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E-Book

Gebrauchsanweisung für Irland

10. aktualisierte Auflage 2020

AutorRalf Sotscheck
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783492950268
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Die Insel in Europas Nordwesten: vielleicht der Flecken Erde mit den meisten Klischees pro Quadratmeter. Was aber erwartet den Irlandreisenden wirklich? Eine der jüngsten Bevölkerungen, die nach zwanzig Jahren Wirtschaftsboom wieder auf den Boden der Tatsachen geholt wurde. Doppelt so viele Schafe wie Menschen. Viel Regen, schwarzes Bier, Bingohallen und eine eigentümliche Sprache. Größen der Weltliteratur von Joyce bis McCourt. Hier sind Sagen und Legenden lebendig, schwebt die Feenfrau Banshee noch immer durch verwitterte Ruinen; hier erfand ein Dubliner den Grafen Dracula. Ralf Sotscheck erzählt mit irisch inspirierter Fabulierlust und lässt das bunte Mosaik einer Nation zwischen keltischer Tradition und Zukunftsfragen entstehen.

Ralf Sotscheck, 1954 in Berlin geboren, ist seit über vierzig Jahren mit einer Irin verheiratet und lebt seit 1985 als Korrespondent der »taz« für Irland und Großbritannien in Dublin. Er schreibt außerdem für namhafte Zeitschriften, dreht Dokumentarfilme fürs deutsche Fernsehen und veröffentlichte zahlreiche Reportage- und Satirebücher. Zuletzt erschienen von ihm u.a. »Lesereise Irland: Grüner Fels in wilden Zeiten«, »Zocken mit Jesus: Irische Zeichen und Wunder« und zuletzt der Reportagen-Band »Nordirland: Zwischen Bloody Sunday und Brexit«. Ralf Sotscheck »überzeugt mit seiner genauen, unterschwellig oft ironischen Sprache ebenso wie mit seiner dem Gegenstand angemessenen Freude an Anekdoten.« Die Presse über »Gebrauchsanweisung für Irland«. www.sotscheck.net

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Leseprobe
WALPURGISNACHT Per Mörner hatte schwere Verbrennungen an seiner linken Hand, mehrere gebrochene Rippen und konnte nur noch verschwommene Umrisse erkennen. Aber er lebte noch. Er spürte, wie er mit Benzin übergossen wurde, registrierte dessen milde Temperatur. Im Vergleich zu der kalten Abendluft fühlte sich die Flüssigkeit beinahe warm an, und es brannte, als sie ihm über die Haare und in die Wunden im Gesicht rann. Der Benzinkanister über seinem Kopf gab rhythmische, gluckernde Laute von sich. Dann hörte das Gluckern auf, und der leere Kanister wurde weggeschleudert. Per kniete inmitten einer großen Pfütze und war vollkommen durchnässt. Er war von dem harten Schlag auf den Kopf ganz benommen, und die Benzindämpfe machten ihn schwindelig. Er stützte sich auf seine Arme und versuchte sich aufzurichten. Aber er hatte Schwierigkeiten, mehr als Umrisse zu erkennen. Die Gestalt vor ihm war nur ein dunkler Schatten gegen den Abendhimmel. Wie ein Troll, dachte Per. Die Person sah aus wie ein Bergtroll. »Walpurgisnacht!«, sagte der Schatten. »Heute Nacht brennen überall Feuer!« Dann holte die Gestalt etwas aus der Jackentasche, einen Gegenstand, der leise rasselte. Es war eine Streichholzschachtel. Jetzt würde Per für die Sünden seines Vaters in Flammen aufgehen. Er hob den Kopf. Da kam ihm in den Sinn, dass er noch eine Sache versuchen konnte, obwohl es wahrscheinlich zu spät dafür war - er konnte um Gnade flehen. Ihm rann Benzin in den Mund, als er ihn öffnete. »Ich werde schweigen«, flüsterte er. Obwohl das unmöglich war, er wusste bereits zu viel über die Machenschaften von Jerry, Bremer und Markus Lukas. Aber er wusste auch, dass die vielen Namen, die er in den vergangenen Wochen zusammengetragen hatte, keine Bedeutung mehr hatten. Sie würden alle bald verschwunden sein. Die Gestalt vor ihm schien nicht einmal zugehört zu haben. Sie öffnete die Schachtel und holte ein Streichholz heraus. Dann schob sie die Schachtel wieder zu, nahm das Streichholz zwischen die Finger und zündete es an. Es knisterte leise, und dann loderte eine helle, gelbe Flamme auf. Jerry, Bremer, Markus Lukas, Jessika, Regina und all die anderen ... Per schloss die Augen und wartete auf das Feuer. Unaufhörlich flimmerten die Namen durch seinen Kopf. 1 Es war März, und im Norden von Öland schien die Sonne auf die letzten grauen Schneehäufchen, die auf dem Rasen vor dem Altersheim von Marnäs lagen und nur langsam schmolzen. Die beiden Flaggen auf dem Parkplatz - die schwedische mit gelbem Kreuz und die öländische mit einem goldenen Hirsch - flatterten im eiskalten Wind. Beide waren auf halbmast. Eine lange schwarze Limousine rollte auf den Vorplatz des Altersheims und hielt vor dem Eingang. Zwei Männer in dicken Wintermänteln stiegen aus dem Wagen und öffneten die Kofferraumklappe. Sie zogen eine Bahre heraus, klappten die Räder aus und schoben sie die Rollstuhlrampe hinauf und durch die gläserne Eingangstür. Die Männer waren Leichenbestatter. Der pensionierte Kapitän zur See Gerlof Davidsson saß zusammen mit seinen Mitbewohnern im Speisesaal, als die Männer den Fahrstuhl verließen. Er beobachtete sie, wie sie die Bahre den Gang hinunterschoben. Auf der Bahre lagen gelbe Decken und breite Gurte, die den leblosen Körper festhalten sollten. Die Männer gingen schweigend am Speiseaal vorbei und steuerten den Warenaufzug an, der hinunter in den Kühlraum des Altersheims führte. Das Gemurmel der Bewohner verstummte, als die Bahre vorbeirollte, setzte aber kurz darauf wieder ein. Gerlof erinnerte sich, dass vor ein paar Jahren die Bewohner des Altersheims darüber abgestimmt hatten, ob der Wagen des Bestattungsinstituts künftig auf der Rückseite des Gebäudes halten und die Verstorbenen dezent durch eine Hintertür abtransportieren sollte. Die meisten hatten sich jedoch dagegen ausgesprochen, so auch Gerlof. Die Alten wollten sehen, wie ihre verstorbenen Mitbewohner ihre letzte Reise antraten. Sie wollten Abschied nehmen können. An diesem kalten Tag war Torsten Axelsson an der Reihe. Er war in seinem Bett gestorben, einsam und mitten in der Nacht, so, wie viele Menschen sterben. Die Frühschicht hatte ihn gefunden, einen Arzt gerufen, damit er den Tod bescheinigte, und ihm danach seinen schönsten schwarzen Anzug angezogen. An seinem rechten Handgelenk wurde ein Plastikband mit seinem Namen und seiner Versicherungsnummer befestigt, und zu guter Letzt hatten sie Torsten eine Mullbinde um den Kopf gebunden, damit der Kiefer geschlossen blieb, wenn die Leichenstarre einsetzte. Torsten hatte genau gewusst, was mit ihm nach seinem Tod geschehen würde. Dessen war sich Gerlof sicher, schließlich hatte Torsten sein Leben lang als Friedhofswärter und Totengräber gearbeitet. In einem der vielen Särge, die er unter die Erde gebracht hatte, hatte sogar einmal ein Mörder namens Nils Kant gelegen. Aber in der Regel hatte er Gräber für normale Inselbewohner ausgehoben. Tagein, tagaus hatte er diese Arbeit verrichtet, wenn nicht zu viel Schnee lag oder Minusgrade unter zehn herrschten. Besonders im Frühling war das Graben beschwerlich gewesen, hatte er Gerlof einmal erzählt, weil der Bodenfrost auf Öland so lange anhielt. Aber nicht etwa die physische Anstrengung hatte ihm am meisten zugesetzt: An den Tagen, an denen er das Grab für ein verstorbenes Kind ausheben musste, war es ihm furchtbar schwergefallen, aufzustehen und ans Werk zu gehen. Schon bald würde er in sein eigenes Grab hinabgesenkt werden. In einer Urne - Torsten wollte eingeäschert werden. »Ich lasse mich lieber verbrennen, als dass meine Knochen in der Erde bleiben und durch die Gegend fliegen«, hatte er gesagt. Früher war das anders, dachte Gerlof. In seiner Jugend gab es weder Leichenbestatter noch Bestattungsinstitute, die sich um alles kümmerten, wenn ein Angehöriger gestorben war. Früher starb man in seinem eigenen Bett, und ein Familienmitglied zimmerte den Sarg. Da fiel Gerlof eine alte Familiengeschichte ein. Anfang des 20. Jahrhunderts lebten seine frisch verheirateten Eltern in einem umgebauten Sommerhaus in Stenvik. Eines Nachts wurden sie von merkwürdigen Geräuschen auf dem Dachboden geweckt. Es klang, als würde jemand die übrig gebliebenen Bretter durch die Gegend schieben, die Gerlofs Vater dort gelagert hatte. Als er jedoch nachsehen ging, war der Dachboden verlassen und alles still. Aber kaum war sein Vater wieder im Schlafzimmer angekommen, begann der Lärm von Neuem. Gerlofs Eltern hatten regungslos in der Dunkelheit gelegen und angsterfüllt den unheimlichen Geräuschen gelauscht. Als Gerlof seinen Kaffee ausgetrunken hatte, kamen die Leichenbestatter mit der Bahre zurück. Er konnte sehen, dass jetzt ein Körper darauf lag, verborgen unter den Decken und festgehalten von den Ledergurten. Leise und zügig wurde er vorbeigefahren. Adieu, Torsten, dachte Gerlof. Kaum hatten die Leichenbestatter das Altersheim durch den Haupteingang verlassen, schob Gerlof seinen Stuhl nach hinten. »Zeit zu gehen«, verkündete er seinen Tischnachbarn. Dann erhob er sich langsam mithilfe seines Stockes. Er biss die Zähne zusammen, als die rheumatischen Schmerzen sich in den Beinen meldeten. Bedächtig lief er den Gang hinunter zum Büro der Heimleiterin. Seit Wochen schon hatte Gerlof sich so seine Gedanken gemacht, genau genommen seit seinem letzten Geburtstag. Da war ihm bewusst geworden, dass es nicht mehr weit war bis zu seinem fünfundachtzigsten Geburtstag. Die Zeit verrann so schnell - ein Jahr in seinem Alter verging genauso rasch, wie früher eine Woche verstrichen war, als er noch ein junger Mann war. Und jetzt, nach Torstens Tod, hatte er endgültig den Entschluss gefasst. Vorsichtig klopfte er gegen die Tür von Boels Büro und öffnete sie, als die Heimleiterin antwortete. Boel saß am Computer und erledigte Papierkram. Gerlof blieb schweigend auf der Türschwelle stehen. Nach einer Weile hob sie den Kopf. »Geht es Ihnen gut, Gerlof?