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E-Book

Gebrauchsanweisung für Istanbul

8. aktualisierte Auflage 2015

AutorKai Strittmatter
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783492950244
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Seit vier Jahren lebt Kai Strittmatter am Bosporus, und noch immer schlägt sein Herz schneller, sobald die Fähre sich der Anlegestelle nähert. Möwen im Schlepptau; Matrosen, die an Bord kupferfarbenen Tee servieren; das Minarett der Blauen Moschee, den Galataturm, die Hagia Sophia und den Topkapipalast vor Augen: Ankunft in Istanbul. Einst Byzanz, dann Konstantinopel, für die Griechen bis heute die Stadt aller Städte. Der Autor erlebt täglich, wie Asien und Europa sich zwischen osmanischer Pracht und modernem Nachtleben vereinen und prügeln. Er lotst uns durchs Verkehrschaos und verrät, wie ein Frauenpicknick im Hamam aussieht. Was es mit Schnauzbartverbot und Hutpflicht auf sich hat. Und warum der richtige Fußballklub eine echte Glaubensfrage ist.

Kai Strittmatter, Jahrgang 1965, studierte Sinologie in München, Xi'an (Volksrepublik China) und Taipei (Taiwan). Für die 'Süddeutsche Zeitung' war er ab 1997 acht Jahre lang Korrespondent in Peking. Von 2005 bis 2012 berichtete er für die SZ von Istanbul aus über die Türkei und Griechenland, von 2012 bis 2018 war er wieder deren Korrespondent in Peking. Inzwischen ist er Skandinavien-Korrespondent für die Zeitung. Er gilt als einer der besten China-Kenner Deutschlands. Bei Piper von ihm erschienen: 'Gebrauchsanweisung für China', 'Gebrauchsanweisung für Istanbul' und 'Die Neuerfindung der Diktatur'.

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Leseprobe

Flörten


Ich habe ein neues Lieblingswort. Gürültülü. Flüstern Sie’s mal nach. Wird Ihnen nicht ganz kitzlig um die Mundwinkel? Und jetzt ein wenig lauter. Gürültülü. Sofort wird der ganze Starenschwarm vor Ihrem Küchenfenster fröhlich pfeifend einfallen. Das geht in Ordnung. Gürültülü heißt nämlich »lärmig, krachig, laut«. Aber schön krachig halt. Um ein Haar wäre ich diesem Stimmbandtriller nie begegnet: wäre ich nicht nach Istanbul gezogen und hätte ich nicht angefangen, Türkisch zu lernen.

»Ja, Wahnsinn, du lernst Türkisch«, war die Reaktion vieler meiner Freunde, dahingemurmelt meist in einem Tonfall konsternierten Desinteresses, und da erst fiel mir auf, was der eigentliche Wahnsinn ist: dass ich bis dahin keinen Verwandten, Freund oder Bekannten hatte, der auch nur ein Wort Türkisch spricht. Ich kenne Leute, die sprechen Chinesisch, Koreanisch und Tibetisch. Ich kenne sogar einen, der spricht Dänisch. Aber Türkisch? Nicht einer. Dabei stamme ich aus einem Land, in dem drei Millionen Türken leben: Es wohnen in Deutschland mehr als dreimal so viele türkische Staatsbürger wie italienische und mehr als fünfzehnmal so viele wie spanische. Und doch stürzen sich meine Freunde in Spanisch- und in Griechischkurse, tun dem Italienischen mit ebensolcher Lust Gewalt an wie dem Portugiesischen – würde man ihnen jedoch eine Türkisch-Broschüre auf den Küchentisch legen: Man erntete nicht mehr als ein fassungsloses Grinsen. In meinem Sprachkurs in Istanbul saßen schon ein paar Deutsche, Engländer und Franzosen, wenn ich sie aber fragte, warum sie Türkisch lernten, dann erhielt ich fast ausnahmslos zwei Antworten: Wegen der Arbeit. Wegen meines/meiner Verlobten. Viele schickten dem einen Seufzer hinterher, der von der Größe ihres Liebesopfers künden sollte. Türkisch lernen aus Neugier, zum Vergnügen gar? Fehlanzeige.

Das muss und das wird sich ändern.

