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Geht's dir gut oder hast du Kinder in der Schule?

Was der Schulwahnsinn mit uns und unseren Kindern macht und wie wir ihn überleben - Eine Mutter erzählt

AutorAnke Willers
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783641239084
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Vom Ernst des Lebens, der keinen Spaß versteht

Wer heute sein Kind einschult, wird als Mutter gleich miteingeschult. Weil Lehrer im Unterricht vieles nur anreißen und dann die Eltern in die Pflicht nehmen. So wird der Schulerfolg eines Kindes auch zum Erfolg der Eltern: Stimmen die Noten, haben sie alles richtig gemacht. Wenn nicht, kommen die Selbstzweifel. Und die Angst: Wird das Kind später mithalten können?

Auch Anke Willers, berufstätige Mutter von zwei Mädchen, ging es so. Anschaulich erzählt sie von der Schulzeit ihrer Töchter und wie sie seit Jahren als Hilfslehrerin überlebt. Im Austausch mit renommierten Experten beschreibt sie, warum Schule heute so kompliziert ist, wie man sich ein Stück Gelassenheit zurückholt und bei all dem nicht den Humor verliert.

Anke Willers ist Journalistin und Buchautorin. Viele Jahre lang war sie Textchefin der Zeitschrift ?ELTERN? und hat dort als Kolumnistin über ihren Familienalltag geschrieben. Heute ist sie leitende Redakteurin bei ?ELTERNfamily?. Sie ist verheiratet, hat zwei Töchter im Teenageralter und pendelt zwischen München und Hamburg.

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Leseprobe

Jetzt mal mit Abstand: Warum kriegen heute so viele Kinder eine Diagnose?


In nahezu jeder ganz normalen Grundschulklasse gibt es sie: Kinder, die irgendwas haben – Legasthenie oder Dyskalkulie oder AD(H)S (Aufmerksamkeitsdefizit-Störung mit oder ohne Hyperaktivität) oder irgendein anderes Problem, das ihnen beim Lernen im Weg steht, obwohl sie eigentlich pfiffige kleine Leute sind.

Sie haben also eine Diagnose – und wenn sie Glück haben, ist die Diagnose so, dass sie dem Kind Erleichterungen bringt in der Schule. So gibt es zum Beispiel für die diagnostizierte Legasthenie in den meisten Bundesländern einen Nachteilsausgleich: Die Rechtschreibfehler werden bei der Notengebung weniger gewichtet. Oder gar nicht gezählt. Das Kind bekommt in Prüfungen mehr Zeit.

Bei den meisten anderen Diagnosen gibt es aber oft erst mal keine Erleichterungen. So haben beispielsweise Kinder mit einer Rechenstörung in vielen Bundesländern Pech gehabt. Sie kriegen keinen Nachteilsausgleich – es sei denn, ihre Eltern haben den Nerv, zu klagen oder mit dem Lehrer über seine Ermessensspielräume zu diskutieren.

Versucht man das Thema offen anzusprechen, trifft man nicht selten auf Skepsis – vonseiten der Lehrer, Omas, der anderen Eltern, die diese Probleme mit ihren Kindern nicht in der Schule haben: »Sind diese ganzen Diagnosen, diese Etikettierungen nicht übertrieben?«, fragen sie. Nehmen die Eltern sie vielleicht nur deshalb dankbar auf, weil sie dann endlich einen Namen haben für die eigene Ratlosigkeit, die eigene Erschöpfung und die Schulprobleme? Vielleicht auch, weil es leichter ist zu sagen: »Mein Kind hat eine Krankheit oder Sowiesoschwäche«, statt zu sagen: »Mein Kind ist nicht so schlau«? Oder verhaltensauffällig? Oder schlecht gefördert, schlecht erzogen gar?

