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E-Book

Geplünderte Demokratie

Die Geschäfte des politischen Kartells

AutorThomas Rietzschel
VerlagDeuticke im Paul Zsolnay Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783552056862
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Etwas ist faul im freien Europa. Lange wollte es niemand bemerken, jetzt ist es nicht zu übersehen: Die Demokratie verkommt zum Kuhhandel. Herrschaftlich agiert eine politische Kaste, der es nur um den Selbsterhalt geht. Der Steuerzahler unterhält sie aus Gewohnheit, nicht weil er sich viel von ihr erwarten würde. Das Volk darf den Politikern zusehen und dann für die Schäden aufkommen. In seinem neuen Buch beschreibt Thomas Rietzschel Zustände, vor denen wir gern die Augen verschließen. Er macht diejenigen namhaft, die sie verursachen. Ihr Widerpart sind die Bürger, die für die Demokratie auf die Straße gehen. Historisch fundiert und mit kritischer Schärfe analysiert Rietzschel Europa am Vorabend einer Revolution.

Thomas Rietzschel, geboren 1951 bei Dresden, Dr. phil., war Kulturkorrespondent der F.A.Z. und lebt heute als freier Autor in der Nähe von Frankfurt. Er veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zur Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Bei Zsolnay erschienen 2012 Die Stunde der Dilettanten, 2014 Geplünderte Demokratie und 2017 Die Handschrift des Legionärs Franz Eckstein.

