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Gauner muss man Gauner nennen

Von der Sehnsucht nach verlässlichen Werten

AutorUlrich Wickert
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783492974264
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Haben die Deutschen Angst vor der Wahrheit? Ganz offensichtlich, sagt Ulrich Wickert. Viele Jahre im Umgang mit Politikern, Wirtschaftsbossen und Meinungsmachern haben ihn eines gelehrt: Die Dinge deutlich beim Namen zu nennen und Probleme anzusprechen fordert eine Ehrlichkeit im Denken, die wir dringend brauchen.

Ulrich Wickert, geboren 1942 in Tokio, ist einer der bekanntesten Journalisten Deutschlands. Er machte sich mit kritischen Beiträgen beim Fernsehmagazin MONITOR einen Namen, bevor er für vierzehn Jahre als ARD-Auslandskorrespondent aus Washington, New York und Paris berichtete. Fünfzehn Jahre lang moderierte er die Tagesthemen und galt in dieser Zeit wegen seiner stilistisch geschliffenen, stets mit Ironie gespickten Texte als beliebtester Moderator des deutschen Fernsehens.  Heute lebt er in Hamburg und Südfrankreich und ist Autor zahlreicher Sachbücher und Kriminalromane. www.ulrichwickert.de

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Leseprobe

Klartext


Vom Paradies auf Erden träumt schon lange niemand mehr. Aber es würde ja schon reichen, denkt der Zeitgenosse, wenn wenigstens ein friedliches Zusammenleben möglich wäre, wenn zumindest zu Hause gesellschaftliche Regeln wieder etwas bedeuteten.

Nichts ist heute mehr so, wie es war. Nachdem sich der Ost-West-Konflikt noch im alten Jahrhundert überraschend friedlich in Wohlgefallen aufgelöst hatte und das »Ende der Geschichte« ausgerufen worden war, schienen sich für kurze Zeit alle Probleme verflüchtigt zu haben. Deutschland hatte mit dem Vereinigungsprozess genug zu tun und wollte beweisen, dass ein vereintes Deutschland ebenso in europäischen Bahnen denkt und handelt wie die alte Bundesrepublik, also keinesfalls Machtansprüche stellt wie einst das aggressive Deutsche Reich. Entsprechend zog sich die Politik im Wesentlichen darauf zurück, sich im Organisieren von »ökonomischen Rahmenbedingungen« zu versuchen. Eine Zeit lang blendete noch die »New Economy« alle Wirtschaftsreligiösen, aber spätestens mit dem Platzen der Spekulationsblase kam das Dauergerede von der Krise. Auch das war erst einmal im Wesentlichen ökonomisch gemeint.

Und dann kam der 11. September 2001. Seit den Attentaten, deren Symbol der Einsturz der beiden Türme des World Trade Center ist, gibt es in der Weltpolitik keine wirkliche Orientierung mehr. Das Ausrufen der »Achse des Bösen« und des »Weltkriegs gegen den Terror« ist kein stabilisierender Faktor, wie es der Ost-West-Konflikt war. Schließlich können weder der Irak noch der Iran noch Al-Qaida den gleichen Stellenwert einnehmen wie der sogenannte Ostblock.

Manch einem von uns mögen diese Bedrohungen auch zu abstrakt erschienen sein, und die nächsten Anschlagsorte Madrid und London waren weit entfernt. Und hat uns nicht Schröders und Fischers Reflex auf unsere Geschichte – Nie wieder Krieg! – davor bewahrt, uns am Irakkrieg zu beteiligen? Spätestens aber seit den fehlgeschlagenen Attentaten mit Kofferbomben auf zwei Regionalzüge hat jeder begriffen, dass auch für die Bundesbürger der Ernst des Lebens in der globalisierten Welt begonnen hat. Wir haben zwar noch einmal Glück gehabt. Aber wer weiß, was alles auf uns zukommen kann, seit deutsche Truppen in Afghanistan und deutsche Kriegsschiffe vor der libanesischen Küste im Einsatz sind?

Zukunftsangst breitet sich aus im Land.

Eine optimistische Lebensplanung erscheint vielen jungen Menschen heute unmöglich. Dazu trägt nicht nur die terroristische Bedrohung bei und alles, was mit ihr zusammenhängt. Hinzu kommen wirtschaftliche Faktoren: Deutschland wird zwar im Zeitalter der Globalisierung Jahr für Jahr Exportweltmeister, aber die Arbeitslosigkeit nimmt trotz florierender Wirtschaft nur geringfügig ab. Dem ausgerufenen »robusten Aufschwung« kann noch niemand richtig vertrauen. Und wenn schon, profitieren werden davon sowieso immer die anderen. Die Renten werden bald nicht mehr für einen Lebensabend in Würde reichen. Den wechselnden Regierungen gelingt es nicht, sich auf grundsätzliche Reformen des Gesundheitswesens und des Rentensystems zu einigen. Die Schere zwischen den Gut- und Sehr-gut-Verdienern und einem Drittel der Gesellschaft am unteren Ende der Einkommens- beziehungsweise Hartz-IV-Skala geht immer weiter auf. Daher hat die Mittelschicht eine diffuse Angst vor Abstieg und Deklassierung.

Kurz gesagt: Die Maßstäbe stimmen nicht mehr. Wir haben die Orientierung verloren.

