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Gefangene im Namen Gottes

Meine Flucht aus den Fängen einer Polygamistensekte

AutorCarolyn Jessop
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl548 Seiten
ISBN9783732563456
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR

Carolyn Blackmore wird in eine Polygamistensekte hineingeboren, in der Frauen keine Rechte haben und den Männern gehorchen müssen. Da diese Gesellschaft mit ihren frauenverachtenden Strukturen von klein auf das Einzige ist, was sie kennt, stellt Carolyn sie niemals in Frage. Bis sie mit 18 dazu gezwungen wird, den 50-jährigen Merril Jessop zu heiraten. In den folgenden 15 Jahren teilt sie Haus und Mann mit insgesamt sechs weiteren Frauen und bekommt selbst acht Kinder. Der Bevormundung und den brutalen Schikanen ihres Ehemanns und der anderen Frauen hilflos ausgeliefert, hält Carolyn es nicht mehr aus. In ihrer Verzweiflung bleibt ihr nur ein Ausweg: Bei Nacht und Nebel wagt sie mit ihren Kindern die Flucht.

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Leseprobe

Vorwort
Die Alternative: ein Leben in Angst
oder Freiheit


Flucht. Seit Monaten hatte ich auf diesen Moment gewartet – jetzt war es so weit. Ich musste schnell handeln, durfte mich nicht von der Angst beherrschen lassen. Ich hatte nur einen Versuch. Und es ging um neun Menschenleben: das meiner acht Kinder und mein eigenes.

Montag, 21. April 2003. Um zehn Uhr abends stellte ich fest, dass mein Mann irgendwann zu einer Geschäftsreise aufgebrochen war. Meine acht Kinder waren zu Hause, auch mein Ältester, der fünfzehnjährige Arthur, der oft auswärts auf Baustellen arbeitete. Diese zwei entscheidenden Voraussetzungen mussten gegeben sein, damit ich flüchten konnte: dass mein Mann fort war und dass meine Kinder alle daheim waren. Mir blieben nur ein paar Stunden Zeit.

Die Alternative zur Flucht hieß, in ständiger Angst zu leben. Ich war fünfunddreißig und verzweifelt entschlossen, aus der polygamen Lebenswelt zu flüchten, der einzigen, die ich kannte. Meine Vorfahren waren seit sechs Generationen Polygamisten. Ich wurde in eine Sekte hineingeboren, die sich Fundamentalist Church of the Latter-Day Saints (FLDS) nennt – im Deutschen bekannt als Fundamentalistische Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (FHLT). Unsere kleine Gemeinschaft, die an der Grenze zwischen Utah und Arizona lebte, zählte etwa zehntausend Menschen.

Mit achtzehn wurde ich in eine arrangierte Ehe mit Merril Jessop gezwungen, einem fünfzigjährigen Mann, den ich kaum kannte. Ich wurde seine vierte Frau und bekam innerhalb von fünfzehn Jahren acht Kinder – von Arthur, meinem Ältesten, bis zu meinem jüngsten Sohn Bryson, der damals achtzehn Monate alt war und noch gestillt wurde. Mein Sorgenkind von den übrigen sechs war mein Sohn Harrison, fast vier Jahre alt, der durch eine hoch aggressive Krebserkrankung, ein spinales Neuroblastom, schwere Nervenschäden hatte.

Als mir klar wurde, dass ich tatsächlich flüchten konnte, ging ich als Erstes zu meiner Schwester Linda, um von dort zu telefonieren. Von zu Hause aus war das nicht möglich, denn die Telefone wurden abgehört. Die anderen sechs Frauen meines Mannes waren misstrauisch. Ich galt als etwas zu selbständig, zu eigenwillig, deshalb hatten meine Mitfrauen immer ein Auge auf mich. Beim geringsten Verdacht würde eine von ihnen sofort Merril anrufen.

Auch meine Schwester gehörte der FLDS-Gemeinschaft an, aber sie und ihr Mann führten keine polygame Ehe. Sie wusste aus früheren Gesprächen mit mir, wie verzweifelt es mich zur Flucht drängte. Wir waren beide der Meinung, dass die Sekte unter der Führung ihres Propheten Warren Jeffs erschreckend extrem wurde. »Lass den Kelch an mir vorübergehen«, witzelten wir immer, wenn wir miteinander telefonierten.

