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E-Book

Gebrauchsanweisung für Moskau

AutorMatthias Schepp
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783492955591
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Moskau für Einsteiger und Fortgeschrittene: Matthias Schepp zeigt uns, wie Russen ihre Kinder erziehen. Welche Geheim­nisse auf dem Roten Platz zu entde­cken sind. Warum der Straßenverkehr wie ein Brennglas den Charakter der Moskauer aufscheinen lässt. Worin sich die heiße Klub- und Discoszene von der in Barcelona oder Berlin unterscheidet. Wie die Mos­kauer heiraten und wie sie ihre Toten ehren. Wie sich die Stadt zwischen Stalin-Wolkenkratzern, Platten­bauten und Adelspalästen neu erschafft. Wa­rum Inseln und Schlösser auf Moskaus Millionärsmesse der Renner sind. Wie die orthodoxe Kirche ihre Macht ausübt. Was man beim Wodkatrinken wissen sollte und weshalb Sie in der Banja, der russischen Sauna, unbedingt einen Filzhut tragen müssen.

Matthias Schepp, geboren 1964, beschäftigt sich seit zwanzig Jahren intensiv mit Russland. Seit Juli 2006 leitet er das Moskau-Büro des »Spiegel«. Für den »Stern« hatte er dort bereits von 1992 bis 1998 gearbeitet, bevor er für sechs Jahre die Leitung des Peking-Büros des »Stern« übernahm. Bisher erschien, zusammen mit Gerd George, das Buch seiner Motorradreise »Von Peking nach Berlin. 10 000 km auf Nachbauten der legendären BMW R 71«.

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Leseprobe

Harte Schale, weicher Kern


Warum die Moskauer Flughäfen ein Spiegel der
russischen Seele sind


Wer lange mit Moskau verbunden ist, hat eine eigene Zeitrechnung aufgemacht. Diplomaten, Geschäftsleute und Reiseleiter teilen ihre Russlandjahre in die Zeit vor und nach Domodedowo, v. Dme und n. Dme. »Dme« werden Sie auf Ihrem Ticket sehen, wenn Sie mit Lufthansa oder Air Berlin nach Moskau fliegen. So lautet die Abkürzung für den modernen Flughafen im Südosten der Stadt. Air Berlin fliegt ihn seit 2005 an, die Lufthansa seit April 2007.

Allein die Kranichlinie bringt pro Jahr mehr als 600000 Menschen nach Moskau, die Hauptstadt des größten Flächenstaates der Erde. Wöchentlich landen rund siebzig Lufthansa-Flüge in der boomenden Metropole. Ich sehnte den Umzug der Fluglinie seit Monaten, wenn nicht seit Jahren herbei. Weg vom staatlichen Flughafen Scheremetjewo, hin zu Domodedowo. Als es endlich so weit war, leerte ich mit meiner Frau eine Flasche Champagner. Falls Sie das für übertrieben halten, liegt es allein daran, dass Sie Scheremetjewo niemals erleiden mussten, dessen internationaler Terminal Ende der Siebzigerjahre erbaut wurde. 2010 eröffnete dann das hochmoderne Terminal Scheremetjewo D, auch das war der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Der nach einem Grafen benannte Flughafen war über Jahrzehnte das exklusive Einfallstor für Flugreisende aus dem Westen, ein berüchtigtes noch dazu. Eröffnet im Vorfeld der Olympischen Spiele von 1980, hat der Flughafen es nicht vermocht, mit der Zeit Schritt zu halten.

Von morgens bis abends drängelten sich dort die Ankommenden vor den Schaltern der Pass- und Visumkontrolle. Die Schlangen waren so lang wie die Menschenansammlungen vor den wenigen Geschäften, die zu Sowjetzeiten Kleider aus Rumänien, Schuhe aus der Tschechoslowakei oder Bananen aus Nicaragua verkauften. Besucher aus Westeuropa und Amerika gewannen den Eindruck, dass ihre Menschenwürde schon vor der Einreise nach Russland verletzt wurde. Das passte wunderbar insfinstere Bild von bettelnden Babuschkas, Großmütterchen, die in der Krise der Neunzigerjahre verarmt waren. Und später dann nach der Jahrtausendwende zu den prügelnden Polizisten; sie unterdrückten jede noch so kleine Demonstration, die gegen den zunehmend autoritären Kurs von Wladimir Putin, Präsident von Januar 2000 bis Mai 2008, protestierte. Russland ein Land der Finsternis, so wie Ronald Reagan die Sowjetunion als »Reich des Bösen« geschmäht hatte.