In vielen Bereichen des täglichen Lebens sind die Sitten verlottert. Das Bundeskriminalamt stellt fest, dass sich die Zahl der Bestechungsfälle 2005 im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelt hat. Auch die Zahl der Tatverdächtigen stieg sogar um 220 Prozent. Die Anzahl rechtsradikaler Gewalttaten hat sich verdoppelt. Im deutschen Privatfernsehen spritzt das Blut, im öffentlich-rechtlichen fliegen die Fäuste zweitklassiger Boxer. In der TV-Reality-Show »Martial Arts X-Treme« beim Sportkanal DSF gehen zweiunddreißig Schläger aus ganz Europa mit bloßen Händen und Füßen brutal aufeinander los. »Da werden die niedersten menschlichen Instinkte geweckt«, sagt Hagen Doering, Sportdirektor des Sauerland-Boxstalls. Zur gleichen Zeit werden Kinderleichen in der Tiefkühltruhe gefunden.

Unternehmen klagen, Auszubildende verfügten über keine Bildung mehr. Lehrer beschweren sich, Schüler lernten von ihren Eltern weder Moral noch Benehmen. Der Bildungsnotstand in Deutschland sei die Folge eines Erziehungsnotstands, erklärt Bernhard Bueb, der langjährige Leiter des Internats Schloss Salem: »Kinder und Jugendliche werden heute nicht mehr aufgezogen, sondern wachsen einfach auf. Sie sind umgeben von ungewollt aggressiv präsenten Erziehern: vom Fernsehen, vom plakativen Wohlstand unseres Landes, von den Verführern der Konsumgesellschaft, von den Vorbildern eines geistigen und charakterlichen Mittelmaßes, das unsere ›Eliten‹ repräsentieren.«

Vor dem Hintergrund dieser Gemengelage wächst die Sehnsucht der Bürger nach Orientierung in allen Lebensbereichen.

Millionen Jugendliche reisten nach Köln zum Weltjugendtreffen und jubelten dem Papst zu. Nicht etwa, weil sie religiös sind. Nein, sie sehnen sich nach Werten, nach Gemeinschaft, nach Brüderlichkeit und Frieden. Und für einige wenige Tage erfuhren sie tatsächlich, wie friedlich und fröhlich das menschliche Zusammenleben auch in Enge und großer Masse sein kann, wenn sich alle nach den gleichen Regeln richten. Spätestens als Papst Benedikt XVI. einige Monate später zum Heimatbesuch nach Bayern reiste und die Massen ihm erneut zujubelten, begann auch unter Menschen, die dem katholischen Glauben nicht eben nahestehen, das Nachdenken über den »Mangel an Werten und Orientierung«.

In Wirklichkeit mangelt es selbstverständlich weder an Werten noch an Orientierungsangeboten – ob man nun religiös ist oder nicht. Jeder kennt sie irgendwie, die grundlegenden Werte und Tugenden, aber zu wenige richten ihr Handeln danach aus. Allein in Umfragen lässt der deutsche Bürger seine Sehnsucht danach erkennen. Verlässlichkeit und Verantwortung, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit halten mehr als 90 Prozent für wichtige Maßstäbe. Aber anscheinend sind diese Begriffe hohl geworden, weiß nicht jeder, was sie konkret bedeuten. Und in der öffentlichen Auseinandersetzung werden sie bevorzugt dem jeweils eigenen politischen Nutzen angepasst und somit eines verbindlichen Sinnes entleert.

Einst wurde Gerechtigkeit als die Gleichheit vor dem Gesetz definiert. Später hieß das »Chancengleichheit«. Jetzt aber erheben Sozialpolitiker eine »Verteilungsgerechtigkeit« zum politisch korrekten Begriff und begründen damit einen Umverteilungs- und Versorgungswahn, der die Bildung einer sogenannten Unterschicht verhindern soll. »Unterschicht«, ein Terminus, den wir längst aus unserer Sprache aussortiert hatten – wie wir auch glaubten, »soziale Klassen« ein für alle Mal abgeschafft und durch »Lebensstile« ersetzt zu haben –, machte 2006 plötzlich Karriere und schaffte es sogar in die Schlagzeilen der FAZ. Früher hätte die politische Linke von »Proletariat« gesprochen, doch da dieses Wort als »politischer Kampfbegriff« quasi tabu ist, haben unsere schönredenden Politiker flugs den Begriff »Prekariat« erfunden.

Wie aber kam es zum Streit über die »Unterschicht«?

Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck hat das »schmutzige Wort« – so der Kommentator der FAZ – benutzt, als er ausführte, dass nach einer Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung acht Prozent der Bevölkerung in Deutschland (in Ostdeutschland 20 Prozent) in unsicheren Arbeitsverhältnissen leben, in »prekären Lebenslagen«, geprägt von sozialer »Lethargie«. Diese Menschen hätten allen Ehrgeiz verloren und richteten sich nicht mehr nach den Werten der Gesellschaft. »Unterschicht« bezeichnet also für Beck eine Gruppe von Menschen, die sich aus dem gesellschaftlichen Konsens verabschiedet hat, die Regeln nicht mehr einhält und nicht mehr den Willen hat, sich durch eigenes Tun aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Sofort erhob ein Klagechor von Politikern aus allen Parteien, inklusive der SPD, sein Wehgeschrei. Es handele sich doch bei den so benannten nur um »Menschen mit sozialen und Integrationsproblemen«.

In diesem scheinbaren Streit um Worte kann nur Klartext weiterhelfen.

Ich glaube, viele Begriffe in der gesellschaftlichen und politischen Debatte müssen wieder ihrer ursprünglichen Bedeutung oder wenigstens einem verbindlichen Sinn zugeordnet werden. Sie müssten wieder klar ausdrücken, was der meint, der sie benutzt, und nicht dazu dienen, das eigentlich Gemeinte schönrednerisch zu verschleiern. Denn in den modernen Wohlstandsgesellschaften hat sich breitgemacht, was...

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