Warum? Eigentlich sollte man denken, die guten Gründe lägen auf der Hand zu einer Zeit, da deutsche Magazine zur Verteidigung »unserer Türkei«, also des Teutonengrills an der türkischen Riviera, gegen den Einfall der russischen Horden blasen: Mehr als vier Millionen Deutsche machen mittlerweile jährlich in der Türkei Urlaub, doppelt so viele wie in Griechenland. Und werben unsere Turkologen nicht seit Jahrzehnten so unermüdlich wie unbemerkt mit dem Hinweis, es verschaffe einem die Meisterschaft des Türkischen einen wertvollen Vorsprung beim Erlernen des Uigurischen, des Kipschakischen, ja gar des Gagausischen? Reicht Ihnen nicht? Bitte sehr, diese Gründe fallen mir auf Anhieb ein:

Weil die Türkei in der Türkei ganz anders ist als die in unserem Kopf. Weil die Leute endlich erkennen würden, dass es noch ein, zwei, drei, viele andere Türkeien gibt. Also nicht bloß die der faschistischen Staatsanwälte, welche die besten Köpfe ihres Landes vor Gericht zerren. Und nicht bloß das in einer Zeitkapsel konservierte Ostanatolientum, welches das Türkenbild der meisten Menschen in Zürich, Wien und Berlin bestimmt (die vielen modernen Türken fallen ja leider nicht auf bei uns). Weil nicht nur das amerikanische Magazin »Newsweek« Istanbul für die »coolste Stadt Europas« hält. Weil ein Türke sich den Literatur-Nobelpreis erschrieben hat. Weil das Land die am schnellsten wachsende Wirtschaft des Kontinents hat. Weil die Türkei vielleicht bald mittendrin steht in Europa. Und zwar als dann größtes Volk.

»Weil man den Türken besser zum Freund hat denn zum Feind.« (Ergänzt ein türkischer Freund.)

Hier drei Argumente vom Fachmann. Es spricht: Christoph Neumann, Übersetzer von Orhan Pamuks »Schnee«.

»Du möchtest eine exotische Sprache lernen, sie soll aber doch mit lateinischen Buchstaben geschrieben werden? Bitteschön: Du hast die Wahl zwischen Albanisch, Baskisch, Maltesisch – und Türkisch.«

»Stell dir vor, du bist ein Marsmensch und landest auf der Erde. Du hast nur achtundvierzig Stunden Zeit, eine Sprache zu lernen. Absolut logisch soll sie sein, und mindestens ein Prozent der Weltbevölkerung soll sie sprechen. Ganz klar: Der Marsmensch wird Türkisch lernen.«

»Es ist die am wenigsten übersetzte ernstzunehmende Literatursprache. Und der türkische Roman kann so komisch sein. Ach, was gibt es da noch für Schätze zu entdecken.«

Schätze. Wer sich auf die Türkei einließe, der würde nicht nur feststellen, dass sie den schönsten Frauen Europas Heimat ist, er würde auch erkennen, dass die Melodie ihrer Sprache zu Unrecht einen schlechten Ruf genießt. Vielmehr fließt das Türkische aus dem Munde einer schönen Lehrerin gleich einem mit Edelsteinen besetzten Band aus Atlas. Und wer es spräche, der könnte diesen Frauen in einem kühnen Augenblick auch Verse wie diese ins Ohr flüstern: Meine schwarze Maulbeere, meine Vliesschwarze, meine Zigeunerin/Was hättest du mir alles noch sein können, meine Einzige/Meine lachende Quitte, mein weinender Granatapfel/Mein Weib, meine Stute, meine Frau. Ein Gedicht des Malers und Lyrikers Bedri Rahmi Eyübo?lu, das dieser vor mehr als fünfzig Jahren weinend seinen Gästen vortrug: Gewidmet war es seiner Geliebten, die mit einer Lungenentzündung darniedergelegen hatte. Der Maler hatte seine Bilder verschleudert, um ihr die teuren Medikamente zu kaufen. Es half nichts, sie starb. Seine Frau derweil, die angetraute, verließ ihn später, dann schrieb sie ihm diese Zeilen: Sie fühle sich, als ob ihr einer ein heißes Bügeleisen ins Blut gedrückt habe.

