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E-Book

Gebrauchsanweisung zur Selbstverteidigung

AutorThomas Glavinic
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783492977524
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Thomas Glavinic kam als 13-Jähriger zum ersten Mal mit Kung Fu in Berührung: Als er Bruce Lee-Filme sah, war er von dessen Kunstfertigkeit begeistert und schrieb sich prompt in Karate ein. Mit sechzehn probierte er Taek-Won-Do; später widmete er sich nach einer kurzen Judo-Phase und ein paar Boxeinheiten Jiu-Jitsu, bis er schließlich beim Wing Tsun landete: einer Kampfkunst, die der Legende nach von einer chinesischen Nonne erfunden wurde, höchst effektiv und beeindruckend ist. Glavinics plastischer Erfahrungsbericht ist ein unterhaltsamer persönlicher Überblick über Selbstverteidigungssysteme und ihre Anwendung im Alltag. Pointiert und kenntnisreich schildert er, wo die Grenzen zwischen Kampfsport und Kampfkunst liegen und wie sie salonfähig wurde. Und wie jede(r) die richtige Technik für sich findet.

Thomas Glavinic wurde 1972 in Graz geboren. 1998 erschien sein Debüt »Carl Haffners Liebe zum Unentschieden«. Es folgten u.a. die Bücher »Die Arbeit der Nacht« (2006), »Das bin doch ich« (2007), das auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, »Das Leben der Wünsche« (2009) und »Das größere Wunder« (2013). Seine Romane »Der Kameramörder« (2001) und »Wie man leben soll« (2004) wurden fürs Kino verfilmt. Thomas Glavinic erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Seine Romane sind in 25 Sprachen übersetzt, mehrere wurden für die Bühne adaptiert. Er lebt in Wien und Rom. 2016 erschien sein Roman »Der Jonas-Komplex«.

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Leseprobe

Täter und Opfer (I)

1

Mit dem Wort Opfer wird eine Person bezeichnet, der mit einer gewissen Regelmäßigkeit und in unterschiedlichen sozialen Situationen die Rolle desjenigen zukommt, der drangsaliert wird. In bestimmten Milieus wird das dem Opfer sogar recht unverblümt mitgeteilt (»Ey, du Opfer!«).

In diesem Buch ist mit dem Begriff Opfer eine Person gemeint, die spürbar passiv, unentschlossen, unsicher oder furchtsam wirkt und so die Aufmerksamkeit von Menschen auf sich lenkt, die ein Ventil für ihren Zorn suchen.

Man möchte es nicht glauben, aber vielen Menschen ist es gar nicht bewusst, dass sie Opfer sind. Entweder weil sie diese schmerzende Tatsache verdrängen oder weil sie in bestimmten wiederkehrenden Ereignissen, die an einen sensiblen Bereich ihres Wesens rühren, keine Muster erkennen können.

Mit dem Wort Täter hingegen bezeichnen wir in diesem Buch einen Menschen, der gern andere drangsaliert. Von ihm unterscheiden wir den »guten« Täter, also einen, der vorübergehend eine aggressive Haltung einnimmt, um jemandem, der in Schwierigkeiten ist, zu helfen. Dieser temporäre Täter ist sozusagen der gute Böse, der chronische Täter der böse Böse. [1]

Ich bin nicht in einer Gegend aufgewachsen, in der Mord und Totschlag an der Tagesordnung waren, aber man kann auch nicht behaupten, ich wäre im Villenviertel von Graz groß geworden.

Wo ich wohnte, gab es keinen Spielplatz, keinen Fußballplatz und nicht einmal eine Grünfläche. Der nächste Park war eine Viertelstunde Fußweg entfernt, und die paar Bäume in unserer Straße, die noch nicht hässlichen Neubauten hatten weichen müssen, teilten sich Hunde und Obdachlose für ähnliche Zwecke. Damit waren sie nicht einmal als Torstangen zu gebrauchen, weil der Tormann vor jeder Parade Ekel und Ehrgeiz hätte abwägen müssen.

