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E-Book

Generation Selfie

AutorChristian Cohrs, Eva Oer
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783959712606
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Unsere Welt wird zunehmends digitaler, speziell die junge Generation verbringt einen Großteil ihrer Zeit online und betreibt dabei mehr und mehr eine umfangreiche Selbstinszenierung. Der einzelne Mensch wird zum Ich-Darsteller, sein Leben zu einer nie endenden Show in sozialen Netzwerken, möglichst in Form einer Kette von Höhepunkten - ständig auf der Jagd nach Likes, Beachtung und Applaus. Das inszenierte Leben im Internet hat jedoch seinen Preis: Die 'Generation Selfie' lebt ihr Leben nicht für sich, sondern für andere, verkauft sich der Öffentlichkeit, gibt freiwillig Privatsphäre und Individualität auf - und auf der Jagd nach dem nächsten Like möglicherweise auch ihre Integrität. Die Journalisten Eva Oer und Christian Cohrs unterziehen die selbstverliebte und sensationslüsterne Generation Selfie einer schonungslosen Analyse. Welche Opfer bringen wir unserer digitalen Beliebtheit? Zeigen wir uns einfach nur im Netz, oder stellen wir uns dar wie Schauspieler? Tun wir noch, was wir wollen? Oder eher das, was die anderen liken? Richten wir uns nach der Bewertung anderer anstatt nach unseren eigenen Wünschen? Macht uns die Jagd nach Klicks nicht zunehmend manipulierbar? Was bedeutet die Dauerinszenierung für den Einzelnen und auch für unsere Gesellschaft? Welche Folgen hat sie für uns und unser Zusammenleben? Die Autoren zeichnen ein kritisches Bild der digitalen Generation.

Christian Cohrs ist Textchef des Berliner Wirtschafts- und Lifestylemagazins Business Punk. Vor seiner Tätigkeit als Journalist hat er in Bochum Theaterwissenschaft und Germanistik studiert und beschäftigt sich seit Jahren mit Schein und Wirklichkeit menschlicher Selbstinszenierung. Eva Oer hat in Bochum und Perpignan Germanistik und Französisch studiert. Sie lebt in Berlin und arbeitet als Journalistin, unter anderem für die taz.die tageszeitung.

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Leseprobe

3. #fitspiration
Die Generation Selfie und der Körperkult

»Teenager lässt sich Arm chirurgisch verlängern, um Ganzkörper-Selfies machen zu können«, lautete die Schlagzeile. Die Geschichte dazu: Der 17-jährige Marcel Fricke sei unzufrieden mit seiner Physiognomie gewesen, weil auf seinen Selbstporträts immer nur sein Oberkörper zu sehen war. Daher habe er sich den rechten Arm um 38 Zentimeter strecken lassen. Das berichtete Ende 2014 Der Postillon.1 Na ja, berichtet trifft es nicht ganz, da es sich um eine Satirewebsite handelt. Doch der Ozean aus absurden, aber zum Teil auch vollkommen ernst gemeinten Selfie-Schlagzeilen ist weit. Ein Beispiel? Gerne: »In China geben Menschen 1.000 Dollar für eine Kamera aus, die chirurgisch optimierte Selfies macht.« Das titelte im März 2016 Quartz, ein ernsthaftes Online-Nachrichtenportal.2 Die Überschrift mag etwas reißerisch sein, doch sie trifft den Punkt. Es geht in dem Artikel um eine Digitalkamera, die den Menschen zwar unversehrt lässt, dafür integrierte Make-up-Funktionen hat, die automatisch die Hautfarbe aufhellen, die Augen strahlen lassen, ein breites Kinn spitzer und volle Wangen schmaler machen.

Ganz unwahrscheinlich ist es also nicht, dass es eine Nachfrage für Selfie-OPs geben könnte. Vielleicht keinen Massenmarkt, aber doch interessant für Leute, die ihr Geld mit ihrem Gesicht verdienen. Tatsächlich erklärte etwa die 25-jährige Beauty-Bloggerin Claire-Louise Sheridan gegenüber der britischen Tageszeitung The Telegraph, sie habe bereits an sich herumschneiden lassen: Sie liebe Selfies und habe hohe Wangenknochen auf ihnen haben wollen, »deswegen habe ich meine mit ein wenig Filler betonen lassen«.3