« »Ja.« »Was gibt es denn? Haben Sie etwas auf dem Herzen?« Er holte tief Luft. »Ich muss hier weg.« Boel schüttelte langsam den Kopf. »Gerlof ...« »Es ist bereits entschieden«, unterbrach er sie. »Ach ja?« »Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen ...« Gerlof registrierte, dass Boel mit den Augen rollte, fuhr aber unbeirrt fort: »Meine Eltern heirateten 1910. Sie übernahmen einen kleinen umgebauten Hof, der seit vielen Jahren leer stand. In ihrer ersten Nacht hörten sie merkwürdige Geräusche auf dem Dachboden ... es klang, als würde jemand die Bretter hin und her bewegen, die mein Vater dort oben aufgestapelt hatte. Sie fanden keine Erklärung für den Lärm, aber am nächsten Morgen stand der Nachbar vor der Tür.« Er machte eine Kunstpause und fuhr dann fort: »Der Nachbar erzählte, dass sein Bruder in der vergangenen Nacht gestorben sei. Und er bat meinen Vater um Bretter, um daraus einen Sarg zimmern zu können. Mein Vater ließ ihn auf den Dachboden gehen und die passenden Bretter auswählen. Als meine Eltern in der Küche saßen und das Geklapper vom Dachboden hörten, erkannten sie die Geräusche wieder ... Sie waren identisch mit denen der vergangenen Nacht.« Es wurde still im Raum. »Ja, und?«, fragte Boel schließlich. »Das war eine Ankündigung. Die Ankündigung eines nahenden Todes.« »Ja, Gerlof, das war eine schöne Geschichte ... Aber worauf wollen Sie hinaus?« Er seufzte. »Ich will darauf hinaus«, sagte er, »dass es mein Sarg sein wird, der als Nächstes gezimmert werden muss, wenn ich länger hierbleibe. Ich habe schon das klappernde Geräusch von Holzbrettern gehört. Und das Rattern des Leichenwagens.« Boel schien aufzugeben. »Und was haben Sie vor? Wo wollen Sie hin?« »Nach Hause«, antwortete Gerlof. »In mein Haus nach Stenvik.« 2 Du stirbst? Wer hat gesagt, dass du stirbst, Papa?« »Ich selbst!« »Das ist doch lächerlich! Du hast noch viele Jahre vor dir ... viele Frühlinge«, widersprach Julia Davidsson und fügte hinzu: »Außerdem hast du es gerade geschafft, lebend ein Altersheim zu verlassen - wie vielen gelingt das wohl?« Gerlof erwiderte nichts, musste aber unwillkürlich an die stählerne Bahre mit Torsten Axelssons Körper denken. Und er blieb schweigsam, während seine Tochter den Wagen hinunter zur Küste bis zur Ortseinfahrt von Stenvik steuerte. Die Sonne schien durch die Windschutzscheibe und weckte seine Sehnsucht nach Schmetterlingen und Vögeln und allem anderen, was die Frühlingswärme mit sich bringt. Die Lebenslust in seiner Brust hob ihren schläfrigen Kopf und blinzelte überrascht. Er musste sich beinahe anstrengen, um mürrisch zu klingen, als er schließlich etwas sagte: »Nur Gott allein weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt, und er lässt sie viel zu schnell vergehen ... aber wenn ich schon sterben soll, dann hier in meinem Heimatort.« Julia seufzte. Sie hielt den Wagen am Rand der menschenleeren Hauptstraße von Stenvik an und schaltete den Motor aus. »Du liest zu viele Todesanzeigen.« »Stimmt. Aber die Zeitungen leben davon.« Gerlof hatte sich mit Letzerem einen Scherz erlauben wollen, aber Julia lachte nicht, sondern half ihm nur schweigend beim Aussteigen. Langsam gingen sie auf das Gartentor des Sommerhauses der Familie Davidsson zu, das in einem kleinen Wäldchen in Stenvik lag, nur einige Hundert Meter vom Meer entfernt. Zwar würde er die meiste Zeit allein sein, darüber war sich Gerlof vollkommen im Klaren, aber dafür bliebe er wenigstens vor den Krankheiten im Altersheim verschont. Die anderen Mitbewohner mit ihren zahllosen Tabletten, Sauerstoffschläuchen und dem ständigen Gerede über Gebrechen waren ihm langsam auf die Nerven gegangen. Und seiner ehemaligen Geliebten Maja Nyman ging es auch immer schlechter, die meiste Zeit lag sie im Bett. Fast einen Monat hatte es gedauert, Boel und die anderen im Vorstand davon zu überzeugen, Gerlof zurück in sein Haus nach Stenvik ziehen zu lassen. Aber schließlich hatten sie aufgegeben und eingesehen, dass er dadurch den Platz für einen neuen Heimbewohner freigab, der gerne im Altersheim aufgenommen werden wollte. Gerlof würde zwar weiterhin Hilfe benötigen, eine Putzfrau, medizinische Versorgung und Essen auf Rädern, aber das würde sich ohne Weiteres mit Krankenschwestern und Haushaltshilfen bewerkstelligen lassen. Gerlof war vollkommen klar im Kopf, obwohl er sich an manchen Tagen kaum bewegen konnte. Seinem Hirn und seinen Zähnen fehlte nichts - nur die Arme, Beine und der Rest des Körpers hätten eine Grundrestaurierung nötig. Es war Ende März, und Gerlof betrat zum ersten Mal in diesem Jahr seinen Heimatort an der Küste, in dem er geboren und aufgewachsen war. Er war zurückgekehrt auf den Grund und Boden, der seit Jahrhunderten im Besitz der Familie Davidsson war und den seine Eltern noch bewirtschaftet hatten. Und er war zurück in seinem Häuschen, das er für sich und seine Frau Ella vor etwa fünfzig Jahren gebaut hatte. Stenvik war sein Hafen gewesen in den vielen Jahren auf See. Der Schnee war fast überall geschmolzen und hatte eine weiche Grasfläche freigelegt, die dringend geharkt werden musste. »Grün und Laub vom letzten Jahr«, sagte Gerlof. »Was im Winter verborgen war, kommt jetzt wieder zum Vorschein.« Während sie über das verblichene Gras gingen, klammerte er sich fest an Julias Arm. Als sie aber die steinerne Treppe erreicht hatten, ließ er sie los und stieg auf seinen Gehstock aus KastaTheorin_ nienholz gestützt behutsam eine Stufe nach der anderen hinauf zur Eingangstür. Gerlof konnte zwar noch selbst laufen, aber er war dankbar, dass seine Tochter ihn stützte. Und er war froh, dass Ella nicht mehr lebte. Er wäre ihr nur eine große Last gewesen. Er holte den Schlüssel aus seiner Tasche und schloss auf. Die stickige Luft verschlossener Räume schlug ihm entgegen, als er die Glastür öffnete. Abgestanden und ein bisschen feucht, aber es roch nicht nach Schimmel. Die Dachziegel schienen noch intakt zu sein. Zum Glück entdeckte er auch keine kleinen schwarzen Kügelchen, als er über die Schwelle trat. Die Mäuse überwinterten in der Regel im Fundament des Hauses und kamen nur selten in die Wohnräume. Julia war übers Wochenende auf die Insel gekommen, um ihm beim Umzug zu helfen und klar Schiff zu machen. Frühjahrsputz nannte sie das. Natürlich war Gerlof der eigentliche Besitzer des Häuschens, aber seit vielen Jahren nutzten es seine beiden Töchter und deren Familien als Sommerhaus. Und im Sommer würden sie sich in den kleinen Zimmern arrangieren müssen. Kommt Zeit, kommt Rat, dachte er. Nachdem sie Gerlofs Gepäck ins Haus gebracht, den Strom eingeschaltet und die Fenster zum Lüften geöffnet hatten, gingen sie wieder hinaus in den Garten. Abgesehen vom Geschrei der Sturmmöwen unten am Strand wirkte der Ort an diesem Samstagvormittag vollkommen menschenleer und verlassen. Doch plötzlich hörten sie von der anderen Seite der Hauptstraße harte Hammerschläge. Sie hallten weit über die Landschaft. Julia sah sich irritiert um. »Da ist jemand zugange.« »Ja«, erläuterte Gerlof, »die bauen drüben am Steinbruch.« Gerlof war nicht überrascht, im vergangenen Sommer hatte er einen Ausflug in die Stadt gemacht und beobachtet, dass auf zwei großen Grundstücken neben dem Steinbruch sämtliche Bäume und Büsche gefällt und entfernt worden waren und eine Walze den Erdboden bearbeitet hatte. Seine Vermutung war, dass dort zwei weitere Sommerhäuser entstünden, die wie so viele andere die meiste Zeit des Jahres unbewohnt bleiben würden. »Willst du dir das ansehen?«, fragte Julia. »Gerne, lass uns rübergehen.« Er nahm den Arm seiner Tochter, und gemeinsam verließen sie das Grundstück durch das Gartentor. Als Gerlof Anfang der Fünfzigerjahre sein Haus baute, hatte er noch ungehinderte Sicht auf das Meer im Westen und auf den Kirchturm von Marnäs im Osten. Damals gab es überall grasende Kühe und Schafe, die den Bewuchs in Schach hielten. Aber das Vieh war schon lange verschwunden, und die Bäume und Büsche hatten wieder die Herrschaft übernommen. Die Baumkronen bildeten nun ein dichtes Dach, und als sie die Hauptstraße überquerten, konnte Gerlof nur einen kurzen Blick auf den eisbedeckten Sund im Westen erhaschen. Stenvik war ein altes Fischerdorf. Gerlof erinnerte sich gerne an die Zeit, als die Kähne in der sanften Bucht in langen Reihen am Strand nebeneinanderlagen und darauf warteten, zu den Fischernetzen gerudert zu werden, die weiter draußen im Sund ausgeworfen worden waren. Schon lange waren sie alle verschwunden und die Wohn- und Bootshäuser der Fischer waren zu Ferienhäuschen umgebaut worden. Sie bogen in den Kiesweg, der zum Steinbruch führte. ERNSTS WEG stand in großen Lettern auf einem neuen weißen Schild. Gerlof wusste, nach wem der Weg benannt worden war: Ernst war sein Freund gewesen und hatte als Steinhauer als einer der letzten Bewohner des Ortes bis zur Schließung Anfang der Sechzigerjahre im Steinbruch gearbeitet. Auch Ernst gab es nicht mehr - nur sein Weg war geblieben. Gerlof versuchte sich auszumalen, ob auch nach ihm eines Tages etwas benannt werden würde. Als der Steinbruch vor ihnen auftauchte, sah Gerlof sofort, dass Ernsts rotbraunes Backsteinhaus noch an Ort und Stelle stand, direkt an der Kante des Steinbruchs. Es war verriegelt und winterfest gemacht. Das Kind einer Cousine hatte es mit seiner Familie geerbt, als Ernst starb, aber sie hielten sich fast nie dort auf. »Oha«, sagte Julia. »Jetzt fangen sie auch hier an zu bauen.