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E-Book

Gebrauchsanweisung für Polen

AutorRadek Knapp
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783492976237
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Polen ist vieles zugleich. Es ist katholisch und sehr trinkfest, es ist traditionsbewusst und wandelt sich rasend schnell, seine Landschaften und Städte könnten nicht unterschiedlicher sein. Radek Knapp versucht, diese Vielfalt zu begreifen - und erzählt uns von der slawischen Seele genauso wie von Wodka, polnischen Hochzeiten oder den tausend Seen, die noch immer keiner gezählt hat. Er reist von Danzig über Warschau nach Krakau, kostet von Speisen und Nationalgetränken und sinniert dabei über den Straßenverkehr ebenso wie über die Tücken seiner Muttersprache, die zu den wohlklingendsten in Europa gehört. Besuchen Sie Polen - ein Land, das nicht nur den Kommunismus besiegt hat, sondern auch über den schmackhaftesten Eintopf des Kontinents verfügt, das den hintersinnigen Witz pflegt und manches Klischee widerlegt. Denn Polen ist moderner und europäischer, als mancher denkt - und es steckt voller Überraschungen. Radek Knapp hat sich auf den Weg gemacht, um seinen eigensinnigen Landsleuten so richtig auf den Zahn zu fühlen.

Radek Knapp, 1964 in Warschau geboren, lebt als freier Schriftsteller in Wien und in der Nähe von Warschau. Sein hintergründiger Roman 'Herrn Kukas Empfehlungen' gehört zu den erfolgreichsten Longsellern bei Piper. Zuletzt erschienen von ihm die Romane 'Reise nach Kalino' und 'Der Gipfeldieb'.

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Leseprobe

Das Hongkong Osteuropas


Die Ankunft in Polen wird Sie natürlich vor eine schwere Wahl stellen: In welcher Stadt soll nun eigentlich die Reise beginnen? Immerhin unterscheiden sich die Städte Polens sehr voneinander. Die Unterscheidungskriterien sind dabei anders als in Italien oder Frankreich. Es gibt Städte, die vom Krieg zerstört und danach wieder aufgebaut worden sind, und solche, die den Weltkrieg, insbesondere den letzten, heil überstanden haben, wie zum Beispiel Krakau. Warschau ist das Musterbeispiel einer wiederaufgebauten Stadt und wird unter anderem auch deshalb von den eigenen Bewohnern ironisch als Hongkong Osteuropas bezeichnet.

Wenn man die Karte Polens betrachtet, stellt man fest, dass die geografische Lage Warschaus einer Hauptstadt würdig ist. Während Rom am unteren Teil des italienischen Stiefels angesiedelt ist und Berlin im äußeren Osten Deutschlands, liegt Warschau ideal im Zentrum des Landes. (Auch die geografische Mitte Europas liegt nur wenige Kilometer von Warschau entfernt.) In welche Richtung Sie dann auch immer weiterfahren, es bleiben an die vier Stunden bis zur Landesgrenze.

Um die Gründung Warschaus rankt sich eine Legende, die auf einem Wortspiel beruht. Einst lebten in einer kleinen Hütte an der Weichsel der Fischer Wars und seine Frau Sawa. Eines Tages verlief sich ein Prinz während einer Jagd und konnte nicht mehr zu seinem Schloss zurückfinden. Da erblickte er die Hütte von Wars und Sawa, die ihn bewirteten und ihm ein Obdach gewährten. Aus Dankbarkeit schenkte ihnen der Prinz die umliegenden Ländereien. Und von da an wuchs um die Hütte von Wars und Sawa eine Ortschaft, die schließlich zu jenem Warschau wurde, das man heute kennt. In Wirklichkeit aber wurde die Gegend des heutigen Warschau vor etwa 700 Jahren zum ersten Mal besiedelt.