Natürlich lässt sich nur schwer sagen, was genau den Anstoß für ein solches operatives Beauty-Update gibt, doch viel spricht dafür, dass Selfies mittlerweile eine Rolle spielen. In einer Umfrage der American Academy of Facial Plastic and Reconstructive Surgery hat 2014 jeder dritte Schönheitschirurg für Gesichtsbehandlungen angegeben, die Nachfrage für derartige Prozeduren sei gestiegen, weil die Interessenten durch Social Media selbstkritischer auf ihr Aussehen blickten. 58 Prozent der Ärzte berichteten auch, dass es im Vorjahr einen Zuwachs von Eingriffen bei Unter-30-Jährigen gegeben habe.4

Nicht nur das Gesicht fällt den frankensteinesken Begleiterscheinungen der Selfie-Manie zum Opfer. Das Lifting der Hände gilt als kommender Trend, der faltenfreien Verlobungsring-Fotos wegen. Für ein wirklich perfektes #putaringonit-Selfie reicht Maniküre nicht mehr aus. Es muss schon der zarte Handrücken eines Teenagers sein, selbst wenn die Verlobten deutlich jenseits der Adoleszenz sind. Klar, schon immer haben junge Menschen, selbst Teenager nach Mitteln gesucht, ihr Aussehen zu verbessern. Doch früher war es meist damit getan, sich ein frisches Ei auf dem Kopf aufzuschlagen, um für weichere Haare zu sorgen, oder eine Bierspülung zu machen für mehr Glanz. Die Generation Selfie dagegen greift gerne direkt zum großen Besteck und will Schlauchbootlippen vom Schönheitschirurgen.

Ein Beispiel hierfür ist Kylie Jenner, Instagram-Star mit vielen Millionen Abonnenten und Mitglied des in den USA für seine Reality-TV-Auftritte bekanntgewordenen Kardashian-Clans. Im Sommer 2015 verriet die damals 18-Jährige der New York Times, sie lasse sich regelmäßig die Lippen aufspritzen – und selbstverständlich gehe sie zu jemandem, der die künstlichen Lippen »super-natürlich« aussehen lasse.5 Nun wirkt die Selfie-versessene Jenner ebenso wie die restlichen Kardashians eh so natürlich wie Analogkäse – doch ihre offenkundige Bereitschaft, für ein fotogeneres Äußeres auch auf medizinischem Weg nachzuhelfen, ist nur konsequent. Radikal, aber der logische Abschluss der Selbstoptimierung.

Die Selfie-OP ist also real, wenn auch nicht der Regelfall. Normal hingegen erscheint die Bereitschaft, oder wohl eher das Bedürfnis, an seinen Selbstporträts auf technischem Wege etwas herumzutricksen. Nichts anderes ist der Zweck all der Filter, die in jeder Foto-App stecken. Wem diese nicht ausreichen, um seine Schokoladenseiten in den Vordergrund zu rücken, der greift zu Facetune. Mit diesem Programm kann man Pickel ausradieren, Muttermale tilgen, Apfelbäckchen verschlanken und Zähne weißen. Das Bedürfnis, die angenommene eigene Unvollkommenheit durch die Wunder der digitalen Bildbearbeitung zum Zeitschriftencover-tauglichen Zerrbild zu verfremden, scheint immens: Facetune hält sich souverän in Apples Top Ten der iTunes-Charts für kostenpflichtige Apps.

Warum der Aufwand? Weil die wachsende Bedeutung visueller Inhalte in den sozialen Netzwerken dazu beiträgt, dass wir uns immer intensiver überlegen, wie wir auf andere wirken. Und diese Frage stellen wir uns permanent – weil wir einem Strom von Likes und Kommentaren ausgesetzt sind, einem nie endenden Instant-Feedback zu unserer neuen Frisur, der urlaubsbraunen Haut, dem neuen Tattoo, jeder winzigen Veränderung an uns, die wir fotografisch dokumentieren, posten und bewerten lassen. Dabei steigt die Zahl unserer Kritiker permanent, weil es für die Generation Selfie selbstverständlich ist, sich beim Kennenlernen neuer Menschen auch online zu vernetzen – selbst wenn man mit dem Anderen womöglich nur eine Zeit lang oder nie wieder etwas zu tun haben wird. Dazu kommen all die Schulfreunde, Ex-Kollegen, verflossenen Liebschaften, die man mit der Zeit im Internet wiedertrifft.

