Wir nähern uns an
Wenn man als in Erfurt geborener und praktizierender Erfurter Kabarettist ins ehemals deutschsprachige Ausland kommt – sprich: in die alten Bundesländer – und dort den Mund aufmacht, wird man unweigerlich als Besuch aus Sachsen identifiziert. Das geschieht zumeist voll fröhlichster Schadenfreude, denn wer einen sächsischen Sprachschaden hat, der braucht für den Spott nicht zu sorgen. Man bekommt ihn gratis und in großer Menge.
Das Problem ist allerdings: Wir Thüringer, auch wir Erfurter Thüringer, sind keine Sachsen. Und wenn wir also im Schwabenländle oder in der Vulkaneifel oder dort, wo die Nordseewellen an den Strand schlagen, unseren Volksmund öffnen, dann erleiden wir gewissermaßen eine oberflächliche Regionalbeleidigung. Bei manchen geht der Schmerz tiefer, trifft mitten ins Grüne Herz. Was sollen wir sein? Sachsen!? Wir doch nicht, wir kommen nicht aus Sachsen, wir sind aus Thüringen, hört man uns zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorpressen. Was hört man daraufhin ebenfalls oft und ungern: Das ist doch eh dasselbe!
Diese Schmach!
Natürlich ist das alles irgendwie richtig, dass Thüringer eigentlich Sachsen sind, leider, aber eben nur irgendwie. Nicht direkt. Historisch gesehen ja, aktuell natürlich nein. Und sprachlich schon gar nicht!
Dieses Landsmann- und -frauschaftliche ist zugegebenermaßen ein wenig irrational. Wer fragt jedoch nach Rationalität, wenn er Franke ist und, nur weil er aus demselben Bundesland stammt, als Bayer eingeordnet wird. Oder wenn Kölnerinnen meinen, sie seien wertvollere Menschen als die da aus Düsseldorf. Oder wenn jemand Schal und Fahne in bestimmten Fußballvereins-farben trägt und dafür von Trägern andersfarbiger Schals und Fahnen heftig eins auf die Nase bekommt. Allerdings geht der Regionalpatriotismus bei uns Thüringern nicht so weit, dass wir Gewalt anwenden würden, so wir als Sachsen bezeichnet werden. Wirklich geprügelt hat sich meines Wissens noch kein Thüringer, um sich gegen den Sachsenvorwurf zu verteidigen. Thüringern nachzusagen, sie seien ein friedfertiger Menschenschlag, klingt zwar in sich etwas paradox, ist aber durchaus gerechtfertigt. Und so nehmen wir es grimmig lächelnd hin, wenn man uns falsch verortet, uns Thüringer.
Dabei würde doch schon ein Blick auf die Landkarte oder in den Autoatlas genügen, um einen so außerthüringischen Grundfehler zu vermeiden. Und wer diese alten Kulturtechniken und papierne Informationen nicht mag, kann weltweite Dienste befragen, Thüringen auf das Display wischen. Sieh da: Thüringen ist tatsächlich existent und eigenständig. Das liegt ja wirklich neben und nicht in Sachsen. Hätte man’s gedacht!?
Man kann sich diesem Bundesland natürlich erst einmal aus sächsischer Richtung nähern. Man besteige der Deutschen liebstes Transportspielzeug in Dresden oder Chemnitz und fahre Richtung Westen. Bevor der Westen leuchtet, fährt man kilometerweit durch Thüringen. Zugegeben, es sind nicht unendlich viele Kilometer, aber fast zweihundert sind es schon. Also, man ist schnell durch. Wer aber nur in Ost-West-Richtung durch Thüringen hindurchrast, verpasst eigentlich alles, was man im Leben so verpassen kann: gutes Essen, nette Menschen, Kultur und Natur in Hülle und Fülle, alte Städte voll heutigen Lebens. Das gilt auch für die ebenfalls knapp zweihundert Kilometer lange Durchfahrt in Nord-Süd-Richtung. Eines der ältesten Rathäuser Deutschlands befindet sich unweit des jüngsten Autobahnabschnittes, in Weißensee. Und Weißensee ist in diesem Fall kein Ortsteil Berlins mit TV-gerechter Stasivergangenheit, sondern eine Thüringer Stadt mit dem chinesischen »Garten des ewigen Glücks«.
Verwirrend? Nein, Thüringer Vielfalt.
Thüringen grenzt dreimal an Bundesländer, die noch viel sächsischer sind als Thüringen selbst. Sachsen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen tragen schließlich deutlich Sachsen in sich. Die ebenfalls angrenzenden Hessen und Franken haben Thüringen zwar durchaus auch geprägt, aber den dicksten Prägestempel haben uns Thüringern eben die sächsischen Eroberer aufgedrückt. Manchmal spricht man in satirischer Übertreibung auch von sächsischen Kolonialherren. Aber in jeder ironischen Zuspitzung steckt das berühmte Körnchen Wahrheit. Im Thüringer Sachsenfall handelt es sich dabei um ein riesengroßes Wahrheitskorn.
Jedoch, liebe Hereinkommende: Es schadet ganz und gar nicht, die Thüringer Seele ein wenig zu streicheln. Lokal- und Regionalpatrioten sind keine Idioten, sondern Menschen mit Gefühlen. Wenn auch der Geburtsort genauso wie das Geburtsbundesland einer gewissen Zufälligkeit unterliegt – man wird ja sozusagen in seinen Geburtsort zwangseingewiesen –, kommt doch immer ein gewisser Stolz auf, wenn man sagt: Mein Erfurt! Mein Thüringen! Mir gehört zwar nichts davon, trotzdem ist es meins. Beides.