Daher vertrieben meine Freunde und ich uns nach der Schule die Zeit auf mehr oder minder unkonventionelle Weise. Fußball spielten wir ungeachtet des Verkehrs mitten auf der Straße (so viele Autos fuhren ja nicht durch diese Nebenstraße, beschwichtigten wir unsere Eltern), unterhielten uns mit den betrunkenen Obdachlosen, die sich morgens, wenn das »Asyl«, wie die Nachtherberge für gestrandete Menschen eine Straße weiter hieß, ihre Türen bis zum Abend schloss, auf den Bänken entlang unserer Straße breitmachten, und einmal nahm mich ein Mitschüler, dessen Vater in jener Justizanstalt einsaß, in der mein Großvater als Aufseher arbeitete, zu einem Einbruch mit. Wir erbeuteten 72 Schilling, umgerechnet 5 Euro, die die Mitglieder einer katholischen Jugendorganisation bei ihren Eltern für einen guten Zweck gesammelt hatten, wie aus beiliegenden Zetteln hervorging, auf denen mit krakeliger Handschrift stand: Mama Spende 1 Schilling, Opa Spende 3 Schilling, Franzi Spende 1 Schilling … Ich war damals neun Jahre alt, und ich schäme mich noch heute, wenn ich mir die Gesichter der Kinder vorstelle, wie sie die aufgebrochene Geldkassette finden.

Wenn ich Ihnen nun versichere, dass mein nur ein Jahr älterer Mitschüler, der als Sitzenbleiber neu in unsere Klasse gekommen war (er war eher der Praktiker), das Schloss dieser Geldkassette mit einem herumliegenden Elektrobohrer unter entsetzlichem Getöse aufgebohrt hat, werden Sie mir glauben, dass ich in einer bunten Gegend voller ungewöhnlicher Menschen aufgewachsen bin. Man konnte einiges lernen, was in der Schule nicht unterrichtet wurde.

Eine der wichtigsten Lektionen lautete: Ein Täter sucht keine Probleme. Er sucht Lösungen. Das lernte ich früh, weil ich es oft mit solchen Menschen zu tun bekam. Auf dem Schulweg, auf Spielplätzen, in Fußballstadien, auf der Straße, überall begegnete ich jenen stumpfsinnigen Kreaturen, für die Weihnachten und Ostern zusammenfallen, wenn sie jemanden erniedrigen und verletzen können, manche von ihnen sogar mit brutaler Gewalt.

Da gab es einen mit Stahlkappen an den Schuhen, mit denen er betrunkene Obdachlose malträtierte. Es gab einen gewissen Gerd, der mit seinem Messer nicht zustach, sondern seinen Opfern Schnitte an den Armen zufügte, damit sie sich ihr Leben lang an ihn erinnerten. Da war ein mysteriöser Mann, den niemand je ein Wort sagen hörte und der auf uns Kinder mit einem Stock Jagd machte, wortlos und ohne Anlass, und der sich eines Tages mitten auf der Straße in den Kopf schoss und das überlebte, was seinen Charakter nicht besser machte. Vor einem namenlosen Biker, der eine Vorliebe für freischaffende Zahnmedizin hatte, versteckte sich jeder, Kinder wie Erwachsene, denn dieser war groß und stark und unberechenbar. Wenn er betrunken war, wurde er sanft und lud alle Kinder auf Eis und Kuchen ein, wenn er nüchtern war, drehte er durch. Er führte stets eine Zange mit sich, mit der er denen, die er niedergeschlagen hatte, einen Zahn riss.

Zum Glück zählte ich nie zum Opfertypus, allerdings war ich oft ein fassungsloser Zuschauer dieser Gewaltexzesse, sodass ich die Motive der Täter verstehen lernte. Natürlich waren sie böse. Vor allem jedoch waren sie: Ohnmächtige.

Täter sind Menschen, die zornig sind, weil sie sich machtlos fühlen. Das gilt für gemeine Straßenschläger wie für Schreibtischtäter. Die niederträchtigsten Manager sind nicht die, die Tausende Arbeitsplätze streichen, ohne an die Menschen hinter den Zahlen zu denken. Es sind vielmehr jene, die dabei ganz bewusst an diese Menschen denken, und zwar mit klammheimlicher Freude.

Weil die von uns als Täter bezeichneten Menschen manchmal nach jemandem suchen, an dem sie verbal oder physisch ihren Frust abreagieren können, wird fälschlicherweise angenommen, sie suchten Probleme. Das Gegenteil ist der Fall. Sie suchen Lösungen. Sie suchen Opfer, weil es mit denen keine Probleme gibt. Die Befriedigung, einen noch Schwächeren gedemütigt zu haben, überdeckt kurzfristig das Gefühlsdrama in ihrem Inneren.