Am Flughafen Scheremetjewo überlegten Geschäftsleute spätestens beim Anblick der übellaunigen Beamten und überteuerten Raubritter-Taxis, ob sie wirklich in dieses Land investieren wollten. Der umtriebige Moskauer Oberbürgermeister Jurij Luschkow, der die Stadt 18 Jahre regierte, ehe Präsident Dmitrij Medwedew ihn im September 2010 entließ, hat den Flughafen deshalb einmal schlicht »unanständig« genannt. Walerij Okulow, bis 2009 Chef der staatlichen Fluglinie Aeroflot und Schwiegersohn des verstorbenen Präsidenten Boris Jelzin, bezeichnet den Airport, immerhin der Heimat-Flughafen seiner Luftfahrtgesellschaft, als »Schande für Russland«.

Wahrscheinlich bin ich mehr als hundertmal über Scheremetjewo nach Russland eingereist. Meist hatte ich ein Buch oder eine Zeitschrift dabei, um die tote Zeit während des Schlange stehens sinnvoll zu nutzen. Oder ich beobachtete die anderen Reisenden, die gerade aus Rom, New York oder Paris gelandet waren. Ich teilte sie in vier Gruppen ein:

Erstens: die unverbesserlichen Westmenschen. Sie werden an Russland verzweifeln und Moskau als Vorhölle in Erinnerung behalten, obwohl es wenige Metropolen gibt, in denen man sich so gut amüsieren kann und in denen so viel Überraschendes zu entdecken ist. Der unverbesserliche Westmensch schimpft, plustert sich auf und verlangt, einen übergeordneten Offizier der Grenzpolizisten zu sprechen, um sich zu beschweren. Am liebsten würde er sofort die Leitung des Flughafens übernehmen.

Ausländischen Geschäftsleuten, die in Moskau so agieren, wird kein Erfolg beschieden sein. Statt eine Anstrengung zu unternehmen, die Gesetze zu verstehen, nach denen die russische Gesellschaft funktioniert, versuchen sie, diese nach den eigenen Spielregeln zu ändern. Zu denen aber, die es nicht verstehen wollen, ist die Stadt am Moskaufluss brutal; sie beantwortet Arroganz mit Arroganz und bestraft Klugscheißer durch Nichtbeachtung oder schlimmer noch durch eine genussvoll geführte Gegenattacke.

Zweitens: die ewigen Pessimisten. Sie fühlen sich schon am Flughafen in all dem bestätigt, was sie schon immer über das Riesenreich im Osten und seine Menschen zu wissen meinten: dass Russen nicht in der Lage sind, eine Ansammlung von mehr als drei Leuten anständig zu organisieren, außer wenn es sich um eine Militärparade handelt. Dass Russland hoffnungslos rückständig ist, auch wenn es mit Jurij Gagarin den ersten Mann ins Weltall geschickt hat und seine Softwarespezialisten zu den besten der Welt zählen – ein »Obervolta mit Atomwaffen« eben, wie Helmut Schmidt die Sowjetunion charakterisierte, als er noch Kanzler war. Die ewigen Pessimisten gefallen sich in ihrer Herrenmenschen-Mentalität. Sie reisen nicht, um Neues zu entdecken. Sie reisen, um ihre negativen Vorurteile über andere Länder zu bestätigen. In Peking werden sie endlos über die schlechte Luft jammern, ohne sich an der einzigartigen Schönheit der Verbotenen Stadt zu freuen. In Paris klagen sie über die teuren Restaurants, statt sich an den Köstlichkeiten der französischen Küche zu laben, und selbst an Spaniens »Costa del Sol«, der Sonnenküste, ist ihnen das Wetter immer noch nicht sonnig genug. Sollten Sie zu dieser Kategorie von Miesmachern gehören, reisen Sie unbedingt nach Moskau. Sie werden genug finden, um Ihre Vorurteile zu bestätigen. Und Spaß werden Sie jede Menge haben – bei der Befriedigung Ihres Masochismus.