« Gerlof wandte seinen Blick von Ernsts Haus und entdeckte die beiden großen Villen, die Julia meinte. Sie standen, mit ein paar Hundert Metern Abstand zueinander, auf der östlichen Seite des Steinbruchs. »Sie haben wohl schon letzten Sommer begonnen, die Grundstücke vorzubereiten«, sagte Julia erstaunt. »Und dann müssen sie den Herbst und Winter über gebaut haben.« Gerlof schüttelte den Kopf. »Mich hat niemand um Erlaubnis gefragt!« Julia kicherte. »Das stört dich doch gar nicht, die Bäume versperren dir doch die Sicht.« »Stimmt, aber trotzdem. Der Anstand hätte es verlangt!« Die Häuser waren aus Holz und Stein gebaut, mit großen, glänzenden Panoramafenstern, weißen Schornsteinen und schwarzen Schieferschindeln. Auf einem der Grundstücke standen noch Baugerüste herum, und ein paar Zimmerleute in dicken Wollpullovern waren damit beschäftigt, Holzbretter aneinanderzunageln. Vor der anderen Villa lag eine große, weiße, in Plastik verpackte Badewanne auf dem Rasen. Ernsts Häuschen, das sich nördlich der beiden neuen Eigenheime befand, sah im Vergleich dazu aus wie ein kleiner Holzschuppen. Luxushäuser, dachte Gerlof verächtlich. Das war mitnichten das, was der Ort am dringlichsten brauchte. Aber nun standen sie da, fast fertiggestellt. Der stillgelegte Steinbruch lag wie eine große Wunde in der Landschaft. Er war fünfhundert Meter breit und der Boden übersät mit kleinen und großen Steinbrocken, teils zu Haufen aufgetürmt, die aus dem Berg gebrochen und dann beiseitegeworfen worden waren auf der Jagd nach den Steinen tiefer im Berg, die ohne Risse und Spalten waren. »Willst du dir das aus der Nähe ansehen?«, fragte Julia. »Wir können hingehen und nachschauen, ob vielleicht einer der Besitzer da ist.« Gerlof schüttelte energisch den Kopf. »Ich kenne die schon. Das sind reiche und arrogante Großstädter.« »Nicht alle, die hier ein Haus bauen oder kaufen, sind Großstädter«, widersprach seine Tochter. »Nee, das stimmt ... Aber reich und arrogant sind sie auf jeden Fall.« 3 Soll ich das Fenster öffnen?«, fragte Per Mörner. Seine Tochter Nilla hatte ihm den Rücken zugewandt, aber sie nickte. »Sind da draußen Vögel?«, fragte sie. »Ganz viele!«, antwortete Per. Das entsprach nicht der Wahrheit, er sah keinen einzigen von dem Krankenhausfenster aus. Aber beim Parkplatz standen Bäume, unter Umständen saßen dort ein paar Singvögel auf den Ästen. »Dann kannst du es aufmachen«, erwiderte Nilla und erklärte: »Ich habe in Biologie als Hausaufgabe, verschiedene Vogelarten aufzuzählen.« Nilla ging in die siebte Klasse, und sie hatte alle Bücher auf dem Tisch neben ihrem Bett ausgebreitet. Ihre Glücksbringer und Kuscheltiere hatte sie neben das Kopfkissen gelegt und war danach aufs Bett geklettert und hatte ein großes Stofftransparent mit der Aufschrift NIRVANA an die Wand gehängt. Per öffnete das Fenster, und tatsächlich drang ein zartes Zwitschern ins Zimmer. Aber es wurde immer wieder vom Motorenlärm vieler fahrender Autos übertönt und würde wahrscheinlich bald verstummen. Schließlich war bereits Abend, und der Parkplatz, auf dem die Krankenschwestern und Ärzte ihre glänzenden Wagen abstellten, leerte sich zusehends. Pers brauner Saab stand ebenfalls dort unten, aber der war schon neun Jahre alt und glänzte nicht mehr. »Woran denkst du gerade?«, fragte Nilla. Per wandte sich ihr zu. »Rate mal.« »Du denkst an den Frühling.« »Stimmt genau!«, sagte Per, obwohl er lediglich über sein altes Auto nachgedacht hatte. »Du wirst immer besser im Gedankenlesen. « Denn das war das neueste Projekt seiner Tochter. Zuvor hatte sie sich mehrere Monate damit beschäftigt, mit links so gut schreiben zu können wie mit rechts. Aber in den Weihnachtsferien hatte sie eine Fernsehsendung über Telepathie gesehen, und seitdem experimentierte sie mit ihrem Zwillingsbruder Jesper und ihrem Vater. Dabei ging es darum, sowohl ihnen Gedanken zu schicken als auch ihre Gedanken zu lesen. Per hatte den Auftrag erhalten, Nilla jeden Abend um acht Uhr einen besonderen Gedanken zu schicken. Er blieb am Fenster stehen und sah zu, wie sich die untergehende Sonne in den Scheiben der Autos spiegelte. Der Frühling war gekommen, trotz der anhaltenden Kälte, aber Per hatte sich noch keine Zeit genommen, es wahrzunehmen. Die Zugvögel waren vom Mittelmeer zurückgekehrt, und die Bauern hatten bereits begonnen, die Felder zu säen. Per musste an seinen Vater denken, der sich immer nach dem Frühling gesehnt hatte, vor allem weil seine Arbeit dann so richtig in die Gänge kam. Für die meisten Menschen war der Frühling die Zeit der Jugend, oder etwa nicht? Die Zeit der Jugend und der Liebe. Per hatte noch nie Frühlingsgefühle gehabt. Noch nicht einmal, als er Marika vor fünfzehn Jahren auf einem Marketingseminar kennengelernt und kurz darauf an einem sonnigen Tag im Mai geheiratet hatte. Als hätte er damals schon geahnt, dass sie ihn eines Tages verlassen würde, früher oder später. »Hat Mama gesagt, wann sie kommen wollte?«, fragte er über die Schulter. »Hm«, antwortete Nilla. »Zwischen sechs und sieben.« Per warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor fünf. »Möchtest du, dass Jesper und ich hier bei dir auf sie warten?« Nilla schüttelte den Kopf. »Ich komm schon klar.« Die Antwort hatte Per sich erhofft. Er hatte nichts dagegen, Marika zu begegnen. Aber da sie extra nach Kalmar kam, nur um ihre Tochter zu besuchen, war es gut möglich, dass ihr neuer Mann sie begleiten würde. Georg, mit dem dicken Konto und den teuren Geschenken. Per war schon längst über die Trennung von Marika hinweg, aber er hatte Probleme, den Mann zu treffen, der sowohl sie als auch die Zwillinge vollkommen verhätschelte und verzog. Nilla hatte ein Einzelzimmer zugewiesen bekommen und schien bestens versorgt zu sein. Ein junger Arzt war vor einer halben Stunde vorbeigekommen und hatte ihnen genauestens erklärt, welche Proben und Tests sie in den nächsten Tagen und in welcher Reihenfolge vornehmen wollten. Nilla hatte ihm mit gesenktem Kopf zugehört, ohne eine einzige Frage zu stellen. Zwischendurch hatte sie den Arzt angesehen, aber Per keines Blickes gewürdigt. »Wir sehen uns später, Nilla«, hatte sich der Arzt verabschiedet. Vor seiner Tochter lagen zwei anstrengende Tage mit langwierigen Untersuchungen, aber Per wollte einfach nichts Aufmunterndes einfallen. Nilla packte unbeirrt ihre Sachen aus, und Per half ihr dabei. Es war unmöglich, ein Krankenhauszimmer gemütlich zu machen, der Raum war zu kalt und voller Schläuche und Alarmknöpfe, aber sie gaben ihr Bestes. Abgesehen von ihrem rosa Kopfkissen hatte Nilla ihren CD-Player, Nirvana-CDs, ein paar Bücher und mehr Hosen und Pullover mitgenommen, als sie eigentlich benötigen würde. Sie trug Jeans und einen schwarzen Pullover, aber schon bald würde die Schwester die typische Krankenhauskleidung vorbeibringen: ein weißes Nachthemd, das sich bei den Untersuchungen leicht öffnen ließ. »So«, sagte Per. »Dann fahren wir jetzt mal los, aber Mama kommt ja auch bald ... Soll ich Jesper holen?« »Ja, mach das.« Sein Sohn hockte auf dem Sofa im Wartezimmer. In einem Regal an der Wand lagen Comics und Bücher, aber Jesper saß über seinen Gameboy gebeugt, wie immer. »Jesper?«, rief ihn Per mit lauter Stimme. »Was is?« »Nilla möchte sich von dir verabschieden.« Jesper drückte auf die Pausetaste. Er ging ohne seinen Vater in das Zimmer seiner Zwillingsschwester und schloss die Tür hinter sich. Per fragte sich, worüber die beiden wohl sprachen. Fiel es Jesper leichter, mit Nilla zu reden, als mit ihm? Ob sie über ihre Krankheit sprachen? Mit seinem Vater wechselte er selten ein Wort. Als sie noch klein waren, nur wenige Jahre alt, hatten die Zwillinge eine Geheimsprache entwickelt, die nur sie verstanden. Es war ein Singsang, der hauptsächlich aus Vokalen zu bestehen schien. Besonders Nilla hatte sich schwergetan, Schwedisch zu lernen, sie zog lange die Geheimsprache vor. Bis Per und Marika eine Logopädin gefunden hatten, die ihnen wirklich helfen konnte, hatten sie sich mitunter wie Eltern von zwei Außerirdischen gefühlt. Eine Tür am Ende des Gangs öffnete sich. Der junge Arzt von vorhin kam mit großen Schritten heraus. Per ging auf ihn zu. Er hatte schon immer eine Schwäche für diese Berufsgruppe - weil ihm seine Mutter nie erzählen wollte, welchem Beruf sein Vater nachging, hatte sich Per ausgedacht, dass Jerry als Arzt in einem fremden Land arbeitete. Viele Jahre hatte er das dann geglaubt. »Ich habe eine Frage«, sagte er. »Es geht um Nilla, meine Tochter.« Der Arzt blieb stehen. »Ja, was kann ich für Sie tun?« »Sie sieht so verquollen aus«, sagte Per. »Ist das normal?