Im Jahre 1596 verlegte König Sigismund III. Wasa den Sitz der Hauptstadt von Krakau nach Warschau. Was vorerst nur als provisorische Maßnahme gedacht war (der König hatte es von hier näher zu den Schweden, mit denen er Verhandlungen führte), wurde bald endgültig. 1613 wurde Warschau offiziell die Hauptstadt Polens und galt schon damals als eine Stadt, in der es immer zu eng war und in der zu wenig gebaut wurde. Der mittelalterliche Spruch »Wenn die Katze auf der Schwelle sitzt, wedelt ihr Schwanz schon im Nachbarhaus« fand hier in jedem weiteren Jahrhundert neue Bestätigung, und das gilt bis heute. Vielleicht lag es gerade an diesem notorischen Platzmangel (man musste die Stadt mit feindlichen Besatzern teilen), dass ausgerechnet in Warschau die wichtigsten Volksaufstände in der polnischen Geschichte losbrachen. 1794 griffen die verzweifelten Warschauer unter der Führung eines Schuhmachers namens Jan Kiliński zu den Waffen und jagten die Truppen der russischen Besatzer aus der Stadt. Bedauerlicherweise verbündeten sich die Russen mit Preußen und eroberten Warschau zurück. Der Befreiungskampf gegen das feindliche russisch-preußische Tandem wurde zu einem wiederkehrenden Motiv. Von da an war die Geschichte Polens eng mit der ihrer Hauptstadt verknüpft. Was in Warschau geschah, hatte Auswirkungen bis ins kleinste Nest im Tatragebirge. Nur 36 Jahre später, im Jahr 1830, brach der Novemberaufstand los, der für die Polen eine besondere Bedeutung hatte. Er hatte einen ähnlichen Ausgang wie der erste, aber er zementierte das erwachende Nationalbewusstsein der Polen derart, dass eine endgültige Befreiung nur eine Frage der Zeit schien.

Die zahlreichen Aufstände und Partisanenkämpfe machten die Polen auf Dauer zu Spezialisten des »Hinterhalts« und des zivilen Ungehorsams. Nach nunmehr 200 Jahren ließen sich daraus ein paar Charaktereigenschaften ableiten, die einem heute typisch slawisch vorkommen könnten. Heute ist man sich weitgehend einig darüber, dass es nicht so weit gekommen wäre, wenn der vielleicht tragischste Befreiungsversuch in der Geschichte Warschaus nicht gescheitert wäre. Der Warschauer Aufstand im Jahr 1944 verlief aber nicht nur deshalb tragisch, weil zum Großteil Zivilisten gegen eine hochtechnisierte Militärmaschinerie Hitlerdeutschlands kämpften, sondern weil sie von ihren Verbündeten in letzter Minute im Stich gelassen wurden. Die Panzer der Roten Armee standen bereits am anderen Ufer der Weichsel und hätten jederzeit eingreifen können. Doch um Polens Position bei künftigen Verhandlungen nach Kriegsende zu schwächen, griffen sie nicht ein und ließen den Warschauer Aufstand scheitern.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Polen daher mit dem Kommunismus zwangsbeglückt. Und Warschau mit dem Kulturpalast. Die Sowjets schenkten ihren Verbündeten nach dem Sieg des Kommunismus solche architektonischen Monster mit einer Freizügigkeit, als handelte es sich um Einwegkugelschreiber. In den Fünfzigerjahren, als man noch zehn Jahre brauchte, um eine Würstchenbude aufzustellen, gelang es ihnen, in drei Jahren eines der höchsten Gebäude der Welt hochzuziehen. 3500 importierte russische Arbeiter nahmen zuerst zwecks »Materialgewinnung« die letzten übrig gebliebenen Biedermeiermietshäuser im Stadtzentrum auseinander und setzten sie dann zum Kulturpalast zusammen. Nachdem das »Symbol der sowjetisch-polnischen Freundschaft« fertiggestellt war, war man sich in Warschau sofort einig: »Warum ist der schönste Platz Warschaus die Aussichtsterrasse des Kulturpalastes? Weil man von dort den Kulturpalast nicht sehen kann.«

Wenig später machte der erste Selbstmörder von der Aussichtsterrasse Gebrauch. Paradoxerweise war es kein Pole, sondern ein Franzose. Der ganze Ostblock zerbrach sich damals den Kopf, wie dieser Klassenfeind es über die Grenze nach Polen geschafft hatte. Über den Sprung hingegen wunderte sich kaum jemand.