Grenzen sind natürlich nur willkürlich gezogen, auch die der Thüringer – und sie laden ein, sie zu überspringen, Also Reisender, tu eben dies. Du wirst überrascht sein, wie einfach es ist. Und noch überraschter wirst du sein, wenn du gesprungen bist.
Reisender, kommst du nach Thüringen, sei gewiss, du kommst nicht in östliche Einöden. Du kannst deine Zahnbürste zu Hause vergessen haben, verzweifele nicht, du wirst auch in Thüringen an der Vielzahl verschiedenster Zahnbürstenangebote schier verzweifeln. Übrigens wurde die Zahnbürste in Thüringen erfunden. In Bad Tennstedt.
Reisender, habe keine Angst vor Hunger und Durst, dir werden die Geschmacksknospen frühlingshaft aufspringen. Reisender, hier in Thüringen gehen Liebe und Bratwurst gemeinsam durch den Magen. Dein trockener Mund wird angenehm befeuchtet, und wenn du es anstrebst, kannst du deinem Körper Flüssigkeiten zuführen, die deinen Geist in Auflösung führen. Lass, Reisender, fährst du nach Thüringen, alle Hoffnung fahren, du würdest hier nur Not, Armut und leere Landstriche finden. Aus welcher Richtung auch immer du dich näherst, das sogenannte Grüne Herz Deutschlands wird deinem eigenen Herzen schnell nahe sein.
Reisender, näherst du dich aus südlichen Gefilden, liegt vor dir ein Mittelgebirge, sanft ansteigende, bewaldete Hänge, die oft deckungsgleich mit Thüringen assoziiert werden. Der Thüringer Wald prägt zwar Thüringen, aber von Thüringen ist er nur ein kleiner Teil. Reisender, du kannst dieses Gebirge durchfahren, nimm den Rennsteig-Tunnel, der mit fast acht Kilometern Länge im deutschen Tunnelvergleich der längste und in Europa der viertlängste zweiröhrige Straßentunnel ist. Fahr interessenlos und ohne Neugier auf der Tunnelautobahn, und du wirst nichts erfahren außer der Tunnellänge. Lässt du dich jedoch von der Hauptverkehrsader weg auf die alten Straßen und Nebenstraßen treiben und fährst du über den Kamm des Thüringer Waldes, siehst du die Enge der Waldtäler und weitest vielleicht langsam deinen Blick für einen Landstrich, wo Menschen mit schmalem Portemonnaie weit kamen. Du überquerst einen der legendärsten deutschen Wege, den Rennsteig, und blickst dann weit hinein ins Thüringer Becken.
Reisender, näherst du dich aus nördlicher Richtung, dann hast du viele Einfahrmöglichkeiten hinein ins Thüringer Land. Und all diese Straßen bringen dich in ein anderes Thüringen. Kommst du, Reisender, aus Niedersachsen, stößt du hinter der Landesgrenze entweder auf das sehr katholische Eichsfeld, das der Ratzinger-Papst durch seinen Besuch weltweit bekannt machte und wo ganz andere Feiertage gefeiert werden als im größtenteils protestantisch geprägten großen Rest des Freistaates Thüringen. Oder du kommst in der Nähe des nördlichsten Punktes von Thüringen in dasselbe hinein, dann geht es zunächst durch den Harz mit dem berühmten Brocken und den nicht minder berühmten Walpurgishexen und ihren teuflischen Riten und Ritten, und du landest in einem Landstrich, der nicht nur protestantisch, sondern auch sehr industrialisiert ist: der Landkreis Nordhausen. Am allerbekanntesten, jedenfalls in der GDT, der Gemeinschaft Deutscher Trinkbranntweinendverbraucher, ist der Landkreis durch das Huhn, das immer seinen Korn findet. Das schlaue Huhn heißt Henriette, hat einen goldenen Schnabel und findet nach dem Aufpicken des Kornkreises immer seinen Nordhäuser Doppelkorn.
Kommt man aber aus dem Norden, von Sachsen-Anhalt, fährt man mitten hinein in die Geschichte um den rotbärtigen König Barbarossa. Und findet der Grenzübertritt noch ein paar Kilometer weiter östlich statt, ist man sehr schnell bei Goethe und Schiller und Herder und Eckermann und Liszt und … später mehr dazu. Aus nördlicher Richtung kommend, kann man in das Verbreitungsgebiet des Mutzes gelangen – ein biounlogischer Bruder des Rasselbocks – oder vor das Geburtshaus des expressionistischen Malers Otto Dix. Und kommt man aus Sachsen nach Thüringen, landet man unter Umständen vor dem Skatgericht.
Reisender, kommst du aus dem Osten, dann kommst du aus einem Freistaat in einen anderen Freistaat. Wie schon erwähnt, ist der Freistaat Thüringen nicht der größten Bundesländer eines. Aber wäre man vor zweihundert Jahren aus östlicher Richtung ins heutige Thüringen eingefahren, wäre man dauernd an der Weiterreise gehindert worden, weil hier die staatlichen Gebilde so klein waren, dass alle paar Kilometer eine Staatsgrenze mit Schlagbaum und Zöllner aufwartete. Hier gab es so kleine Staatswesen, dass man sie Operettenstaaten nannte. Fürstentümer dieser Größe beziehungsweise Kleine gaben sich in Person von Operetten-Fürst Ypsheim-Gindelbach, dem Premierminister von Reuß-Schleiz-Greiz und dem Reuß-Schleiz-Greiz-Gesandten Graf Balduin dem...