Drittens: die naiven Russlandfans. Sie freuen sich geradezu über die Schlange am Flughafen, in der sie sich die Beine in den Bauch stehen müssen. Sie sehen darin eine Möglichkeit, andere Menschen kennenzulernen und preisen die Desorganisation am Ende als Ausdruck einer anderen Kultur, eine Art Krönung eines Lebensstils, der Spontaneität höher schätzt als Planung. Am kommunistischen Moskau bejubelten sie die Unwichtigkeit des Geldes, verkündeten den Sieg des Geistigen über das Materielle und schwärmten von den endlosen, tief philosophischen Küchengesprächen. Auf politischer Ebene rechtfertigen sie jeden Schlag gegen eine freie Presse und jede Wirtschaftssanktion, die das wieder erstarkende Russland gegen Nachbarstaaten verhängt. Ihr hehres Motiv, Russland zu verstehen, diskreditieren sie, in dem sie sich russischer gebärden als die Russen selbst. Gerhard Schröder, der das richtige Ziel verfolgte, Russland durch engen Dialog und Verflechtung der großen Unternehmen enger an Europa zu binden, erlag der Versuchung, Russland schönzumalen, als er Wladimir Putin einen »lupenreinen Demokraten« nannte. Putin, ein geschickter und tatkräftiger Politiker, hat viel für sein Land erreicht und ist deshalb für die meisten Russen ein Held. Ein Demokrat allerdings ist er nicht.

Als naiver Russlandfan können Sie die Unbill des Alltags prima ertragen. Zu Sowjetzeiten ignorierten Sie das ständige Defizit an wichtigen Alltagswaren von anständigem Klopapier bis hin zu Zucker und Orangen. Nun bersten die Geschäfte vor Früchten und Luxuswaren, Sie können sich aber darin üben, an den ewigen Staus und der notorischen Behäbigkeit der Bürokraten noch etwas Gutes zu finden. Ihren neuen russischen Freunden allerdings fallen Sie damit eher früher als später gehörig auf die Nerven. Denn diese müssen täglich in den Zuständen leben, die Sie idealisieren.

Viertens: die neugierigen Lebenskünstler. Um es gleich vorwegzusagen: Dies ist die Gruppe, der Sie sich anschließen sollten – egal, ob Sie als Tourist für ein paar Tage nach Moskau reisen oder für einige Monate oder Jahre dort leben und arbeiten. Sollten Sie an der Passkontrolle am Flughafen in einer langen Schlange stehen, trösten Sie Ihre ungeduldige Gattin oder den nörgelnden Ehemann damit, dass so viel Warten bestimmt mit außergewöhnlichen Erlebnissen und Eindrücken belohnt wird. Freuen Sie sich auf diese Stadt, die niemals schläft, die eine der verrücktesten Restaurant- und Clubszenen der Welt hat, in deren Zentrum der schönste Platz des Kontinents liegt und deren Menschen von überwältigender Gastfreundschaft sind, wenn man einmal den ruppigen Panzer überwunden hat, mit dem sich die meisten Moskauer umgeben. Es gilt: harte Schale, weicher Kern. Als neugieriger Lebenskünstler haben Sie die schier endlose Schlange in Scheremetjewo genutzt, um in Windeseile in die russische Seele einzutauchen. Schon in der ersten Stunde nach der Landung begreifen Sie eine Grundwahrheit des russischen Lebens: Erlösung gibt es nur nach Leid. Das muss Ihnen nicht ungerecht erscheinen. Denn genauso gilt: Nach dem Leiden ist die Freude beinahe garantiert und in aller Regel tiefer und ausgelassener als in deutschsprachigen Ländern.

Machen Sie sich die Haltung des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig zu eigen, der von kleinen Alltagserlebnissen auf das große Ganze schloss. Zweig schrieb über Russland, die Zeit habe hier ein anderes Maß, der Raum habe hier ein anderes Maß. Wie in Rubeln und Kopeken lerne man hier rasch mit diesen neuen Werten rechnen, man lerne warten und sich selber verspäten, Zeit versäumen, ohne zu murren, und unbewusst komme man damit dem Geheimnis der russischen Geschichte und des russischen Wesens nahe.

»Denn die Gefahr und das Genie dieses Volkes...

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