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Genderlinguistik

Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht

AutorDamaris Nübling, Helga Kotthoff
VerlagNarr Francke Attempto
Erscheinungsjahr2018
Reihenarr studienbücher 
Seitenanzahl393 Seiten
ISBN9783823301523
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
In kaum einer Disziplin divergieren wissenschaftlicher Forschungs- und öffentlicher Kenntnisstand so stark wie bei dem Thema Genderlinguistik. Dies liegt unter anderem daran, dass es bislang keine Einführung gibt, die Verständlichkeit mit wissenschaftlichem Anspruch verbindet. Dieses Studienbuch richtet sich an Studierende und Lehrende der Germanistischen Linguistik und anderer Philologien. Es bietet eine fundierte, und dabei stets verständliche Einführung in das Thema sowie einen Überblick über die aktuelle Forschungslage. Behandelt werden alle Bereiche der Systemlinguistik sowie der Sozio- und Gesprächslinguistik. Das inhaltliche Spektrum reicht von stimmlichen Unterschieden, dem Komplex Genus Sexus Gender und Personennamen über die Konstruktion von Geschlecht in Wörterbüchern bis hin zu Unterschieden in Gesprächen, auch in der Scherz- und der institutionellen Kommunikation. Es schließt mit einem Kapitel zu den Neuen Medien, in denen zunehmend genderisierte Selbstdarstellungen zu beobachten sind. Eine umfangreiche Bibliographie bietet eine gute Grundlage für die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema.

Damaris Nübling lehrt seit 2000 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Historische Sprachwissenschaft. Sie forscht zum Sprachwandel, zur Dialektologie, Genderlinguistik und Namenforschung. Derzeit leitet sie mehrere Forschungsprojekte zu Genusbesonderheiten und zu Personennamen. 2014 erhielt sie den Konrad-Duden-Preis. Helga Kotthoff lehrt seit 2007 an der Universität Freiburg Germanistische Linguistik mit Schwerpunkten in Gesprächsforschung, Soziolinguistik und Deutsch als Fremdsprache. Sie forscht zu Scherzkommunikation, Gender sozio- und interaktionslinguistisch, schulischen Interaktionen und solchen im Deutschen als Fremdsprache. Claudia Schmidt lehrt seit 1996 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Germanistische Linguistik mit Schwerpunkten in Deutsch als Fremdsprache, Zweitsprachenerwerbsforschung und Medienlinguistik. Sie forscht zum Fremdsprachenerwerb, zur Genderlinguistik und zu Deutsch als Fremdsprache.

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Leseprobe

1.1 Was ist Geschlecht?


Geschlecht ist eine in vielen Gesellschaften praktizierte soziale Unterscheidung von Menschen, die am Körper ansetzt. Als Geschlechtszugehörigkeit wird hier das begriffen, wozu Menschen sich selbst bekennen. In den meisten Fällen entspricht ihre Geschlechtsidentität (Gender) der bei der Geburt vorgenommenen und von den Genitalien abgeleiteten Geschlechts(klassen)zuordnung (Sexus). Ist der Sexus nicht schon vorher bekannt, so lautet die erste Frage von Angehörigen nach der Geburt: „Und – was ist es?“. Mit „was“ könnte theoretisch viel gemeint sein, praktisch bezieht es sich nur auf das Geschlecht. Die Geschlechtszuordnung sortiert die Menschen von Anfang an in (mindestens) zwei Klassen und hat gewaltige soziale Folgen (zur jüngst etablierten dritten Klasse im Personenstandsregister s.u.). Das, was nach der Geburt allerorten vorgeführt und tagtäglich eingeübt wird, ist die – graduell ausgeprägte – soziale Geschlechterrolle (Gender), die die Binarität in aller Regel vergrößert. Mit Gender sind somit alle an die biologische (anatomische) Geschlechtsbestimmung andockenden vielfältigen Praktiken der Geschlechtsdarstellung (doing gender) gemeint (Kap. 2). Diese sind viel wirkmächtiger als Genitalien, Chromosomen- oder Hormonsätze und bestehen aus kulturell und historisch variablen Kleidungs-, Ornamentierungs-, Konsum-, Betätigungs-, Verhaltens- und auch Sprechweisen, die sachlich und logisch keinerlei Bezug zu dem haben, was man bei der Geburt zwischen den Beinen vorgefunden hat. Sie werden jedoch so früh und leidenschaftlich betrieben und dabei erhärtet, dass sie bald für Natur, für ‚angeboren‘ gehalten werden (Naturalisierung von Gender). Versuche, ins Genderinventar der anderen Geschlechtsklasse zu greifen (röcketragende Männer, krawattetragende Frauen), werden mehr oder weniger stark sanktioniert. Röcketragende Männer riskieren sogar den Verlust ihres Geschlechts, mindestens ihres Status, während hosetragende Frauen mittlerweile das Hosengeschlecht neutralisiert haben. Noch 1970 wurde die Parlamentarierin Lenelotte von Bothmer, weil sie es wagte, im Bundestag einen Hosenanzug zu tragen, von den (nicht anders gewandeten) Herren übel beschimpft („Sie sind ein unanständiges würdeloses Weib!“; „Sie sind keine Dame!“). Gender ist damit hochvariabel, kontingent und historisch wandel- inkl. umkehrbar (so war rosa früher die ‚Farbe der Jungen‘).