Warren Jeffs predigte, seit er nach dem Tod seines Vaters Rulon Jeffs die Führung der Sekte übernommen hatte, er selbst sei der fleischgewordene Jesus Christus und sein verstorbener Vater sei Gott. Und er erging sich immer öfter in dunklen Andeutungen, dass er seine Anhänger zum »Zentrum«, wie er es nannte, führen wolle. Wir befürchteten, er meinte damit eine von einer Mauer umgebene Siedlung, aus der es kein Entkommen mehr gab. Denn Jeffs war nicht der Meinung, dass die Menschen das Recht hatten, selbst zu entscheiden.

Mein Mann hatte großen Einfluss in der FLDS und stand Jeffs sehr nahe. Vermutlich würde mein Mann mit seinen sieben Frauen und fünfundvierzig Kindern unter den Ersten sein, die Jeffs zu diesem »Zentrum« brachte. Für mich und meine Kinder wäre es nichts anderes als ein Gefängnis gewesen – und wir hätten es sofort melden müssen, wenn ein anderer vom rechten Weg abkam oder dem Wort Gottes nicht gehorchte.

Während meiner Kindheit in der FLDS war unser Leben nicht so extrem reglementiert wie später unter Warren Jeffs. Die Kinder der Gemeinschaft besuchten öffentliche Schulen. Doch damit war Schluss, als Jeffs die Führung übernahm. Die Lehrer an den öffentlichen Schulen seien von Heiden ausgebildet worden und verdorben, befand er. Jeffs ordnete an, dass alle FLDS-Kinder in kircheneigene private Schulen zu gehen hätten, in die sogenannten »Schulen der Priesterschaft«.

Unsere Kinder sind die »von Gott auserwählte Saat«, predigte Jeffs, und unsere Pflicht für uns als Volk Gottes sei es, sie vor allem Unreinen zu bewahren. In den FLDS-Schulen wurden die Kinder einer Gehirnwäsche unterzogen, statt unterrichtet zu werden. Meine Kinder lehrte man, dass die Dinosaurier niemals existiert hätten und der Mensch niemals den Fuß auf den Mond gesetzt habe. Ich erlebte mit, wie ihre Entwicklung immer mehr gehemmt wurde.

Ich war Lehrerin an einer öffentlichen Schule gewesen und liebte die Literatur. Ich hatte über dreihundert Kinderbücher gesammelt. Kurz nachdem Jeffs die Führung übernommen hatte, ordnete er an, dass alles weltliche Material – einschließlich Bücher – aus der Gemeinschaft verschwinden müsse. Mein Mann befahl uns, dieser Anordnung Folge zu leisten. Unser Haus wurde von oben bis unten durchsucht, alle Literatur, einschließlich meiner Kinderbücher, eingesammelt und vernichtet.

Die Mädchen, die Jeffs verheiratete, wurden immer jünger, das wusste jeder von uns, und er selbst nahm sich eine Frau nach der anderen (zuletzt waren es siebzig). Einmal kam ich nach einem von Harrisons Krankenhausaufenthalten nach Hause und konnte meine zwölfjährige Tochter Betty nicht finden. Als ich herumfragte, wo sie sei, bekam ich keine Antwort. Ich war ganz aufgelöst. Schließlich sagte mir jemand, sie habe »den Wünschen ihres Vaters« Folge geleistet. Und ich erfuhr, dass sie und mehrere andere junge Mädchen zum Übernachten ins Haus des Propheten eingeladen worden waren …

Als ich bei meiner Schwester ankam, rief ich als Erstes bei der Polizei an. Beim Polizeirevier in Arizona nahm um diese Uhrzeit niemand mehr ab, ich landete bei einem Anrufbeantworter. Aber das Revier in Utah war noch besetzt. Ich fragte, ob dort jemand bereit sei, einer Frau und ihren Kindern zu helfen, die die FLDS-Gemeinschaft verlassen wollten. Der Polizist sagte, sie könnten in diesem Fall nichts tun, denn wir lebten zwar nur ungefähr eine Meile jenseits der Grenze, aber juristisch gesehen eben in Arizona.