Heute schützt ein hohes Gitter Sprungwillige an ihrem Vorhaben, aber versöhnt ist man mit dem Kulturpalast noch immer nicht. Es gibt häufig heftige Debatten darüber, was mit dem Ungetüm angestellt werden soll. Zu hässlich, um es stehen zu lassen, und zu groß, um es abzureißen. Seit einigen Jahren mehren sich jedoch die Stimmen und die Anzeichen, dass der Kulturpalast es doch irgendwie geschafft hat, sich in die Herzen der Warschauer zu schmuggeln. Pünktlich zum Millennium hatte man oben im Turm eine Uhr eingebaut und damit womöglich zu verstehen gegeben, dass seine Zeit noch lange nicht abgelaufen war.

Wenn Sie durch die Straßen Warschaus schlendern, wird Ihnen rasch auffallen, wie diese Stadt die Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg (90 Prozent der Bausubstanz waren ausgelöscht worden) in einen Vorteil umzumünzen versuchte. Außerhalb des Zentrums wurde sie nach dem Muster einer amerikanischen Stadt wiederaufgebaut. Die Straßen sind breit angelegt, es gibt überdimensionale Kreuzungen und große Betonsiedlungen, in denen heute nahezu die Hälfte der Warschauer wohnt. Die schönste Straße im Zentrum Warschaus, die Neue Welt, ist allerdings eine getreue Rekonstruktion aus der Vorkriegszeit. Sie mündet in die Warschauer Altstadt, der man es ebenfalls nicht ansieht, dass sie gerade mal sechzig Jahre alt ist.

Da Warschau sich über eine verhältnismäßig große Fläche erstreckt, sollten die Verkehrsmittel, mit denen Sie sich fortbewegen, gut überlegt sein. Einen Besichtigungsspaziergang können Sie in Warschau nur dann leisten, wenn Sie ein Marathonläufer sind. Die einfachste Lösung ist ein Taxi, wobei die Warschauer Taxifahrer nicht unbedingt ein Ausbund an Freundlichkeit sind. Man kann zwar an einen geraten, der ein Gott der Höflichkeit und Kompetenz ist, man kann aber auch leicht einen hartgesottenen John-Wayne-Fan erwischen. Im zweiten Fall werden Sie fünfmal um den Häuserblock gefahren und dann mit einer Rechnung beglückt, von der Sie noch Ihren Enkeln erzählen werden.

Das schnellste Verkehrsmittel ist die Straßenbahn. Die Busse litten lange unter ihrem schlechten Image aus der kommunistischen Ära, als die Fahrer sich öfter mal verfuhren oder Haltestellen mit Hunderten Wartender schlicht ausließen. Heute ist davon nicht mehr die Rede, aber die Fahrt mit einem Bus um die Mittagszeit dürfte vor allem eine Attraktion für Physikstudenten sein, die in natura beobachten wollen, wie die Fahrgäste trotz der Gesetze der Fliehkraft in den scharfen Kurven so geschickt auf engstem Raum balancieren, dass niemand dem anderen auf die Füße tritt.

Der Rolls-Royce unter den »Öffentlichen« aber ist die Warschauer U-Bahn. Der Bau ist zwar immer noch nicht ganz abgeschlossen, dafür aber bietet sich dort ein Bild wie aus einem amerikanischen Hollywoodfilm: Männer in Anzügen und mit Aktentaschen studieren die polnische Ausgabe des »Wall Street Journal«. Junge Frauen studieren ihrerseits aufmerksam die Männer in ihren Anzügen.

Wenn Sie auf Ihrer Stadttour verschnaufen möchten, können Sie ruhig das machen, was alle Touristen von jeher auf der ganzen Welt tun: sich eine Bank suchen oder in einem Café vorbeischauen. Während der letzten zehn Jahre hat sich die Anzahl der Lokale verzehnfacht; angefangen bei McDonald’s bis hin zum Luxusrestaurant gibt es inzwischen alles. Die teuren Restaurants sind zumeist auf ausländische Geschäftsleute oder polnische Neureiche eingestellt. In solchen Lokalen herrscht gelegentlich das, was man als »steife Atmosphäre« bezeichnet. Da hilft es auch nicht viel, wenn ein Wildragout von zwei Kellnern, die Totengräbern ähneln, zu den Klängen eines Bossa Nova gereicht wird. In Studentencafés werden Sie sowohl gutes Essen als auch angenehme Atmosphäre vorfinden. Auch wenn ihre Namen etwas gewöhnungsbedürftig klingen – »Schwanensee«, »Zwischen den Beinen« oder »Sanfter Barbar« –, sollten Sie sich nicht abschrecken lassen.

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