Die bei der Geburt vorgenommene Klassifikation wird als lebenslang begriffen und mit der Vergabe eines ebenfalls lebenslang geltenden, vergeschlechtlichten Namens hör- und sichtbar gemacht (Kap. 9). Eltern, die ihrem Kind schon lange vor der Geburt einen Proto- bzw. Pränatalnamen geben, ändern diesen häufig mit der Geschlechtsdiagnose. Da der Mehrheitsglaube der an zwei Geschlechter ist und tief in Gesellschaft, Gesetze, Sprache etc. eingelassen ist, untersuchen wir diese historisch sehr alte Unterscheidung in der deutschen Sprache. In diesem nicht-biologistischen Sinn sprechen wir von Gender oder einfach nur von Geschlecht, das die Kopplung von Gender an Geschlechtsorgane weder negiert noch erfordert. Auch viele andere Gesellschaften beziehen bei der Geschlechterunterscheidung körperliche Geschlechtsmerkmale ein. Da das natürliche, biologische oder körperliche Geschlecht oft sichtbar ist sowie – auf vielfältigste Art und Weise – sichtbar gemacht wird und auch bei der Geschlechtszuweisung durchaus thematisiert wird (der hat ja gar keinen Bart! die hat ja einen richtigen Bart!), da wir außerdem bei Kühen, Bullen und anderen Tieren nicht von Gender sprechen können, sondern deren Geschlechtsklasse sich nur aus körperlichen Merkmalen ergibt, sprechen wir auch von Sexus.

Auch auf der biologischen Sexusebene gelangte in den letzten Jahrzehnten die (medizinisch schon ältere) Erkenntnis ins allgemeine Bewusstsein, dass sich eine strikte Zweigeschlechtlichkeit nicht aufrechterhalten lässt. Auf anatomischer (innere und äußere Geschlechtsorgane), chromosomaler und hormonaler Ebene existieren vielfältige Zwischentypen und -formen, die bislang bald nach der Geburt medizinisch zugunsten der Geschlechtsbinarität bearbeitet (‚vereindeutigt‘) wurden. Auch so schafft man zwei (und nur zwei) Geschlechter und bannt man Ambiguität.