« »Verquollen, wo denn?« »Im Gesicht, an den Wangen und um die Augen. Das wurde auf dem Weg ins Krankenhaus immer deutlicher. Hat das etwas zu bedeuten?« »Unter Umständen«, erwiderte der Arzt. »Wir werden sie sehr sorgfältig untersuchen. EKG, Ultraschall, CT, Röntgen, großes Blutbild ... das ganze Programm.« Per nickte, aber Nilla war schon so oft wegen ihrer sonderbaren Beschwerden untersucht worden. Die Testergebnisse schienen nur immer neue Untersuchungen nach sich zu ziehen. Und immer mussten sie abwarten. Die Tür zu Nillas Zimmer öffnete sich, und Jesper kam heraus. Er wollte zurück ins Wartezimmer gehen, aber Per hielt ihn auf. »Fang kein neues Spiel an, Jesper«, sagte er. »Wir fahren jetzt rüber zum Sommerhaus.« Als sie etwa eine Viertelstunde später die Ölandbrücke verließen und nach Norden abbogen, empfing sie eine Landschaft in gelbbraunen Farben, die Natur im Übergang vom Winter zum Frühling. Die Abendsonne beschien die Straßengräben, in denen gelbe Windröschen und Huflattich blühten. Und direkt dahinter lagen noch glitzernde Schneewehen auf den Feldern. Der schmelzende Schnee hatte große Seen draußen in der Großen Alvar gebildet. Und von ihnen aus machten sich kleine Frühlingsbächlein auf den Weg zum Meer. Eine Wasserwelt. Kein Mensch hielt sich dort auf, nur Schwärme von Kiebitzen und Buchfinken. Per liebte diese Leere und die geraden Linien auf der Insel, und nachdem der Verkehr hinter Borgholm merklich nachließ, gab er Gas. Der Saab dröhnte in Richtung Norden durch die weite, offene Landschaft, vorbei an Wäldchen und Windmühlen - es war, als würde man durch ein Ölgemälde fahren. Ein Frühlingsbild. Die grünen und braunen Flächen, die enorme Kristallkuppel des Himmels und der Sund im Westen. Der war nach wie vor mit dunkelblauem Eis bedeckt, aber es sah dünn aus, und weiter draußen waren Risse und Spalten zu sehen. Bald würden die Wellen die letzten Schollen davontragen. »Ist das nicht wunderschön?«, sagte Per. Jesper, der auf dem Beifahrersitz saß, sah kurz von seinem Gameboy auf. »Wo denn?« »Hier«, sagte Per. »Hier auf der Insel ... überall.« Jesper warf einen Blick aus dem Fenster und nickte, aber Per entdeckte in den Augen seines Sohnes nicht dieselbe Freude, die er empfand. Er versuchte es sich mit Jespers Jugend zu erklären, dass man als Teenager eben keinen Blick für die Natur und deren Schönheit hat. Vielleicht erforderte es ein bestimmtes Lebensalter oder eine starke Wehmut und Trauer, um sich für die Seele einer Landschaft zu erwärmen. Oder lag es an Jesper? Vielleicht war mit ihm etwas nicht in Ordnung. Wünschte er sich insgeheim, dass Nilla neben ihm säße, fröhlich und erwartungsvoll? Dass Jesper im Krankenhaus untersucht würde? Er schob den Gedanken beiseite. Dachte stattdessen an den Frühling, Frühling auf der Insel. Per war das erste Mal Ende der Fünfzigerjahre auf die Insel gekommen, zusammen mit seiner Mutter Anita. Es war im Sommer 1958 gewesen, zwei Jahre nach ihrer Scheidung, sie hatten zu wenig Geld, um große Reisen unternehmen zu können. Jerry hätte eigentlich Unterhalt zahlen sollen, war dieser Verpflichtung aber nur ab und zu nachgekommen. Anita hatte ihrem Sohn allerdings erzählt, dass Jerry einmal in seinem dicken Auto an ihrem Reihenhaus vorbeigefahren war, ein Geldbündel gegen die Eingangstür geworfen hatte und dann wieder abgezogen war. Der ständige Geldmangel bedeutete für die beiden, dass sie nur kurze und günstige Urlaube machen konnten, am besten in der näheren Umgebung von Kalmar. Glücklicherweise lebte Anitas Cousin Ernst Adolfsson allein in einem kleinen Häuschen auf Öland, und Per und sie waren in den Ferien immer willkommen. Sie setzten mit der Fähre über und durften so lange bleiben, wie sie wollten. Per hatte es geliebt, in dem stillgelegten Steinbruch unterhalb von Ernsts Haus zu spielen. Für einen neunjährigen Jungen war das ein Paradies voller Geschichten und Abenteuer. Ernst hatte weder eigene Kinder noch Geschwister gehabt, und als er vor ein paar Jahren starb, hatte das Kind seiner Cousine das Häuschen geerbt. Im vergangenen Sommer hatte Per alles geputzt und instand gesetzt und hatte nun vor, den Sommer über dort zu wohnen. Vielleicht sogar das ganze Jahr. Weil das Geld auch bei ihm zu knapp war, um zwei Unterkünfte zu finanzieren, hatte er seine Wohnung in Kalmar bis Ende September untervermietet. Seine beiden Kinder sollten ihn in den Sommerferien so oft besuchen kommen, wie sie wollten. So hatte Pers Plan zumindest ausgesehen. Aber Nilla hatte ihr Schuljahr in der siebten Klasse als müde und teilnahmslose Schülerin begonnen und war im Laufe des Herbstes immer erschöpfter geworden. Der Schularzt hatte den Zustand mit der Pubertät erklärt, mit Wachstumsschmerzen, aber nach Silvester hatte Nilla zusätzlich über Schmerzen in ihrer linken Seite geklagt. Und die Beschwerden hatten zugenommen, aber kein Arzt fand eine Erklärung. Alle Pläne für den gemeinsamen Sommer waren auf einmal bedroht. »Willst du Mama kurz anrufen, wenn wir da sind?«, fragte Per seinen Sohn. Jesper hob nicht einmal den Kopf. »Weiß nicht.« »Hättest du Lust, runter zum Strand zu gehen?« »Weiß nicht«, wiederholte Jesper. Er war so weit entfernt wie ein Satellit auf seiner Umlaufbahn - aber wahrscheinlich war man heutzutage so mit dreizehn. Als Per in diesem Alter war, war sein größter Wunsch, dass ihn sein Vater einmal besuchen kommen würde. Plötzlich tauchte am Straßenrand ein Schild mit einer Tanksäule auf, und Per bremste. »Hast du Lust auf ein Eis? Oder ist das noch zu früh, jetzt im Frühling?« Jesper sah das erste Mal von seinem Gameboy auf. »Lieber Süßigkeiten.« »Wir werden sehen, was sie dahaben«, erwiderte Per und bog auf den Parkplatz ein. Sie stiegen aus. Trotz der Sonne war es eiskalt, dabei hatte Per gedacht, dass es um diese Jahreszeit schon wesentlich wärmer auf der Insel wäre. Aber offensichtlich schien das Eis draußen im Sund die Luft noch beträchtlich abzukühlen. Der Wind pfiff durch seine grüne Daunenjacke, und er bekam Sand in den Mund. Es knirschte zwischen den Zähnen. Jesper blieb am Auto, während Per mit schnellen Schritten an den Tanksäulen vorbeilief und im Windschatten am Kiosk Schutz suchte. Das Fenster hinter der Scheibe war dunkel, dennoch klopfte er einige Male fest gegen das Glas, bis er einen sonnenverblichenen Zettel entdeckte, der an der Tür klebte: Haben Sie vielen Dank für einen schönen Sommer - Ab dem 1. Juni sind wir wieder für Sie da! April war eindeutig noch zu früh - die Insel war noch nicht wieder aus ihrem Winterschlaf erwacht, und deshalb gab es für ganzjährig geöffnete Geschäfte wohl eine zu geringe Nachfrage. Er hatte sich fünfzehn Jahre lang mit Marktforschung beschäftigt und konnte das gut nachvollziehen. Als er sich umdrehte, lehnte Jesper nicht mehr am Wagen, sondern hatte sich auf eine Holzkiste mit der Aufschrift STREUSAND gesetzt. Er hatte ein neues Spiel begonnen. Per ging auf ihn zu. In der Ferne hörte er das dunkle Donnern von Motorengeräuschen. Ein weißer Fernlaster näherte sich mit hoher Geschwindigkeit von Norden. Per zog die Autoschlüssel aus seiner Hosentasche und rief Jesper zu: »Keine Süßigkeiten, es tut mir leid. Die haben noch geschlossen.« Jesper antwortete nur mit einem Nicken, und Per fuhr fort: »Es gibt ja noch mehrere Tankstellen auf dem Weg nach Norden. Lass uns weiterfahren, wir finden ...« Ein dumpfer Aufprall auf der Straße schnitt ihm das Wort ab, gefolgt von quietschenden Bremsen. Dann sah er gleißendes Sonnenlicht, das in einem Autofenster reflektiert wurde. Es war ein Audi, dessen Fahrer die Kontrolle über den Wagen verloren hatte und quer über die Fahrbahn schlitterte, direkt auf den Fernlaster zu. Per stand wie versteinert da und beobachtete die Szenerie. Der Wagen musste mit etwas zusammengeprallt sein, erkannte er, Motorhaube und Windschutzscheibe waren mit Blut verschmiert. Wessen Blut war das? Der Laster hupte anhaltend. Durch die verschmutzte Windschutzscheibe des Pkws war der Fahrer zu erkennen, der gekrümmt hinter dem Steuer saß und sich bemühte, den Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Als die Hupgeräusche des Lasters verstummten, war Per wieder in der Lage, sich zu bewegen. Der Lkw war auf den Standstreifen ausgewichen. Per beobachtete, wie der Audi für einen kurzen Augenblick aus der Spur geriet und dann herumgerissen wurde. Die Fahrzeuge rutschten haarscharf aneinander vorbei, denn der Audi war ins Schleudern geraten und rutschte auf den Tankstellenparkplatz. Die Reifen blockierten, und das Auto schlitterte mit großer Geschwindigkeit über den Asphalt. Direkt auf die Kiste mit dem Streusand zu. »Jesper!«, schrie Per. Sein Sohn saß regungslos auf der Box. Nur seine Daumen bewegten sich auf dem Gameboy. Per fing an zu rennen, stolperte über den Asphalt. »Jesper!« Jetzt endlich hob er den Kopf. Und drehte sich mit geöffnetem Mund und fragendem Blick zu seinem Vater um. Der Audi rutschte ungebremst auf ihn zu, die Reifen schleuderten Kies und Sand durch die Luft.   4 Vendela Larsson hatte auf dem Beifahrersitz neben Max gesessen und meditiert, als der Unfall geschah. Mit gesenktem Blick war sie in ihren Gedanken versunken und hatte die vorbeirauschenden Felder, Wiesen und Steinmauern nur wie in einem Film registriert, der außerhalb der Fensterscheibe gezeigt wurde. Eine vertraute und doch so fremde Landschaft. Max war während der Bauphase im Herbst und Winter hin und wieder auf der Insel gewesen, aber für sie war es seit vielen Jahren das erste Mal. Wie viele Jahre war sie nun nicht mehr hier gewesen? Dreißig oder fünfunddreißig? Während sie so dasaß und rechnete, spürte sie den harten Aufprall gegen den Kühlergrill. »Verdammte Scheiße!