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E-Book

Gebrauchsanweisung für Brasilien

2. aktualisierte Auflage 2014

AutorPeter Burghardt
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783492964258
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Nackte Haut und heiße Rhythmen - seit über dreißig Jahren bereist der Autor das Ursprungsland des Karnevals. Er schließt den umschwärmten Aufsteiger Südamerikas ins Herz und berichtet vom Ausnahmezustand in der fünften Jahreszeit. Erklärt, warum Schönheitschirurgen hier Hochkonjunktur haben, brasilianisches Bier sogar Bayern verzückt und wie Flipflops zum wirtschaftlichen Aufstieg verhalfen. Er besucht Favelas und teure Einkaufszentren in den Großstädten sowie Zuckerrohrplantagen und verborgene Völker am Amazonas. Taucht ein in eine Welt, in der Pelé und Ronaldinho die wahren Helden sind, Oscar Niemeyer als Herr der Kurven gilt und Paulo Coelho Weltliteratur schrieb. Brasilien ist ein Mythos - und Lebensfreude pur!

Peter Burghardt, 1966 in München geboren, studierte Politikwissenschaft. 1994 wurde er Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung, und 1997 wohnte er im Rahmen eines Stipendiums mehrere Monate in Mexiko-Stadt. Der Autor war zudem als Kriegsreporter in Mazedonien und Kosovo im Einsatz und arbeitete mehrere Jahre lang als Korrespondent in Madrid. 2006 zog er nach Buenos Aires, wo er für die Süddeutsche Zeitung über Lateinamerika berichtete, bis er 2015 in das innenpolitische Resort wechselte. Von ihm liegen die »Gebrauchsanweisung für Brasilien« sowie die »Gebrauchsanweisung für Mexiko« vor. Derzeit lebt er mit seiner Familie in Hamburg.

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Leseprobe

Tudo bem?


Die Portugiesen haben Brasilien vor gut 500 Jahren entdeckt, obwohl Pedro Álvares Cabral eigentlich nach Indien segeln wollte. Meine Premiere ereignete sich etwas später, aber absichtlich. An einem kalten und dunklen Morgen im Januar 1986 stiegen wir in ein Flugzeug und flogen aus dem Münchner Winter in den Hochsommer Südamerikas. BRIC-Staaten kannte man damals noch nicht und auch nicht den Gastgeber der Fußball-WM 2014 und von Olympia 2016, doch Brasilien war längst ein Ziel der Sehnsucht.

Im Rucksack hatten wir überflüssige Malariapillen und im Kopf die Bilder und Legenden aus Rio de Janeiro, Manaus, Salvador da Bahia, Iguaçu, von Stränden, Fußball, Samba, Festen, Wasserfällen, Riesenschlangen, Flüssen und Mädchen von Ipanema. Nach zehn Stunden ging die Maschine zwischen Palmen und Atlantik in Recife im brasilianischen Nordosten nieder. Es war grell, bunt, laut und heiß. Ein uns vorausgeeilter Freund trug einen schicken Strohhut zum krebsroten Gesicht und beherrschte schon die lässige Zauberformel tudo bem, alles klar. Der Geruch von Alkohol stieg uns sofort in die Nase, viele Autos fuhren bereits wie beschwipst mit Ethanol. Willkommen in Brasilien. Bem-vindos ao Brasil. Bra-si-u.

Der arme Bundesstaat Pernambuco war kein schlechter Start für uns Debütanten, die Gegend gehörte einst zu den Zentren von Zuckerrohrplantagen und Sklaverei. Hier vermischen sich indianisches, afrikanisches, portugiesisches und sogar holländisches Erbe mit dem Tourismus der Neuzeit. Recife bedeutet Riff und wird wegen seiner Flüsse und Brücken in leichter Übertreibung auch brasilianisches Venedig genannt. Die modrige Altstadt hatte morbiden Charme und das Strandrevier Boa Viagem (Gute Reise) einen Hauch von Miami Beach. Wir sicherten uns umgehend einen Sonnenbrand und schwammen im Meer – von Haien war noch keine Rede, von denen sollte ich erst 25 Jahre danach erfahren. Wir schlürften Caipirinha, in Deutschland seinerzeit noch exotisch, und die klare Milch aus Kokosnüssen, denen Künstler mit Macheten Löcher für die Strohhalme in die Schale hieben. Wir erklommen schwitzend das benachbarte Kolonialjuwel Olinda, aßen gegrillten Käse, der beim Kauen quietschte, und entdeckten zum ersten Mal das Kreuz des Südens am Himmel. Wir tranken eisiges Bier, sahen spannende Gesichter und hörten gute Musik. Wir waren begeistert.