Es ging schon auf elf Uhr nachts zu. Ich rief bei einer Gruppe an, die Frauen bei der Flucht aus der Polygamie unterstützt, aber dort konnte niemand unmittelbar aktiv werden.

Mitternacht rückte näher, bald würde die Falle zuschnappen. Meine Schwester und ich riefen meinen Bruder in Salt Lake City an. Arthur hatte die Sekte vor vier Jahren verlassen, um die Frau zu heiraten, die er liebte und die gleichzeitig seine Stiefschwester war. Als seinerzeit die dritte Frau unseres Vaters zu uns zog, brachte sie ihre acht Kinder mit. Arthur verliebte sich in Thelma, eine ihrer Töchter. Sie bekamen jedoch keine Heiratserlaubnis, obwohl sie biologisch nicht verwandt waren. Als der damalige Prophet, Warren Jeffs’ Vater, Thelma einen Mann als Ehegatten zuwies, den sie nicht wollte, floh sie zusammen mit Arthur. Sie verließen die FLDS, heirateten und bauten sich in Salt Lake City ein gutes Leben auf.

Arthur war zu Hause, als ich anrief. »Arthur, wenn ich es heute Nacht noch versuche, komme ich hier raus. Hilfst du mir?«

»Carolyn«, antwortete er, »ich werde alles tun, um dir zu helfen, aber auch wenn ich sofort losfahre, kann ich frühestens um fünf Uhr morgens bei dir sein.«

»Kommst du?«, fragte ich und bemühte mich, meine Verzweiflung nicht durchklingen zu lassen. Wir lebten dreihundert Meilen entfernt. Er würde die Nacht durchfahren müssen.

»Ich komme«, sagte er.

Wir vereinbarten, uns bei Canaan Corners zu treffen, einem Mini-Markt jenseits der Grenze in Utah, drei Meilen von uns entfernt. Arthur sagte, er werde mit einem Anhänger kommen, um meinen Van nach Salt Lake City zu bringen. Der Wagen war zwar auf meinen Namen angemeldet, aber die Nummernschilder waren nicht mehr gültig. Die Frauen in der Gemeinschaft durften zwar Auto fahren, aber unsere Wagen hatten entweder gar keine oder abgelaufene Nummernschilder, so dass wir von der Polizei angehalten wurden, wenn wir ohne Erlaubnis unseres Ehemanns irgendwo hinfahren wollten. Wir neun würden alle in Arthurs Geländewagen passen, und er wollte unseren anderen Bruder Darrell bitten, auch mitzukommen.

Mein Benzintank sei fast leer, sagte ich zu Arthur, aber ich würde alles tun, um zum Treffpunkt zu gelangen. »Bitte komm mich suchen, wenn ich nicht auftauche«, flehte ich ihn an. »Vielleicht komme ich nicht aus der Stadt heraus. Bitte fahr nicht wieder weg ohne mich.«

Jetzt musste ich mir etwas einfallen lassen, um meine Kinder aus dem Haus und in meinen Van zu bekommen. Sie würden niemals mitkommen, wenn sie wüssten, dass wir aus der Gemeinschaft flohen.

Meine Kinder hatten große Angst vor der Welt draußen. Uns wurde stets eingebläut, dass alle Menschen außerhalb unserer Gemeinschaft böse seien. Der bevorstehende Weltuntergang ist ein Kernpunkt der FLDS-Lehre. Diesem Glaubenssatz zufolge werden, wenn Gott kommt, um die Bösen zu vernichten, alle Menschen außerhalb der Gemeinschaft vernichtet. Diejenigen jedoch, die sich als würdig erwiesen hatten, würden als Gottes auserwähltes Volk verschont und ins himmlische Königreich erhoben werden. Wir spielten als Kinder dementsprechend nicht Verstecken, sondern Apokalypse.

Ich weiß noch, wie uns die Leute mit Verachtung und Abscheu musterten, wenn wir in unseren...

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