten Perspektive eines Avatars gleichgesetzt wird und schließlich durch propriozeptive Körperwahrnehmung konstituiert wird. Zusammenfassend beschreibt an anderer Stelle Rune Klevjer diese Rezeptionssituation auch als virtuelle Verkörperung: „[…] this kind of virtual embodiment is constituted through a unity of action and perception, in a way that makes it hard to say where ‘graphics’ ends and ‘interactivity’ begins“ (Klevjer, 2012: 243 f.).
Der Vergleich der Rezeptionssituation...