Obendrein steckte uns dieser Tick an. Daumen hoch, dazu zwei Wörter: tudo bem, gesprochen »tudu beng«, alles klar, oder tudo joya, alles Schmuck, oder tudo beleza, alles Schönheit. Der brasilianische Optimismus erschien unerschütterlich zu sein, dabei war der Aufschwung in jenen Jahren noch eine Vision. Erst 1985 hatte die Militärdiktatur abgedankt, und es regierte der korruptionsbewährte Ersatzmann José Sarney, der gewählte Präsident Tancredo Neves war vor seinem Amtsantritt gestorben. Brasilien galt als Belindia, eine Mischung aus Elite und Entwicklung à la Belgien und Armut und Rückstand à la Indien. Als verschlafener Riese, mit dem man gut feiern konnte, aber besser keine Geschäfte machte. Lebensfroh, verschuldet, inflationär, gefährlich. »Land der Zukunft« nannte der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig seine Hommage an sein tropisches Exil, ehe er sich 1942 in Petrópolis bei Rio das Leben nahm. »Ja, Land der Zukunft«, spotteten die Brasilianer, »wir werden es immer bleiben.«

Beim ersten Mittagsschlaf im Sand wurden unserem Freund Andi die Schuhe geklaut, er erstand zügig Ersatz. »O Brasil não é para principiantes«, »Brasilien ist nichts für Anfänger«, fand Tom Jobim, der Komponist des »Garota de Ipanema«. Wir Anfänger amüsierten uns aber prächtig, und Brasilien war noch herrlich billig, trotz ständig steigender Preise. Der Cruzeiro oder Cruzado oder wie die Währung gerade hieß, verlor stündlich an Wert, die Tarife des Taximeters wurden mit Tabellen umgerechnet. Die Inflation von 1979 bis 1994 betrug, Achtung: 13 342 346 717 617,70 Prozent, 13,3 Billionen Prozent. Am Duschkopf im Hotel musste man für warmes Wasser eine Elektroheizung mit halb nackten Kabeln anknipsen und hoffen, keinem Stromschlag zu erliegen. Ferngespräche gestalteten sich so kompliziert wie Flugreservierungen. Andererseits: Tem jeito, alles lässt sich regeln. Das Motto Ordem e progresso (Ordnung und Fortschritt) stand wie eine Verheißung im grün-gelb-blauen Banner mit dem Sternenhimmel, ein Stern für jeden Bundesstaat.

Wir flogen mit Fluglinien, die es mittlerweile nicht mehr gibt. Varig, Transbrasil, Cruzeiro, Vasp – alle verschwunden. Die Nachfolger heißen TAM, Gol, Azul, Webjet, TRIP, Avianca, man reserviert online, und der brasilianische Luftraum wird immer enger. Wir kauften uns am Kiosk den Reiseführer »Quatro Rodas« (»Vier Räder«), Brasiliens Michelin. Wir fuhren Tage und Nächte in tiefgekühlten Bussen, über Landstraßen von einem Busbahnhof (rodoviária) zum nächsten. Jeder Besucher erlebt da auf dem Landweg ansatzweise ein Roadmovie wie in »Central do Brasil«, dem rührenden Meisterwerk des Regisseurs Walter Salles.

Brasilien ist 24-mal so groß wie Deutschland. Es reicht in seiner Länge von Chuí an Uruguays Grenze bis zum Monte Caburaí an der Schwelle zu Venezuela – früher galt Oiapoque als nördlichster Ort, auf der anderen Seite des Flusses liegen Französisch-Guayana und die Europäische Union. Und in seiner Breite spannt sich der Koloss von João Pessoa im Osten bis an die peruanische Grenze im Regenwald von Acre, noch östlicher liegt die Trauminsel Fernando de Noronha vor Pernambuco. Ein Kontinent mit 7500 Kilometer Küste, enormem Regenwald, Bodenschätzen, Tieren und Pflanzen aller Art und bald 200 Millionen Bewohnern, darunter 238 indigenen Völkern, von denen einige mit der Moderne nichts zu tun haben wollen. Brasilien hat die zweitgrößte dunkelhäutige Bevölkerung nach Nigeria (»Gibt es bei euch auch Schwarze?«, fragte einst US-Präsident George W. Bush seinen verdutzten Kollegen Lula) und einige der größten japanischen, italienischen und deutschen Gemeinden außerhalb Japans, Italiens und Deutschlands. Brasilien besitzt das größte Flusssystem der Erde und das zweitgrößte Oktoberfest: das von Blumenau mit seinen Maßkrügen, Lederhosen und Blaskapellen.