Vielleicht sollten Sie Türkisch aber ganz einfach deshalb lernen: weil es Spaß macht. Allein die vielen Ös und Üs mit denen Sie Ihre Mitspieler in Zukunft in die Scrabble-Hölle buchstabieren. Freunde des gespitzten Umlautmundes werden sich hier fühlen wie im Schlaraffenland und dürfen zudem jeden Morgen zum Weckruf des türkischen Hahns erwachen: »Ü-ürü-üüü!« Oder die Speisekarte: Auf der steht nicht einfach: »Gefüllte Aubergine«, auf der steht: »Der Imam ist in Ohnmacht gefallen.« Die Türken streiten sich bis heute, ob der gute Mann so entsetzt war ob der Menge teuren Olivenöls oder ob es ihm so gut geschmeckt hat. (Überhaupt wäre noch zu klären, ob von religiöser Namenspatronage so ohne weiteres Rückschlüsse auf die Qualität eines Gerichtes zu ziehen sind: In Chinas vegetarischen Lokalen servieren sie eine Gemüseplatte, die heißt »Der Buddha springt über die Mauer«. Dabei schmeckt sie wirklich nicht schlecht.) Und erst die türkischen Zeitungen, allein sie sind hundertfacher Lohn: Da sprudelt einem tagein, tagaus so viel Wunderliches und Bizarres auf den Frühstückstisch, dass der Verdacht nicht fernliegt, türkische Satirezeitschriften wie »Penguen« und »LeMan« hätten sich der Tagespresse wegen darauf verständigt, durchgehend in Cartoon-Form zu erscheinen – man würde den Unterschied sonst kaum merken.

Es gibt im Türkischen viele Wörter, die auch ohne Umlaut auf Anhieb Freude machen. Zum Beispiel ?akamaka. Gesprochen wird das »Schakamaka« und heißt dem Lexikon zufolge: »Scherz beiseite!«, ganz entgegen seiner gefühlten Bedeutung. Oder Ha?ha?. Spricht sich »Haschhasch« und heißt, genau, »Mohn«. Oder das Vasistas. Sprechen Sie das mal laut aus. Was das ist, das Wasistdas? Ein schmales, oberhalb des normalen Fensters eingelassenes Klappfenster. Ein aus dem Französischen eingeschlepptes Lehnwort übrigens. Überhaupt sind all die eingetürkten Franzosenwörter (ein Wörterbuch zählt gut fünftausend von ihnen) ein zuverlässiger Quell guter Laune. Die Türken schreiben – sürpriz, sürpriz (das »z« wird wie ein »s« ausgesprochen) – das Französische viel einfacher als die Franzosen. Hier in Istanbul fahren Sie gemeinsam mit Ihrem Kuzen im Asansör hinauf zum Kuaför und hinterher bitten Sie im Café den Garson um ein paar Milföy mit Frambuaz. Das geht, seltener, auch mit deutschen Lehnwörtern, Warum die Türken allerdings ausgerechnet unsere Wörter Aysberg, Haymatloz und Mar?! (Ausrufezeichen wird mitgesprochen) eingebürgert haben, ist mir nicht klar. Warum die Geschöpfe des Istanbuler Nachtlebens zum Flört einladen, schon eher.

Nicht verschwiegen sei, dass das Erlernen des Türkischen gemeinhin Mongolen und Japanern leichter fällt als dem gewöhnlichen Mitteleuropäer, hat es seine Wurzeln doch im Altaigebirge, da, wo sich heute die Mongolei, China und Russland reiben. Türkischsprechende verweisen gerne darauf, wie stringent und logisch die Sprache aufgebaut sei. »Die Struktur des Türkischen – das hat was. Das hat Eleganz«, sagt Pamuk-Übersetzer Chrisoph Neumann und sinnt dem Gesagten mit einem liebevollen Blick in die Ferne hinterher: »Das ist wirklich mal was ganz anderes.« Mal was ganz anderes, stimmt. Auch wenn es dem Anfänger manchmal so scheint, als habe sich die Sprache ihre Logik auch dadurch erkämpft, indem sie jede Ausnahme flugs zu einer neuen Regel erklärte. Ich habe auch schon mal Chinesisch gelernt, und ich finde: Das Türkische ist ein weit härterer Brocken als das Chinesische.

Das Türkische ist dem Indogermanen ein fremdes Tier. Es zu zähmen heißt, sich eine neue Welt anzueignen. Eine Welt, die für das Wort »Ehre« gleich vier Begriffe kennt, aber auch für das »Herz« noch zwei (also doppelt so viele wie das Deutsche). Es gibt im Türkischen eine eigene Vergangenheitsform für Dinge, die man nicht selbst gesehen oder bewusst erlebt hat, eine Vergangenheit aus zweiter Hand gewissermaßen. Die Form ist vor allem dann nicht ohne Reiz, wenn man sie auf sich...

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