Gegenwärtig können wir beobachten, dass sich immer mehr Geschlechter und Geschlechtsidentitäten Gehör und Respekt verschaffen, z.B. Intersex-Personen (mit uneindeutigen Geschlechtsorganen), die heute nach der Geburt nicht mehr operativ vereindeutigt werden müssen (man wartet ihre eigene Entscheidung ab) und die seit neuestem von einem dritten Geschlechtseintrag („inter/divers“) Gebrauch machen können. Ebenso kann die Geschlechtsidentität (auch soziales oder psychologisches Geschlecht genannt) von der genitalienbezogenen Zuordnung abweichen (Transgender). Auch gibt es Personen, die sich jenseits jeglichen Geschlechts positionieren, jegliche Geschlechtszugehörigkeit also gekündigt haben (dem entsprechen in der Religion AtheistInnen): Sie weisen, egal, wie ihr Körper beschaffen ist, jegliche Vergeschlechtlichung von sich. Hier erlangen die Genitalien den Status von Haarfarbe oder Sommersprossen, sie sind irrelevant. Dabei haben auch geschlechtsfreie Menschen mit der Tatsache zu kämpfen, dass ihnen, ob sie es wollen oder nicht, ein Geschlecht übergestülpt wird: In jeder Begegnung versucht das Gegenüber, ihnen eine von zwei Geschlechtsklassen zuzuweisen. Auch die (deutsche) Sprache erzwingt eine Geschlechtsbinarisierung, da sie gerade in zentralen Bereichen nur zwei Optionen (und nicht drei oder vier) vorsieht, so etwa bei der Anrede (Frau oder Herr), in der Warteschlange (die Dame/der Herr war vor mir dran und kaum diese Person war vor mir dran), bei den Pronomen der 3. Person (sie oder er), bei der Namengebung (Michael oder Michaela). Unisexnamen (Toni, Nicola) irritieren viele, führen zu Nachfragen und werden nur selten vergeben. Standesämter raten von ihnen ab.

Wir werden dieses Spektrum an geschlechtlicher Vielfalt mit in den Bick nehmen, ohne umgekehrt aus dem Blick zu verlieren, dass die große Mehrheit der Menschen der Zweigeschlechtlichkeit frönt und sich mehr oder wenig stark zu ihrem Geschlecht bekennt. Beim doing gender (Kap. 2) werden auch biologische Fakten ins Feld geführt: Stimmunterschiede werden dramatisiert, Bekleidungen gewählt, die deutlich auf die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale hinweisen bzw. diese exponieren, Operationen durchgeführt, die die biologischen Geschlechtsmerkmale bearbeiten, vergrößern, ‚optimieren‘, betonen, Bärte werden wachsen gelassen etc. Biologische Geschlechtsmerkmale werden somit (neben einer Palette an kulturellen Indices) mehr oder weniger bewusst zur Geschlechtsdarstellung eingesetzt – ein Blick ins Fernsehen, ins Internet oder auch nur ein Tritt vor die Tür reichen zur Bestätigung dessen aus. Biologische Sexus- und soziale Genderklasse korrelieren zu weit über 90 %, und dies wird von vielen affirmiert.

Daher differenzieren wir (entgegen radikalkonstruktivistischen Ansätzen von Judith Butler und anderen) zwischen Sexus und Gender, wohl wissend, dass Gender relevanter für die Geschlechtsdarstellung und -zuordnung ist und in keiner logischen Beziehung zum Sexus steht. Die Soziologie unterscheidet in diesem Sinn zwischen Weibchen und Männchen (Sexus) sowie zwischen Frauen und Männern (Gender) (Hirschauer 2013). Wir alle führen einen Körper mit uns, der für andere sichtbar ist und dem diese ein Geschlecht zuweisen (ein Faktum, das Butler vernachlässigt). Dies zeigt: Geschlecht ‚gehört‘ nicht nur dem Individuum, Geschlecht wird in aller Regel und binnen kürzester Zeit von außen zugewiesen. Gelingt die Geschlechtszuweisung nicht, führt dies (beiderseits) zu Irritationen. Dies erfahren Transgender-Personen zu Beginn ihrer Transition, wenn sie Hormone einnehmen, ihre Kleidung verändern etc. Hier erweist sich das alltägliche Interesse an einer wohlgeformten Geschlechtergrenze am offensichtlichsten: „Also uns sind Beschwerden über Sie zu Ohren gekommen. Sie sind geschlechtlich nicht eindeutig“, zitiert eine davon betroffene Trans-Person ihren Arbeitgeber (Schmidt-Jüngst 2018a, 66). Viele gehen im Alltag davon aus, dass jede Person genau ein festes Geschlecht hat. Jemanden nach ihrem/seinem Geschlecht zu...

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