«, schrie Max. Vendela war sofort hellwach. Ein kurzes, klatschendes Geräusch war zu hören, dann war die Windschutzscheibe in Rot getaucht. Das Auto fuhr nicht mehr geradeaus. Es schlingerte und schleuderte hin und her, beschrieb Slalomkurven mit quietschenden Reifen - erst nach links, direkt auf einen riesigen Laster zu, der ihnen wütend entgegenbrüllte, dann plötzlich schlitterte es in eine breite Ausfahrt nach rechts. Dort stand eine Tankstelle mit einem kleinen Kiosk auf einem verwaisten Parkplatz. Nein, nicht vollkommen verwaist. Ein einziger Wagen befand sich auf dem Parkplatz, und sie sah auch schemenhaft Leute. Ein großer Mann, der über den Asphalt rannte, und ein Junge auf einer Holzkiste. »Verdammt!«, schrie Max erneut. Vendela hörte ihren Hund Ally bellen. Sie öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus. Sie war nur ein Körper, eine Hülle, die den Bewegungen des Autos folgte, ohne etwas anderes tun zu können. Max riss das Steuer herum. Es knallte, splitterndes Holz war zu hören, dann endlich blieb der Wagen abrupt stehen. Vendela wurde nach vorne geschleudert, aber der Gurt hielt sie. Der Motor blubberte noch ein paar Mal und erstarb dann. »Zum Teufel ...!«, stöhnte Max. Regungslos starrte er aus der verschmierten Windschutzscheibe, seine Hände hielten noch immer mit weißen Knöcheln das Lenkrad fest umklammert. Der Audi war frontal mit der Holzkiste mit Streusand kollidiert und hatte sie zerstört. Der Junge, der auf der Kiste gesessen hatte, war nirgendwo zu sehen. Wo war er? Vendela löste ihren Sicherheitsgurt und beugte sich vor, drückte die Stirn gegen die Scheibe. Sie sah eine kleine Hand, die rechts unter dem Wagen hervorschaute. Der Junge schien neben der Kiste zu liegen, die Beine unter dem Wagen. Der große Mann hatte ihn mit wenigen Schritten erreicht, stützte sich mit der Hand auf der Motorhaube des Audis ab und beugte sich zu dem Jungen. Max fingerte mit der Hand am Türgriff und stieß die Fahrertür auf. Dunkelrot im Gesicht stürzte er hinaus. »Fassen Sie meinen Wagen nicht an!« Das muss der Schock sein, sagte sich Vendela. Max stand unter Stress und wusste nicht, was er tat. Mit erhobenen Händen sprang er auf den anderen Mann zu. Zwei Sekunden später lag er wenige Meter vom Wagen entfernt mit dem Gesicht auf dem Boden. Der Mann hatte ihn niedergestreckt und gepackt. »Beruhigen Sie sich«, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen. Er beugte sich über Max und hatte die Faust erhoben, offenbar bereit, Max auf den Hinterkopf zu schlagen. Sein Herz. Jetzt riss Vendela am Türgriff, stieg, so schnell sie konnte, aus und schrie das Erste, was ihr in den Sinn kam, in den eisigen Wind: »Nicht! Er hat einen Herzfehler!« Der Mann sah zu ihr hoch, sein Gesicht war wutverzerrt. Aber plötzlich erlosch der Zorn in seinem Blick. Er schnaufte, ließ die Schultern hängen und beugte sich zu Max hinunter. »Haben Sie sich wieder unter Kontrolle?«, fragte er ihn mit leiser Stimme. Max antwortete nicht. Er wehrte sich mit aller Kraft gegen den Griff, aber schließlich gab er auf und schien sich zu entspannen. »Ja, alles okay«, sagte er nur. Vendela war regungslos neben dem Wagen stehen geblieben. Sie sah, wie der Mann Max losließ und sich aufrichtete. Vorsichtig hob er den Jungen an und zog ihn vom Auto weg. »Geht es dir gut, Jesper?« Der Junge sagte etwas, aber er war zu leise, als dass Vendela ihn hätte verstehen können. Doch, Gott sei Dank schien er unverletzt zu sein. »Kannst du deine Zehen bewegen?«, fragte der Mann. »Ja.« Der Junge rappelte sich langsam hoch und versuchte aufzustehen. Der Mann half ihm dabei und führte ihn zu dem geparkten Wagen. Sie sahen sich nicht um, und Vendela hatte das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Max stützte sich am Kühlergrill des Audis ab und kam langsam auf die Füße. Er blinzelte ins Licht und sah Vendela am Wagen stehen. »Setz dich wieder rein«, befahl er. »Ich kümmere mich um das hier.« »Okay.« Vendela holte tief Luft und setzte sich ins Auto. Sie beobachtete, wie das Blut die Windschutzscheibe herunterlief, und fand eigentlich, dass es ganz schön aussah. Nein, sie musste feststellen, dass es schön war. Das Blut war von den Scheibenwischern verteilt worden und hatte schwingende Linien auf das Glas gezeichnet. Es sah aus wie zwei Regenbogen in Hellrosa und Dunkelrot, die im Sonnenlicht leuchteten. Eine leichte Brise ließ ein paar Vogelfedern hin und her tanzen und auf der Scheibe festkleben. Hellgrau und braun waren sie. Vielleicht war ein Fasan gegen den Wagen geflogen oder eine Taube. Was es auch gewesen sein mochte, es war vollkommen unerwartet mit flatternden Schwingen vor das Auto geflogen und bei der Kollision in Stücke gerissen worden. Der Körper war gegen den Kühler geprallt, dann in einer blutroten Explosion auf die Windschutzscheibe geschleudert worden und war schließlich übers Dach geflogen. Das Tier hatte deutliche Spuren hinterlassen. Da ertönte ein leises Wimmern aus dem Fußraum vor ihrem Sitz. »Halt's Maul, Ally!«, schrie Max. Vendela musste schlucken. Es war anstrengend genug, dass Max sie anschnauzte, aber für sie war es schlimmer, wenn er den Hund anbrüllte. »Es ist alles in Ordnung, Aloysius«, sagte sie mit warmer, leiser Stimme. Sie öffnete die Tür. »Max, geht es dir gut?« Er nickte. »Ich muss das nur sauber machen«, sagte er. Er war außer Atem und ganz rot im Gesicht, aber das lag bestimmt an der Aufregung. Letzten Sommer, in Göteborg, hatte Max während eines Vortrags über sein aktuelles Buch Maximales Selbstvertrauen plötzlich Schmerzen in der Brust gespürt. Er hatte abbrechen müssen, und Vendela hatte Panik in seiner Stimme gehört, als er sie anrief. Mit dem Taxi war er sofort in die Notaufnahme gefahren worden, hatte Sauerstoff bekommen und war gründlich untersucht worden. Ein leichter Herzinfarkt, lautete die Diagnose, mit Betonung auf leicht. Es war keine Operation notwendig - nur ausgiebige Ruhe. Und Max hatte den Herbst genutzt, um sich zu erholen, so gut es ging, wenn er nicht gerade die Bauarbeiten auf Öland überwachte oder an seinem neuen Buchkonzept arbeitete. Es würde ein ganz anderes Buch werde als die bisherigen, weniger Psychologie und mehr über gesunden Lebenswandel und vernünftige Ernährung. Ein Kochbuch von Max Larsson. Vendela hatte ihm ihre Unterstützung zugesagt. Im Handschuhfach lagen eine Packung Servietten und eine Flasche Mineralwasser. Sie nahm ein paar Schlucke, ehe sie das Fenster herunterkurbelte. »Hier, Max.« Er nahm ihr schweigend die Flasche aus der Hand, trank aber nicht, sondern goss den Inhalt der Flasche über die Scheibe, damit sich Blut und Federn lösten und in roten Bahnen hinunterliefen. Mit zusammengepressten Lippen beugte er sich über die Motorhaube und wischte. Vendela wollte versuchen, den toten Vogel zu vergessen, und sah aus dem sauberen Seitenfenster hinaus auf die Große Alvar. Eine flache Welt aus Gras, Büschen und Steinen. Sie sehnte sich so sehr danach. Wenn sich Max nach diesem Unfall wieder beruhigt haben würde, würde sie vielleicht schon heute Abend ihre erste Runde drehen können. Vendelas Familie stammte von der Insel, sie war auf einem Bauernhof außerhalb von Stenvik aufgewachsen. Das war auch der Grund, warum sie Max überredet hatte, ausgerechnet dort ein freies Baugrundstück zu kaufen. Ihr Mann hatte zwar ausdrücklich und mehrfach angemerkt, dass er eine Sommerresidenz in unmittelbarer Nähe zu Stockholm bevorzugen würde. Aber als Vendela ihm die Lage von Stenvik an der Küste gezeigt und ihm die Planungshoheit dafür übertragen hatte, welche Art Haus sie am Rand vom Steinbruch bauen wollten, da hatte er eingelenkt und schließlich zugestimmt. Und nun hatten sie eine traumhafte Architektenvilla am Meer. Ein Märchenschloss aus Stein und Glas. Aloysius drehte sich im Fußraum um die eigene Achse und versuchte, mit seinem steifen Bein eine komfortable Liegeposition zu finden. Seine Aufgeregtheit war irgendwie ansteckend und bereitete Vendela großes Unbehagen. »Leg dich hin, Ally ... wir fahren ja gleich weiter.« Der grauweiße Pudel hörte auf zu jaulen, wimmerte aber noch leise und drückte sich gegen ihr Bein. Seine großen Augen starrten sie an, milchig und undeutlich. Aloysius war dreizehn Jahre alt, mehr als hundert Hundejahre also. Sein rechtes Vorderbein war steif, und sein Sehvermögen hatte sich in den letzten Jahren erheblich verschlechtert. Ihr Tierarzt in Stockholm hatte ihnen schon offenbart, dass Ally bald nur noch hell und dunkel werde unterscheiden können und in weniger als einem Jahr wahrscheinlich vollkommen blind sein würde. Vendela hatte ihn ungläubig angestarrt. »Und es gibt nichts, was wir dagegen tun können?« »Doch ... selbstverständlich, diese Option haben wir bei so alten Hunden natürlich immer. Und es ist vollkommen schmerzfrei.