Auf dem Markt Ver-o-Peso, »Achte aufs Gewicht« (und achte auf deine Kamera), in Belém an der Amazonasmündung erstand ich aus unerfindlichen Gründen ein Haigebiss. Dort gibt es auch eingelegte Flussdelfinpenisse und präparierte Piranhas, falls jemand so was mag. In dieser Tropenstadt wurden wir außerdem Zeuge, wie in einer Freiluftbar einer dem anderen nach einem angeregten Gespräch die Bierflasche über den Schädel zog und das Opfer mit Handtuch über dem blutenden Schädel fürsorglich ins Taxi packte. Rio de Janeiro empfing uns dann wie eine Erscheinung, die Cidade Maravilhosa trommelt einem auf die Sinne. Ein sagenhafter Wurf der Natur. Hier der schönste Blick auf Erden, von Zuckerhut und Corcovado, und die coolsten Menschen. Dort Gewalt und Misere. In jener Zeit amüsierte sich noch der Posträuber Ronald Biggs in den Hügeln, den haben wir leider verpasst. Dafür gingen wir nachts an der Copacabana baden – ein No-go bei Dunkelheit, es ist aber nichts passiert.

In Salvador bekamen wir die bunten Bändchen mit den drei Knoten für drei Wünsche umgebunden. Wir landeten in Ceará in einem Kaff namens Canoa Quebrada, »Zerbrochenes Kanu«, an unendlichen Sanddünen bei Fortaleza, wo unser Freund Armin nach schattenloser Plauderstunde mit Sonnenstich in die Hängematte fiel. Wir wackelten über eine Urwaldpiste nach Trancoso an einem Bilderbuchstrand Bahias, wo eine Köchin am fußballfeldgroßen Platz versicherte, sie träume ihre Rezepte. Man hätte sich an beiden Orten eine Hütte kaufen sollen, man wäre heute reich und entspannt, denn solch ehemalige Geheimtipps avancierten zu Hotspots.

Seither kam ich sehr oft nach Brasilien, als Urlauber und als Reporter. Wir standen vor den Wassermassen von Iguaçu, wanderten auf Boipeba, staunten über die Schmetterlinge am Rio Xingu und lernten, dass São Paulos Sushi unschlagbar ist. Ich erlebte Porto Alegre als Mekka der Antikapitalisten und eine sündteure Silvesternacht in Praia do Rosa bei Florianópolis. Ich erfuhr, dass die Dengue-Moskitos vom Stamm Aedes aegypti bevorzugt vormittags bis in Kniehöhe stechen und die Gesundheitsbehörde Fiocruz und Labors nach einem Impfstoff fahnden. Ich verstand, dass man ohne die Steuernummer CPF nicht mal ein Kartenhandy kriegt, aber selbst für eine Zeitung eine Plastiktüte bekommt. Und vor allem sah ich, wie sehr sich dieses Brasilien veränderte.

1994 bekamen die Brasilianer endlich eine Währung, die ihnen nicht zwischen den Fingern zerrann, den Real. Der frühere Gewerkschaftsführer Luiz Inácio Lula da Silva wurde Präsident und Weltstar, ihm folgte die ehemalige Guerillera Dilma Rousseff, einst Opfer der Folterknechte. Ein Wirtschaftswunder nahm seinen Lauf. Ein Ökonom ernannte Brasilien, Russland, Indien und China zum BRIC-Klub der aufsteigenden Schwellenländer. Statt Schuldenbergen und Hyperinflation werden Wachstum und Devisenreserven gemeldet. Brasilien wurde plötzlich zur Hoffnung für Investoren und Immigranten. Die Republik besitzt eine der größten funktionierenden Demokratien der Welt, hat trotz aller Probleme freundliche Menschen, interessante Städte und traumhafte Landschaften und wird sogar von Naturkatastrophen weitgehend verschont. Sollten Stefan Zweig und auch die Hymne endlich recht bekommen? Gigante pela própria natureza, és belo, és forte, impávido colosso, e o teu futuro espelha essa grandeza, heißt es da. »Von Natur aus ein...

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