Mit jeder bestätigten Freundschaftsanfrage bei Facebook, jedem Instagram-Abo steigt auch die Zahl der Menschen, mit denen wir uns vergleichen können. Und klar scrollen wir als Erstes neugierig durch ihre Alben und Bilder-Feeds, um mehr über unseren neuen oder alten Bekannten zu erfahren. Und diese Freunde setzen sich in unserer Timeline fest, ihre Fotos rauschen in mal mehr, mal minder regelmäßigen Abständen an uns vorbei. Wer sich permanent in sozialen Medien bewegt, begegnet auf virtuellem Weg Tag für Tag extrem vielen Leuten, mit denen er sich vergleichen kann. In die reale Welt übertragen, funktioniert Instagram dann etwa so, als würde man sich an einem Samstagvormittag mitten auf die Einkaufsstraße einer Großstadt stellen und sich bei jedem Passanten fragen: Würde mir dieser Pony auch stehen? Ist die sportlicher oder ich? Der Bart geht ja wohl gar nicht?!

Ständiges Vergleichen fördert jedoch nicht gerade die Zufriedenheit mit dem eigenen Aussehen. Das besagt schon das englische Sprichwort »Comparison is the thief of joy«. Übrigens ein bei Instagram tausendfach verwendeter Hashtag, der an alles Mögliche gepappt wird – vom Vorher-Nachher-Selfie bis zum Tattoo ebendieses Sprichworts. Eine Warnung an der richtigen Stelle. Denn natürlich haben sich auch Wissenschaftler eingehend mit der Wirkung sozialer Netzwerke auf die Psyche ihrer Nutzer befasst, zum Teil mit eindeutig negativen Ergebnissen: »Neid auf Facebook: Eine verborgene Bedrohung der Lebenszufriedenheit der Nutzer?«, raunten zum Beispiel die Autoren einer Studie der TU Darmstadt mit der Berliner Humboldt-Universität.6 Die Wissenschaftler befragten ihre rund 600 Versuchspersonen nach ihren Gefühlen während und nach dem Besuch ihrer Facebook-Seite. Mehr als ein Drittel der Interviewten bekundete demnach überwiegend negative Gefühle, zum Beispiel Frustration. Diese Studie vermutet, ausschlaggebend sei der Neid, der entstehe, wenn Facebook-Freunde voreinander das eigene Leben als vornehmlich positives Happening darstellen. Es gibt allerdings auch Untersuchungen, die zu einem gegenteiligen Ergebnis kommen. So vermeldet das Tübinger Leibniz-Institut für Wissensmedien, die meist positiven Statusmitteilungen auf Facebook machten eher glücklich als neidisch.7

# ALGORITHMUS: Logische Berechnungsvorschrift zur Lösung von Problemen, die den meisten Computeranwendungen zugrunde liegt. Viele soziale Netzwerke oder Suchmaschinen wie Google nutzen Algorithmen, die streng geheim sind und auf deren Basis uns bestimmte Suchergebnisse, Werbung etc. vorgeschlagen werden.

Was nun? Nehmen wir uns selbst als Maßstab, dann hängt es am Ende vielleicht vor allem davon ab, wann das Schicksal, oder vielmehr die ALGORITHMEN das Selfie-Vergleichsmaterial in unseren Social Media-Feed spülen. Ein Beispiel: Wir sitzen bei miesestem Regenwetter vor dem Fernseher auf dem Sofa. Auf dem Tisch dampft ein Blech voller mit Käse überbackener Nachos, als auf dem Second Screen, aka Smartphone, das Foto eines patschnassen Bekannten im patschnassen Trainingsanzug auftaucht – #regenlauf, #backontrack, #iheartrunning. Dann denken wir uns: »Du Trottel«. Erreicht uns das Foto zehn Minuten später, sind die Nachos aufgegessen, der Bauch spannt und wir denken erst »Du Trottel«, aber dann: »Verdammt, ich muss auch mal wieder zum Sport«.

Wenn wir ehrlich sind, was das Thema Fitness betrifft, erscheinen soziale Medien dann doch mehrheitlich als lupenreine Frust- und Neidmaschine. Und mit diesem Gefühl sind wir nicht allein. Das Unternehmen Technogym, ein Hersteller von Fitness-Geräten, dem also...

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