« Als aber der Tierarzt erzählte, wie die Prozedur des Einschläferns vollzogen wurde, hatte Vendela Ally geschnappt und war aus der Praxis geflohen. Über zwanzig Servietten benötigte Max, um das Auto einigermaßen sauber zu bekommen. Er goss das Wasser über die Motorhaube, trocknete es mit einer Serviette ab und warf diese dann hinter sich in den Straßengraben, eine nach der anderen. Vendela beobachtete, wie die blutgetränkten Servietten durch die Luft flogen und im Graben landeten. Sie würden wahrscheinlich den ganzen Frühling und Sommer über wie trockenes Laub dort liegen bleiben, und die Inselbewohner würden zu Recht über die Touristen schimpfen, die überall Müll hinwarfen. Und auch die Bewohner der Großen Alvar würden den Müll sehen. Max warf die letzte Serviette weg und bückte sich - er schien ganz sichergehen zu wollen, dass auch kein einziger Blutfleck auf seine Jeans und die mokkafarbene Jacke geraten war. Dann stieg er wieder ein, ohne Vendela anzusehen. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er nur, nachdem er sich angeschnallt hatte. Sie nickte als Antwort und dachte: Natürlich. Einige Tage sind nur verrückter als andere. Sie sah hinüber zu dem Wagen, in dem der Mann und der Junge saßen. »Willst du nicht mit ihnen reden?« »Warum sollte ich?«, erwiderte Max und startete den Motor. »Ist doch niemand zu Schaden gekommen.« Außer dem Vogel, dachte Vendela. Es knirschte, als Max rückwärts aus der Verkeilung mit der Holzkiste fuhr. Sie hatte einen großen Riss davongetragen, Vendela konnte einen dünnen Sandstrahl sehen, der auf den Asphalt quoll. Die Front des Audis hatte bestimmt auch etwas abbekommen. Endlich hörte Aloysius auf zu wimmern und legte sich auf den Boden. »Alles klar!«, sagte Max und schüttelte den Kopf, als wollte er das Geschehene verjagen. »Jetzt müssen wir aber Gummi geben.« Er legte den ersten Gang ein und betätigte den Scheibenwischer. Dann drückte er das Gaspedal herunter und verließ den Parkplatz. Vendela sah nach hinten, um nach dem zerfetzten Vogelkörper am Wegesrand Ausschau zu halten. Aber es war nichts zu entdecken, wahrscheinlich lag er im Graben. »Ich würde gerne wissen, was es für ein Vogel war«, sagte sie. »Hast du es gesehen, Max? Ich habe keine Ahnung, ob es ein Fasan oder ein Birkhahn oder ...« Er schüttelte erneut den Kopf. »Vergiss es jetzt einfach.« »Aber es war doch kein Kranich, oder, Max?« »Ich sagte doch, du sollst diesen Vogel vergessen, Vendela. Konzentriere dich auf unser Haus.« Die Straße war leer, und er gab Vollgas. Vendela wusste, dass er nun schnell ankommen wollte, um gleich an seinem Buch weiterarbeiten zu können. Anfang nächster Woche sollte ein Fotograf kommen und Aufnahmen von ihm in seiner neuen Küche machen. Das Essen würde selbstverständlich Vendela kochen und anrichten. Der Audi gewann rasch an Geschwindigkeit. Bald fuhren sie wieder so schnell wie zuvor, als hätten weder der Unfall noch die Auseinandersetzung jemals stattgefunden. Nur Aloysius, der sich an Vendelas Bein presste, hörte nicht auf zu zittern. Genau genommen zitterte er immer, wenn Max in der Nähe war. Wäre er jünger und gesünder, könnte ihn Vendela mit auf ihre Tour über die Große Alvar nehmen. Aber er musste zu Hause bleiben. Max hielt auch nicht viel von Spaziergängen oder Joggingtouren. Vendela würde ganz alleine in die Natur gehen dürfen. Allerdings würde sie nicht völlig allein sein. Dort lebten ja die Elfen. 5 Geht es dir gut?«, fragte Per zum sechsten oder siebten Mal. Jesper nickte. »Nichts gebrochen?« »Nee.« Sie waren wieder in den Wagen gestiegen. Etwa zehn Meter von ihnen entfernt setzte der Audi von der zersplitterten Holzkiste zurück. Per konnte sehen, dass der Frontspoiler eingerissen und der rechte Scheinwerfer zerplatzt war. Der Audi wendete und bog auf die Landstraße ein. Der Fahrer starrte stur geradeaus, aber die Frau auf dem Beifahrersitz sah zu Per hinüber. Ihre Blicke trafen sich für ein paar Sekunden, ehe sie sich abwandte. Sie hatte ein schmales, angestrengtes Gesicht und erinnerte ihn an jemanden. Regina? Dann blickte er wieder seinen Sohn an, den er umarmt hielt. Jesper wirkte entspannt, aber seine Nackenmuskeln zitterten. »Hast du irgendwo Schmerzen?« »Nur blaue Flecken«, sagte Jesper und schenkte Per ein kleines Lächeln. »Ich habe versucht wegzuspringen, aber die Reifen sind ganz schön nah dran gewesen.« »Allerdings, das war so was von tierisch nah ... Was für ein Glück, dass du so schnell reagiert hast.« Pers Lächeln war ein wenig verkrampft, als er die Schultern seines Sohnes losließ. Er legte die Hände ans Steuer und atmete tief ein und aus. Die Wut war verflogen, aber vor wenigen Minuten noch hatte er einen Mann niedergeschlagen und war bereit gewesen, ihn zu verprügeln. Er hätte auf jeden einschlagen können, wenn er ehrlich war. Als würde davon irgendetwas besser. Ein anderer Gedanke aber ging ihm auch durch den Kopf. Jesper hatte ihn seit langer Zeit mal wieder angelächelt. Ein Frühlingszeichen? Er verfolgte den Audi mit den Augen, wie dieser immer mehr an Geschwindigkeit zunahm und nach Norden verschwand. Der große Wagen weckte in Per die Erinnerung an die unzählig vielen Superschlitten, die sein Vater aus den USA importiert hatte. Mitte der Siebzigerjahre hatte er sich einen Cadillac gekauft und fast jedes Jahr ein neues Modell erstanden. Die Leute hatten sich nach ihm umgedreht, und das hatte er geliebt. »Wie hast du das vorhin gemacht mit dem Typen?«, fragte Jesper. »Wie bitte?« »Na, dieser Judowurf.« Per schüttelte den Kopf und drehte den Zündschlüssel um. Er hatte weniger als zwei Jahre Judo trainiert und es auch nur bis zum orangefarbenen Gurt geschafft, dennoch schien Jesper beeindruckt zu sein. »Das war gar kein Judo ... Ich habe ihn einfach umgehauen, ich habe ihm ein Bein gestellt«, erwiderte er. »Das hättest du auch gekonnt, wenn du weiter zum Training gegangen wärst.« Jesper schwieg. »Du gehst doch auch nicht mehr zum Training«, gab er nach einer Weile zurück. »Ich habe keinen Partner zum Trainieren«, sagte Per und verließ den Parkplatz. »Ich habe mir überlegt, stattdessen joggen zu gehen.« Sein Blick wanderte über die platte Landschaft rechts und links neben der Straße. Das Gelände sah unbelebt aus, aber oft war ja die meiste Bewegung unter der Oberfläche. »Wo willst du denn hier joggen gehen?«, sagte Jesper. »Egal, überall.« 6 Bitte verbrenne sie, Gerlof«, hatte Ella Davidsson gesagt, als sie bis aufs Skelett abgemagert im Krankenhausbett lag. Versprich mir, dass du sie verbrennen wirst. Und er hatte genickt. Aber die Tagebücher seiner verstorbenen Frau existierten nach wie vor, und an diesem frühlingsmilden Freitag hatte er sie wiedergefunden. Eine Woche vor Ostern war die Sonne nach Öland zurückgekehrt. Jetzt fehlte nur noch die Wärme, und Gerlof würde den ganzen Tag im Garten verbringen können: ausruhen, nachdenken und Buddelschiffe bauen. Dünne grüne Grashalme zeigten sich bereits zwischen dem braunen Laub. Aber der Rasen würde vor Mai nicht gemäht werden müssen. Der Sonnenschein würde die Schmetterlinge herbeilocken. Für Gerlof waren das die wichtigsten Frühlingszeichen. Schon als kleiner Junge hatte er ungeduldig auf das erste Exemplar des Jahres gewartet, war neugierig gewesen, welche Farbe er wohl hatte. Mit vierundachtzig war es zwar ungleich schwerer, von so starken Gefühlen erfüllt zu werden, wie als junger Mensch, aber dennoch erwartete Gerlof den ersten Schmetterling mit Vorfreude. Nach dem Umzug hatte nun der Alltag Einzug gehalten. Er war allein und schlenderte durch die kleinen Räume des Sommerhauses, den Stock in der einen Hand, den Kaffeebecher in der anderen. Der Rollstuhl stand im Schlafzimmer und wartete schweigend darauf, dass Sjögren, sein rheumatisches Syndrom, wieder schlimmer wurde. Bis dahin konnte er die Steintreppe ohne Probleme meistern. In der vergangenen Woche waren seine Möbel gekommen - die wenigen Stücke, die er aus seinem Zimmer im Altersheim mitnehmen wollte - und die vielen Erinnerungsstücke aus seiner Zeit zur See. Buddelschiffe, Seekarten, Namensschilder einiger Frachter, die er gesegelt war, und wunderschöne Knoten aus dunkelbraunem Tauwerk, das noch immer nach Teer duftete. Gerlof war umgeben von Erinnerungen. Und als er den Schrank neben dem Kühlschrank in der Küche öffnete, um dort seine alten Logbücher zu verstauen, da fielen ihm die Tagebücher in die Hände. Zu einem Paket zusammengeschnürt lagen sie in dem Regal hinter Ellas kleiner Schmuckschatulle und ihren alten Jugendbüchern von Karl May und Lucy Maud Montgomery. Jedes der Tagebücher war vorne auf dem Umschlag mit einer Jahreszahl in schwarzer Tinte versehen, und als er die Schnur aufknotete und das erste aufschlug, fiel sein Blick auf die zierliche Handschrift seiner Frau in dicht beschriebenen Zeilen. Das waren Ellas Tagebücher, insgesamt acht Stück. Zuerst zögerte Gerlof ein paar Sekunden. Er musste an das Versprechen denken, das er ihr gegeben hatte. Dann griff er nach dem obersten Buch und ging hinaus in den Garten zu seinem Holzstuhl. Dabei hatte er das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Er hatte sie nur manchmal darin schreiben sehen, und sie hatte ihm auch nie etwas davon gezeigt. Verbrenne sie, Gerlof. Er nahm auf seinem Stuhl Platz, wickelte sich eine Decke um die Beine und legte das Tagebuch