Unterstellungen dieser Art werden genährt von Publikationen wie der des amerikanischen Neurologen Richard Saul: ADHD does not exist, hieß sein Buch aus dem Jahr 2014: ADHS gibt es gar nicht …2

»Solche Thesen finde ich schwierig und einen Schlag ins Gesicht der betroffenen Eltern und Kinder«, erklärt mir Professor Michael Schulte-Markwort im Gespräch. Er ist ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und hat schon Tausende Kinder angeschaut und untersucht. »Ich sehe diese Familien jeden Tag, und ich sehe auch: Die Eltern machen sich Sorgen, weil das Kind nicht zurechtkommt in der Schule, und sie fürchten, dass es dadurch im Leben benachteiligt sein wird. Was ist verwerflich daran?«

Im Kontext von Schulproblemen diagnostiziert der Professor am häufigsten Teilleistungsstörungen. Darunter fallen vor allem die Legasthenie, die Dyskalkulie oder auch die Dyspraxie, eine Koordinationsstörung (siehe »Dyspraxie«). Im Schnitt sind von diesen Störungen etwa fünf Prozent eines Schülerjahrgangs betroffen. In jeder Klasse also ein bis zwei Kinder. Dazu kommen andere Auffälligkeiten, die Lernprobleme verursachen – wie zum Beispiel ein schlechtes akustisches Kurzzeitgedächtnis oder AD(H)S.

Häufige Ursache für diese Schwierigkeiten, so Michael Schulte-Markwort, seien meist Verschaltungsstörungen im Gehirn, die schon in einer frühen Phase der Schwangerschaft entstünden, wenn sich das Gehirn entwickle. Die Kinder seien dabei aber meist normal oder sogar überdurchschnittlich intelligent. »Kann ja sein«, sagen die Skeptiker, wenn sie das hören, »aber früher gab es trotzdem nicht so viele Diagnosen.«

Stimmt, es gab nicht so viele Diagnosen. Lernstörungen und psychische Probleme waren trotzdem da: Die Rate der Auffälligkeiten im psychiatrischen Bereich liege seit 30 Jahren unverändert bei etwa 18 bis 21 Prozent, erklärt mir Michael Schulte-Markwort. Die meisten dieser Störungen verursachen eben auch Lernprobleme. Und die fallen heute eher auf. Weil die Diagnosemöglichkeiten besser sind. Und weil die Lehrpläne im Zuge der PISA-Studien immer voller geworden sind – und die Zeit, in der Kinder Stoff aufholen können, immer knapper.

Sie fielen aber auch deshalb auf, so Schulte-Markwort, weil sich das Verhalten der Eltern verändert habe: Sie gingen mit ihren Kindern eher zum Arzt, wenn sie etwas Auffälliges beobachteten. Früher hingegen seien sie spät oder gar nicht gekommen.

Warum das so war? Zum Beispiel, weil früher nicht so genau hingeschaut wurde: Die Kinder standen nicht so sehr im Fokus der Erwachsenen. Sie kamen nicht schon mit einem Jahr in die Krippe, manche besuchten nicht mal den Kindergarten. Sie wurden weniger beobachtet und weniger mit Gleichaltrigen verglichen. Es gab keine Lern-und Entwicklungsgespräche in der Kita und in der Grundschule. Es gab kaum Ganztagsschulen. Und wenn das Kind in der Schule nicht so brillierte, war das keine Katastrophe.

Denn erstens hatte man früher nicht nur ein oder zwei Kinder, sondern mehr. Eins war dann sicher darunter, das gut war in Mathe und Deutsch. Und die anderen hatten eben andere Talente.

Dazu kam: Früher lag die Hemmschwelle, wegen eines Schulproblems mit dem Kind zu einem Psychologen oder Psychiater zu gehen, viel höher – und auch die Hürden, die es auf dem Weg dorthin zu überwinden galt. Wer sich doch aufraffte, musste sich auf sehr lange Wartezeiten einstellen. Nach wie vor ist die Versorgung mit Kinderpsychiatern nicht gut: auf 18 Millionen Kinder unter 18 Jahren kommen etwa 1800 dieser Fachärzte. Früher war das Verhältnis noch schlechter. Und so fanden sich unsere Eltern und Großeltern irgendwann ab mit der Erkenntnis, dass das Kind eben nicht so leicht lernen konnte und keinen so guten, geschweige denn hohen Bildungsabschluss erreichen würde.