2

Täter-Opfer-Konstellationen ergeben sich häufig, allerorts und nicht selten von beiden Seiten unbemerkt. Das kann eine vermeintlich harmlose soziale Konstellation sein, privat oder im Beruf, in der Aggressionen mehr oder minder subtil auf das Opfer übertragen werden, das können aber auch direktere Auseinandersetzungen sein, bei denen sich jemand einen Schwächeren sucht, um seine Frustration und die innere Leere für eine Weile vergessen zu können.

Mit dem Satz »Aber das sind unschuldige Zivilisten!« versucht in Rambo I der ehemalige Kommandeur Colonel Trautman dem überspannten Ex-Green-Beret John Rambo ein Massaker auszureden, worauf dieser erwidert: »Es gibt keine unschuldigen Zivilisten!«

Mal unter uns: So daneben liegt er damit nicht. Ein gewisses Maß an Vorsicht ist gegenüber Menschen, die wir nicht gut kennen, durchaus angebracht. Das schließt uns selbst allerdings ein. Deswegen gibt es in Wahrheit keine harmlosen sozialen Situationen, so wie es im Leben keine Übungen gibt.

Merke: Es gibt keine Übungen!

Möge dieser Satz an Ihrem Gedankenfirmament als Fixstern hell erstrahlen: Jede Sekunde ist der Ernstfall.

Den meisten Menschen ist diese unumstößliche Tatsache nicht bewusst, und einige, die sie verstanden haben, schüchtert sie ein. Für mich macht sie unser Dasein erst zu dem, was es ist: kein Videospiel, in dem man zehn Leben verbrauchen kann, bis es »Game over« heißt, sondern vielmehr ein einmaliger und einzigartiger Prozess, in dem jederzeit und überall ein Wunder warten kann.

3

Als Opfer werden in der Regel Menschen ausgewählt, die sich nicht verteidigen können oder zumindest Wehrlosigkeit signalisieren, sei es durch ihre Körpersprache, sei es durch das, was sie sagen oder nicht sagen.

Es gibt Menschen, die sind ihr ganzes Leben lang Opfer. Aber das müsste nicht sein.

Merke: Zu alt, um seine Fähigkeiten zur geistigen und körperlichen Selbstverteidigung zu stärken, ist man erst nach dem Zelltod.

Jede Frau und jeder Mann ohne schwerwiegende gesundheitliche Probleme kann lernen, sich effizient [2] und effektiv zu verteidigen, auf psychologischer und auf physischer Ebene, überraschend schnell und mit teils faszinierender, teils schockierender Durchschlagskraft. Auch wenn Sie sich das jetzt noch nicht vorstellen können oder gar für absurdes Geschwätz halten: Vorausgesetzt, Sie haben zuvor für sich selbst entschieden, etwas Zeit und Energie zu investieren, werden Sie ab einem gewissen Tag keine Angst mehr haben, von einem Angreifer verletzt zu werden. Sie werden Angst haben, den Angreifer selbst ernsthaft zu verletzen.

4

Man versteht den Begriff »Selbstverteidigung« nicht ganz richtig, wenn man dabei bloß an Finsterlinge in der nächtlichen U-Bahn denkt.

Der 2015 verstorbene Motörhead-Bandleader Lemmy Kilmister, ein großer Mann, hat in einem 2008 mit der Süddeutschen Zeitung geführten Gespräch zu diesem Thema viel Zutreffendes gesagt. Man muss dem Interviewer für die weise Frage Dank und Anerkennung aussprechen.

Süddeutsche: Woran erkennt man Arschlöcher?

Lemmy: Es umgibt Arschlöcher eine servile Freundlichkeit – und zur selben Zeit etwas Umtriebiges. Es umgibt sie gleichzeitig dieses Unerwünschte. Als spiegele sich in ihren Augen das Unwohlsein, das sie bei anderen auslösen, zum Beispiel bei, hmm, Sensibelchen wie mir.

Ich habe zwar nicht das Format von Lemmy Kilmister, aber ein Sensibelchen bin ich auch. Manchmal rede ich mit jemandem zwei Stunden lang und fühle mich danach so leer, als wäre ich...

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