auf den kleinen Gartentisch neben sich. Zweiundzwanzig Jahre war es her, dass seine Ella an Leberkrebs gestorben war, im Herbst 1976. Aber wenn er im Garten saß, hatte er sehr oft das Gefühl, dass sie keineswegs von ihm gegangen war, sondern in der Küche stand und Kaffee kochte. Ella hatte zeit ihres Lebens deutlich Grenzen gesetzt. So hatte sie ihrem Mann zum Beispiel nie Zutritt zur Küche gewährt, und selbstverständlich hatte sich Gerlof darüber niemals beschwert. Als dann seine Töchter Anfang der Sechzigerjahre Teenager wurden, hatten sie unzählige Male versucht, ihn zur Mithilfe im Haushalt zu bringen. Aber Gerlof hatte sich immer zurückgehalten. »Das ist jetzt zu spät für mich«, hatte er geantwortet. In der Küche hatte er sich immer unsicher und unbeholfen gefühlt. Er hatte nie gelernt, Essen oder gar die Wäsche zu machen, und konnte nur Geschirr spülen. Heutzutage schienen die schwedischen Männer alles Mögliche im Haushalt zu übernehmen, neue Zeiten waren angebrochen. Gerlof sah sich um. Er hatte ein Flattern zwischen den Wildgräsern vor seinem Grundstück entdeckt. Das war der erste Schmetterling des Jahres. Er kam auf ihn zugeflogen, mit diesen ruckhaften Bewegungen, die typisch waren für alle Frühlingsschmetterlinge, die er im Laufe seines Lebens gesehen hatte. Es wirkte unkoordiniert, ohne Ziel. Es war ein leuchtend gelber Zitronenfalter. Ein schönes Frühlingszeichen. Gerlof lächelte dem Zitronenfalter zu, der sich zaghaft zur Landung auf dem Rasen vor seinen Füßen bereit machte. Doch dann erlosch sein Lächeln, denn er hatte einen zweiten Schmetterling entdeckt. Dieser war dunkel, fast schwarz und hatte graue und weiße Streifen. Er konnte sich nicht genau erinnern, wie diese Sorte hieß. Kleiner Fuchs? Oder vielleicht Trauermantel? Er flog zielgerichteter und erreichte den Rastplatz auf dem Rasen nahezu zeitgleich mit dem Zitronenfalter. Dann umkreisten sie sich eine Weile, wie in einem frühlingshaften Tanz, ehe sie dicht an Gerlof vorbeiflatterten und hinter dem Haus verschwanden. Ein gelber und ein grauschwarzer, was hatte das zu bedeuten? Er hatte den ersten Schmetterling des Jahres nie als ein Zeichen dafür genommen, wie das restliche Jahr wohl werden würde, hoffnungsvoll und hell oder düster und dunkel. Aber dieses Mal war er verunsichert. Es fühlte sich an, als hätte er eine Flagge hissen wollen, und die hätte sich auf halbmast verhakt, bevor sie sich ganz hochziehen ließ. Er hatte gerade das Tagebuch aufgeschlagen, als er das Heulen eines Automotors hinter sich hörte. Ein großer, glänzender Wagen kam die Hauptstraße heruntergefahren und bog in den Kiesweg, der zum Steinbruch führte. Gerlof erhaschte einen kurzen Bick auf den Fahrer und seine Begleitung, beide mittleren Alters. Wahrscheinlich waren das die neuen Nachbarn, die eines der Häuser am Steinbruch gebaut hatten. Sie würden sich sowieso nur in den hellen und warmen Monaten hier aufhalten und waren nicht bereit, in den Wintermonaten zu frieren und die letzten Bäume entlang der Küste zu roden, so wie seine eigene Familie es hatte machen müssen. Gerlof interessierte sich nicht weiter für sie. Er senkte den Kopf und begann, im Tagebuch zu lesen: Heute ist der 7. Mai 1957. Heute Nacht bricht Gerlof zu seiner ersten Reise des Jahres auf, um in Nynäshamn Öl zu laden. Davor war er in Kalmar mit dem Frachter, um sein Leergewicht zu ermitteln, nachdem er seine Deckluken erneuert hatte. Lena und Julia sind mit an Bord. Am Tag schien die Sonne. Ich habe das Sommerhaus gegen sechs Uhr abends erreicht und erst einmal gelüftet. Hatte den Eindruck, es roch ein bisschen nach Schimmel. Aber es war nur ein Glas mit gezuckertem Wacholder, der begonnen hatte zu gären und das Glas in tausend Stücke gesprengt hat. Ich musste erst den Dreck und die blaurote Zuckerschicht abkratzen, die am Boden klebte, hab daher kaum geschafft, mir was zu essen zu kochen (Fleischklöße). Die Kinder und Gerlof kommen übermorgen nach Hause. Gerlof begriff, dass Ella so eine Art Urlaubstagebuch geschrieben hatte. Er wusste, dass sie oft die Zeit mit den beiden Mädchen im Sommerhaus verbracht hatte, wenn er zur See gefahren war. Als die Kinder älter wurden und ihren Vater nach Stockholm begleiten oder lieber in Borgholm bleiben wollten, hatte sie viel Zeit allein im Sommerhaus verbracht. Darum hatte er sie auch kaum beim Schreiben beobachten können. Er las weiter: Heute ist der 15. Mai 1957. Sonne, aber mit einer kühlen Brise aus Nordost. Die Mädchen haben am Nachmittag eine lange Fahrradtour die Küste hinunter unternommen. Während sie fort waren, ist etwas Merkwürdiges passiert. Ich stand draußen auf der Veranda und habe die Geranien gegossen - und habe einen Troll aus dem Steinbruch gesehen. Oder was soll es sonst gewesen sein? Es war auf jeden Fall zweibeinig, bewegte sich aber so schnell, dass ich vollkommen entgeistert war. Wie ein Schatten. Ein Knacken draußen auf der Wiese, ein Rascheln im Gebüsch, dann war es wieder fort. Ich glaube, er hat mich ausgelacht. Wiese hatten Ella und Gerlof den zugewucherten Teil des Gartens genannt, auf dem vor dem Krieg noch Kühe gegrast hatten. Aber was meinte Ella mit »Troll«? Da hörte Gerlof erneut Motorengeräusche hinter den Bäumen. Sie erstarben, und dann knirschte das Gartentor. Hastig versteckte er das Tagebuch unter seiner Decke. Er wusste nicht, warum er das tat. Wahrscheinlich quälte ihn doch das schlechte Gewissen. Ein kleiner, kräftig gebauter Mann um die siebzig stapfte durch den Garten. Das war sein Freund John Hagman in seinem zerschlissenen blauen Overall und mit der hellgrauen Schiffermütze, die er tagein, tagaus trug, Winter wie Sommer. Er war als Steuermann mit Gerlof zur See gefahren; jetzt gehörte ihm der Campingplatz südlich von Stenvik. Mit schweren Schritten kam er auf Gerlof zu und blieb vor ihm stehen. Gerlof winkte ihm lächelnd zu. John erwiderte das Lächeln nicht - fröhlich und zufrieden auszusehen war nicht seine Art. »Alles klar«, hob er an. »Habe gehört, dass du wieder zurück bist.« »Ja. Und du offenbar auch.« John nickte. Er war im Laufe des Winters ein paarmal bei Gerlof im Altersheim gewesen, hatte aber ansonsten in der kleinen Wohnung seines Sohnes in Borgholm gewohnt. Fast beschämt hatte er gestanden, dass es ihm im Winter zu kalt und zu einsam war, so ganz allein in Stenvik. Er würde das nicht mehr aushalten. Gerlof konnte ihn gut verstehen. »Ist sonst noch jemand hier?« John schüttelte den Kopf. »Die Stadt ist seit Neujahr menschenleer. Seit Ende der Woche sind ein paar Gäste da.« »Und Astrid Linder?« »Sie hat schließlich auch aufgegeben und ihr Haus winterfest gemacht ... Ich glaube, sie ist im Januar an die Riviera geflogen.« »Aha!«, sagte Gerlof. Er erinnerte sich, dass Astrid Linder vor ihrer Pensionierung als Ärztin gearbeitet hatte. »Na, sie hat wohl ein paar Kronen auf die hohe Kante gelegt.« Sie schwiegen. Gerlof hielt Ausschau nach den Schmetterlingen, sah aber keine mehr. Er hörte nur das schwache Rauschen des Windes in den Bäumen. Dann sagte er: »Ich glaube, ich bleibe hier nicht mehr so lange, John.« »In Stenvik?« »Nein, ich meine hier«, erwiderte Gerlof und zeigte auf seinen Brustkorb, weil er annahm, dass sich dort die Seele und somit das Leben befand. Es klang gar nicht so dramatisch, wie er erwartet hatte. John nickte nur und fragte: »Bist du krank?« »Nicht mehr als sonst. Aber so müde. Ich müsste etwas Sinnvolles tun, tischlern, das Haus streichen, so wie früher ... stattdessen sitze ich hier nur rum.« John wandte den Kopf ab, als würde ihn das Gespräch anstrengen. »Fang mit etwas Kleinem an«, schlug er vor. »Geh runter ans Wasser und schleif dein Ruderboot.« Gerlof seufzte. »Das hat überall Löcher.« »Das können wir doch reparieren«, widersprach John. »Und in zwei Jahren fängt ein neues Jahrtausend an. Das willst du doch nicht verpassen, oder?« »Ja, vielleicht ... wir werden sehen, was uns die neue Zeit so bringt.« Gerlof wollte das Thema wechseln und nickte zum Gartentor. »Was hältst du von unseren neuen Nachbarn? Auf der anderen Seite?« John schwieg. »Kennst du sie noch nicht?« »Doch, ich habe sie schon mal gesehen. Aber sie waren bisher ja nicht da, ich weiß praktisch nichts über sie.« »Ich auch nicht. Aber neugierig bin ich schon. Du nicht?« »Sie sind reich«, sagte John abfällig. »Reiche Städter vom Festland.« »Hundertprozentig!«, pflichtete ihm Gerlof bei. »Du solltest sie wissen lassen, dass es dich hier im Ort gibt.« »Warum das denn?« »Damit du ein paar Aufträge von ihnen bekommst, bevor die Campingsaison beginnt.« »Stimmt, das wäre was.« Gerlof nickte und lehnte sich ein bisschen vor. »Und lass es dir gut bezahlen!« »Klar doch!«, sagte John und sah dabei fast fröhlich aus.   7   Sie werden also die nächsten Wochen hierbleiben?«, fragte der junge Grundstücksmakler, als er Vendela Larsson die Hausschlüssel und die letzten Dokumente überreichte. »Und die Frühlingssonne genießen?« »Na, das hoffen wir doch«, antwortete Vendela und lachte. Sie lachte oft aus Nervosität, wenn sie sich mit Leuten unter hielt, die sie nicht kannte. Aber diese Angewohnheit würde jetzt verschwinden, hoffte sie zumindest. Einiges sollte sich hier auf der Insel verändern. »Super, sehr gut«, freute sich der Grundstücksmakler. »Damit helfen Sie, die Touristensaison zu verlängern, wie richtige Pioniere ... Sie zeigen den Bewohnern auf dem Festland, dass man den Frieden hier auf Öland länger genießen kann als nur die paar Wochen im Sommer.