Auch heute treten die meisten Eltern den Gang zum Psychiater, Neurologen oder Psychologen nicht leichtfertig an. Es kann zwar durchaus entlasten, wenn man einen Namen hat für die Lernprobleme. Viele fürchten aber nach wie vor eine Stigmatisierung und dass ihr Kind abgestempelt wird – als nicht normal im Kopf. Als irgendwie gestört. Psycho. Und sie als Eltern gleich mit: Da habt ihr wohl irgendwas falsch gemacht …

Manch einer zögert auch, weil er sich denkt: Vielleicht wächst sich das Problem aus. Vielleicht müssen wir eben nur mehr üben und geduldig sein. Und überhaupt: Ist es nicht eine ziemlich bedenkliche Entwicklung, dass alle Kinder stromlinienförmig funktionieren müssen, dass wir keinen Platz, keine Toleranz mehr haben für Normabweichungen? Dass heute Kinder als krank gelten, die früher als »interessante Typen« durchgingen: Bei Michel aus Lönneberga oder Pippi Langstrumpf wäre doch auch kein Mensch auf die Idee gekommen, sie könnten eine Störung haben. Obwohl auch sie wild und unangepasst waren – und zumindest Pippi unbeschulbar.

Und ist es nicht auch eine gesunde Einstellung, so zu denken?

»Sicher kann man es so sehen«, sagt Michael Schulte-Markwort, »aber dann muss man auch akzeptieren, dass sich fortsetzt, was früher ebenfalls normal war: nämlich dass nicht wenige Menschen in ihrem Leben weit unter ihrem Potenzial bleiben oder sogar regelrecht scheitern, weil man ihr Problem nicht erkannt und ihnen nicht geholfen hat.«

Natürlich, so der Professor, gebe es auch Modediagnosen. In den Nullerjahren sei das AD(H)S gewesen, aktuell sei es eher das Asperger-Syndrom, eine Variante des Autismus. »Die Eltern kommen dann mit einer Vermutung, weil sie so viel davon gehört haben. Oder die Erzieherin, die Lehrerin hat ihnen empfohlen, mal ›nachschauen‹ zu lassen. Und manche von ihnen kann ich tatsächlich wieder nach Hause schicken und ihnen sagen, dass ihr Kind einfach nur lebhaft ist oder verträumt, aber nicht behandlungsbedürftig. Das ist mir allerdings lieber als Familien, die durchs Raster fallen – weil sie nicht kommen, obwohl Therapiebedarf besteht.«

Professor Schulte-Markwort hat recht: Unerkannte oder schlecht behandelte Lernstörungen führen meistens nicht nur zu niedrigeren Bildungsabschlüssen, sondern haben fast immer auch sekundäre Folgen für das Selbstbild: Die Kinder halten sich – auch später als Erwachsene noch – für dumm, trauen sich immer weniger zu, ziehen sich zurück oder werden aggressiv.

Die Sache mit den Diagnosen ist also eine Gratwanderung, für die ein Arzt viel Erfahrung braucht, wenn er nichts übersehen – aber auch nichts überdiagnostizieren will. Denn Lernprobleme haben selten nur eine Ursache und machen auf verschiedenen Ebenen Probleme.

So ist AD(H)S in der Vergangenheit auch immer wieder mit hirnorganischen Abweichungen in Verbindung gebracht – vor allem mit einem Ungleichgewicht beim Botenstoff Dopamin. Zu wenig Dopamin, so wurde diskutiert, könnte ein Grund dafür sein, dass die betroffenen Kinder eine geringere Aufmerksamkeitsspanne haben und es oft nicht – wie in der Schule gefordert – schaffen, einen längeren Text zu lesen oder bei einer Prüfung bis zum Schluss bei der Sache zu bleiben.

Allerdings ist die Datenlage hier nicht eindeutig, und wahrscheinlich ist auch: Nicht nur die Gehirnchemie oder eine gewisse Veranlagung spielen eine Rolle, sondern auch die Lebensumstände. Zu viel Hektik im Alltag, zu viele...

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