« Vendela nickte. Den Frieden genießen? Das hing hauptsächlich davon ab, ob es ihr gelang, sich zu entspannen, und ob Max zufrieden war und sein Kochbuch fertigstellen würde. Im Moment stand er in seiner beheizten Garage und brauste seinen Wagen ab. Jeder einzelne Tropfen Blut musste entfernt werden. Max hatte die ganze Zeit kein Wort über das Geschehene verloren, aber die Wut hing wie ein säuerlicher Gestank über ihm. Vendela musste sich allein um den Grundstücksmakler kümmern, und sie musste sich sehr zusammenreißen, um in dem kalten Wind nicht unablässig zu zittern. Es war Abend, die Sonne war im Sund untergegangen und hatte die Wärme mitgenommen. Am liebsten wäre sie zurück ins Haus gegangen. Aber der Makler ließ seinen Blick zu den benachbarten Häusern wandern, die in der Dämmerung noch zu sehen waren, die große Villa im Süden und das kleinere Häuschen wenige Hundert Meter nördlich von ihrem Anwesen. »Das ist eine exzellente Gegend hier«, sagte er begeistert, »ganz exzellent. Man hat Nachbarn, aber in angemessenem Abstand, nicht zu nah und nicht zu weit entfernt. Und kein Grundstück zwischen ihrem und dem Strand ... Sie müssen nur um den Steinbruch herumlaufen, und schon können Sie Ihre morgendliche Schwimmrunde absolvieren.« »Dafür muss erst das Eis schmelzen!«, entgegnete Vendela. »Das ist bestimmt bald so weit«, versicherte der Makler. »Es ist ungewöhnlich, dass die Küste um diese Jahreszeit noch gefroren ist ... aber wir hatten einen harten Winter. In einigen Nächten bis minus fünfzehn Grad.« Neben dem Makler stand ein Arbeiter im Blaumann, der etwa einen Kopf kleiner war. Es war der lokale Bauunternehmer, der Vendela zunickte. »Rufen Sie mich an, wenn etwas nicht in Ordnung ist«, sagte er. Das waren seine ersten und einzigen Worte an diesem Abend. Der Makler und er machten Anstalten zu gehen. »Achten Sie auf gute Nachbarschaft«, lautete der letzte Rat, den ihr der Makler mit auf den Weg gab, als sie sich die Hände zum Abschied schüttelten. »Das ist die goldene Regel für Hausbesitzer.« »Wir haben bisher noch keine Nachbarn kennengelernt«, erwiderte Vendela und lachte erneut ihr nervöses Lachen. Als sie ins Haus zurückkehrte, erhob sich der arme Aloysius mühsam in seinem Korb und begann zu bellen. Er schien sie nicht erkennen zu können - vielleicht hatte auch sein Geruchssinn schon stark gelitten. »Aber ich bin es doch nur, Ally«, beruhigte ihn Vendela und streichelte seinen Kopf. Draußen auf dem windigen Grundstück fühlte sie sich ausgeliefert, aber im Haus konnte ihr niemand etwas anhaben. Sie liebte die glatten Oberflächen der Villa. Alles war so neu, es gab noch keinen Krimskrams und Dreck in den Schränken oder auf dem Dachboden. Kein Keller, der gesäubert und leer geräumt werden musste. Sie erinnerte sich an die Worte des Maklers über gute Nachbarschaft, und plötzlich kam ihr eine Idee: Vielleicht sollten sie und Max ein Nachbarschaftsfest ausrichten, ein Fest für alle Bewohner des Ortes, nächste Woche oder so, damit sie sich kennenlernen konnten? Außerdem wäre das für sie eine gute Gelegenheit zu lernen, sich in größeren Gesellschaften zu bewegen und trotzdem entspannt zu bleiben. Ein Nachbarschaftsfest war eine sehr gute Idee. Obwohl sie eigentlich lieber die Elfen treffen wollte, als die Nachbarn kennenzulernen. Es war einmal vor langer Zeit, da wanderte ein Jäger durch die Große Alvar, hatte ihr Vater ihr als Kind erzählt. Der Jäger wollte Hasen und Fasane jagen, begegnete aber stattdessen der großen Liebe seines Lebens. Sein Leben veränderte sich, und auch er wurde nie wieder der Alte. Sie muss sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, als ihr Vater Henry begonnen hatte, ihr die Sage von den Elfen in der Alvar zu erzählen. Vendela hatte diese Geschichte bis heute nicht vergessen, und jetzt hatte sie sich endlich ein Notizheft gekauft, um sie aufzuschreiben - und alles andere auch, was sie im Laufe der Jahre über Elfen zusammengetragen hatte. Warum sollte man so einen Text nicht auch veröffentlichen können, vielleicht würde er den Lesern sogar gefallen? Wenn die Bücher ihres Mannes über das Besiegen und Gewinnen so erfolgreich waren, konnte sie doch ein Buch über Elfen veröffentlichen und wie man mit ihnen in Kontakt kommt. Sie nahm ihr Notizheft und setzte sich in das lichtdurchflutete Wohnzimmer, das hinaus auf die Veranda oberhalb des Steinbruchs führte. Max war noch immer in der Garage beschäftigt. Sie hatte schon im vergangenen Jahr den Wunsch verspürt, ein eigenes Buch zu schreiben, kurz nachdem sie das Grundstück gekauft hatten. Darum hatte sie sich das Notizheft angeschafft, aber Max nichts davon erzählt. Als er es zufällig entdeckte, hatte sie einfach behauptet, es sei ein Tagebuch. Das war gelogen, sie hatte nichts über sich zu erzählen, aber es hatte funktioniert. Max hatte sie nicht gebeten, es lesen zu dürfen, und sie hatte in aller Ruhe, Seite für Seite die Geschichte über die Elfen schreiben können. Jetzt war die Geschichte von Henry an der Reihe, sie wollte sie niederschreiben, so wie sie in ihrer Erinnerung geblieben war: Der Jäger ging weit hinaus in die Alvar, aber an diesem Tag bekam er weder Vögel noch Kleinwild zu Gesicht. Alles, was er am Horizont sah, war ein großer, schlanker Rothirsch. Das Tier schien zu warten, bis sich der Jäger näherte, um sich dann abzuwenden und davonzuspringen. Der Jäger folgte ihm mit erhobenem Gewehr. Mehrere Stunden dauerte die Pirsch, aber der Jäger kam seiner Beute keinen Meter näher. Die Sonne ging unter, und die Abenddämmerung brach an. Vorsichtig näherte sich der Jäger dem Hirsch. Er legte sein Gewehr an. Da stand der Jäger plötzlich in gleißendem Sonnenlicht mitten in der Alvar auf grünem Gras, und kleine Bäche plätscherten zu seinen Füßen. Der Hirsch war verschwunden, stattdessen kam eine wunderschöne große Frau in weißen Gewändern auf ihn zu. Die Frau lächelte ihn an und erzählte ihm, dass sie die Königin der Elfen sei und ihn schon viele Male auf der Jagd beobachtet habe. Sie hätte sich in ihn verliebt und ihn daher in ihr Reich gelockt. Vendela sah von ihrem Heft auf, ihr Blick wanderte aus dem Fenster hinunter zum breiten Sund. Im Dunkeln sah das Eis grau und schmutzig aus. Wenn sie sich gegen die Fensterscheibe presste, konnte sie das Nachbarhäuschen sehen, und da fiel ihr der Gedanke mit dem Fest wieder ein. Ja, die Idee würde sie in die Tat umsetzen. Sie lehnte sich wieder zurück und fuhr fort: Als der Jäger die Königin der Elfen vor sich stehen sah, ließ er das Gewehr sinken und fiel vor ihr auf die Knie. Die Königin holte einen Silberbecher hervor, bückte sich und schöpfte Wasser aus einem der plätschernden Bächlein. Sie füllte den Becher bis zum Rand, erhob sich und bot dem Jäger zu trinken an. Es schmeckte nach süßem Weißwein. Der Jäger fühlte sich frei und glücklich und wollte nicht in die Welt der Menschen zurückkehren. Deshalb blieb er die ganze Nacht bei der Königin und schlief in ihren Armen ein. Als die Sonne aufging, erwachte der Jäger, aber er war zurück in seinem Häuschen am Rand der Alvar und lag in seinem Bett. Die schöne Königin war verschwunden. Und obwohl er sein Leben lang auf der Alvar nach dem Eingang ins Reich der Elfen suchte, fand er ihn nicht. Vendela hielt inne. Sie hatte ein dumpfes Brummen gehört und sah hinaus. Ein Auto fuhr langsam den Kiesweg entlang, Vendela erkannte es wieder. Es war der Saab vom Parkplatz. Das Auto rollte vorbei und hielt an dem alten Häuschen am nordöstlichen Teil des Steinbruchs. Hinter dem Steuer saß der blonde Mann, der Max niedergeschlagen hatte. Sein Sohn saß auf dem Beifahrersitz. Als Vendela den Mann von der Seite sah, fiel ihr ein, an wen er sie im Profil erinnerte: an Martin, er sah tatsächlich ein bisschen aus wie ihr erster Mann. Vielleicht war Max deshalb so wütend auf ihn geworden? Vendela hatte Martin vor fünf Jahren zufällig wiedergetroffen und war mit ihm mittagessen gegangen. Leider war sie dumm genug gewesen, Max davon zu erzählen. Noch heute ritt er auf diesem Ausrutscher herum. Das hieß also, dass sie die neuen Nachbarn bereits kennengelernt hatte. Aber hatte sie wirklich Lust, diese Familie einzuladen? Sie würde mit Max darüber reden müssen. Sie beugte sich über das Heft und fügte einen letzten Absatz hinzu, das Ende der Geschichte: Der Jäger lebte noch viele Jahre in seinem Häuschen am Rande der Alvar, aber er verliebte sich nie wieder und fand auch keine Frau, die er heiraten wollte. Denn niemand konnte sich mit der Königin der Elfen messen. Er konnte sie nicht vergessen. »Das war eine Sage über die Elfen«, hatte ihr Vater gesagt und sich dabei von der Bettkante erhoben. »Und jetzt schlaf schön, Vendela!« Henry hatte ihr noch viele Geschichten über die Elfen erzählt. Seine verstorbene Frau erwähnte er nie, aber die Königin der Elfen schien es ihm sehr angetan zu haben. Und diese Sagen über die Elfen hatten sich in Vendelas Erinnerung eingebrannt. In ihr entstand der Wunsch, es dem Jäger gleichzutun und den Ort zu suchen, an dem sie ihnen begegnen könnte.
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