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Leseprobe

In den Schoß gefallen
Das Dilemma der geschenkten Demokratie


Die Deutschen haben es gut getroffen. Ebenso wie die Österreicher sind sie Glückskinder der Geschichte. Die Demokratie, die ihnen grundgesetzlich verbrieft zusteht, mussten sie nicht erringen. Die politische Freiheit ist ihnen zugefallen. Sie wurde ihnen – Ironie der Geschichte – verordnet, nachdem sie einer Diktatur zugejubelt hatten, die Europa ins Verderben stürzte. Es waren die westlichen Siegermächte, Amerika, Frankreich und England, die uns, Deutschen wie Österreichern, den demokratischen Wandel nach der Niederlage des Nationalsozialismus verschrieben haben. Das Verfahren glich einer therapeutischen Maßnahme. Wie so viele Therapien musste sie zunächst gegen den Widerstand derer, denen sie helfen sollte, durchgesetzt werden. Und wer weiß, wie dieser Diktatur-Entzug ausgegangen wäre, hätte der verlorene Krieg die Völker nicht so erschöpft, dass sie sich zur Gegenwehr nicht mehr aufraffen konnten. Der Einsicht eigenen Versagens verdankte sich die Annahme demokratischer Verhältnisse nicht überwiegend.
Noch 1988 brach ein Sturm der Entrüstung los, weil der Schriftsteller Thomas Bernhard es gewagt hatte, in seinem Stück »Heldenplatz« an den frenetischen Beifall zu erinnern, mit dem die Österreicher fünfzig Jahre zuvor den Einzug ihres Landsmannes Adolf Hitler in Wien feierten. In der Alpenrepublik passte dieses provozierte Aufleben verdrängter Schuld so wenig zum historischen Selbstverständnis wie in Deutschland die Erinnerung daran, dass Hitler 1933 keinen Putsch anzetteln musste, um an die Macht zu kommen. Sie war ihm für trügerische Versprechen schlichtweg versteigert worden. Den Weg dazu hatte eine Öffentlichkeit bereitet, in der sich niemand genierte, der Monarchie nachzutrauern, einem Flotten-Kaiser, der das Parlament der Bürger, den Reichstag, als »Quatschbude« diffamierte. Heinrich Manns Erinnerung, der zufolge in der Weimarer Republik nachgerade französische Zustände geherrscht hätten, »weil in ihrer Exekutive einige sich selbst achteten«, der Geist dem Staat etwas gegolten habe, war die Erinnerung eines Hoffenden, die eines Realisten war sie nicht.
Der »Machtergreifung«, von der die Nationalsozialisten nachher sprachen, hatte es gar nicht bedurft. Vielmehr nutzten die Deutschen die Möglichkeiten der Demokratie, um die Demokratie in freier Wahl schnell wieder abzuschaffen. Eine Tatsache, die wir uns bei aller Anerkennung der statistisch belegten Zahlen und ungeachtet der dokumentarischen Aufarbeitung des Dritten Reichs, unzähliger Filme über Hitlers Frauen, Architekten, Generäle, Bauherren und Hunde, nur ungern bewusst machen. Lieber schlagen wir uns auf die Seite derer, die im Nachhinein versicherten, sie hätten nicht absehen können, was ihre Wahlentscheidung nach sich ziehen würde, obwohl doch gleichzeitig Tausende untertauchen und emigrieren mussten, weil sie vor den Folgen warnten, vor der Diktatur, der Verfolgung Andersdenkender, vor dem Krieg nicht zuletzt. Über diese Flucht ins Vergessen wäre weiter kein Wort zu verlieren, wir könnten die Angelegenheit den Historikern überlassen, wären Lehren aus der Geschichte gezogen wurden. Oberflächlich betrachtet scheint das sogar der Fall zu sein. Wo immer ein versprengter Trupp stampfender Neonazis aufmarschiert, stößt er auf die Übermacht antifaschistischer Demonstranten. »Rock gegen rechts« versammelt die Menge, in der Masse zeigen die Bürger Flagge. Geht es dagegen um die individuelle Herausforderung, werden sie vorsichtiger. Mit dem Verständnis, das die Nachgeborenen für das Arrangement ihrer Väter und Mütter mit der Diktatur aufbringen, wenn sie feststellen, »ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte«, beziehen sie abermals die familiär vertrauten Positionen. Hinter der geübten Nachsicht steckt schon die vorsorgliche Entschuldigung eigenen Versagens. Weil man seiner Überzeugung nicht zu trauen wagt, optiert man dafür, im Ernstfall selbst nichts für die Verteidigung der Demokratie tun zu müssen.
Ein Eingeständnis politischer Unreife, das vielen umso leichter fallen mag, als es der kleinere Teil der Mitläufer war, der die Strafe für das Unheil absitzen musste, das der gewählte Nationalsozialismus angerichtet hatte. Nur jene, die das Pech hatten, auf dem Gebiet der DDR zu leben, wurden buchstäblich dafür in Haft genommen, über vierzig Jahre lang. Nach der braunen waren sie noch einer zweiten Diktatur ausgesetzt, der roten, für die sie sich nicht mehr freiwillig hatten entscheiden können. Die Demokratie, die der alten Bundesrepublik nach 1945 in den Schoß fiel, mussten sie sich 1989 auf der Straße erkämpfen. Was sie dabei riskierten, kann nur ermessen, wer erlebt hat, wie die Diktatur mit denen umspringt, die sie ablehnen. Unverständlich bleibt es den anderen. Ein Vorwurf ist ihnen daraus nicht zu machen. Für ihr Glück müssen sich die Glücklichen nicht rechtfertigen. Zu sehen ist nur, dass auch die gute Erfahrung den Horizont beschränken kann, den politischen in erster Linie. Wie sonst sollten wir uns die ablehnende Verblüffung des Westens erklären, als der Ostdeutsche Joachim Gauck nach der Wahl zum Bundespräsidenten die Verteidigung der Freiheit zu einem Leitthema seiner Amtszeit machen wollte.
Wieso dieses Aufhebens um eine Sache, die sich doch längst von selbst versteht. Hinkte der Ossi den Verhältnissen nicht etwas hinterher? Gab es nichts Wichtigeres, soziale Gerechtigkeit, die Energiewende, das Elektroauto, das Rauchverbot, das Abitur für alle? Ja, sicher, Freiheit und Demokratie, gut und schön. Aber steht uns das nicht ohnehin zu, sozusagen von Natur aus? Muss man sich dafür besonders anstrengen? So oder so ähnlich mag es manchem, der sich damals im Stillen oder auch öffentlich über den Gauckschen Freiheitsfuror verblüfft zeigte, durch den Kopf gegangen sein. Und es stimmt ja: Wir verfügen über alle Instrumente einer repräsentativen Demokratie. Grundgesetz und Verfassung bieten dafür die rechtliche Garantie. Wir alle sind per definitionem Bürger eines demokratisch regierten Landes, Verfassungspatrioten, wie es uns Dolf Sternberger und Jürgen Habermas gelehrt haben. Aber hätten sich die Deutschen und wenig später die Österreicher ihre freiheitliche Verfassung auch aus freien Stücken gegeben, ohne den erzieherischen Einfluss der westlichen Demokratien, die man eigentlich hatte besiegen wollen? »Am deutschen Wesen«, hieß es einmal, »soll die Welt genesen.« Aus den Worten des aufrechten Patrioten Emanuel Geibel, auf dessen 1861 entstandenes Gedicht »Deutschlands Beruf« der Spruch zurückgeht, haben die folgenden Generationen ein tiefsitzendes Diktum deutscher Hybris gemacht. Kürzlich erst, am 6. Mai 2013, sprach Christian Lindner, ein führendes Mitglied der deutschen Freien Demokratischen Partei, von Deutschland als »der europäischen Führungsmacht«. Mag sein, dass ihm das in der Rage eine Talkrunde herausgerutscht ist; und vielleicht hat er sich danach selbst auf die Zunge gebissen. Nur wissen wir seit Sigmund Freud, was einem herausrutscht, muss man zuvor verinnerlicht haben.
Andererseits wäre es zu weit hergeholt, wollten wir mit Bertolt Brecht fortfahren und sagen: »Der Schoß ist fruchtbar noch …« So unmittelbar lassen sich Vergangenheit und Gegenwart nicht verbinden. Der historische Kurzschluss würde mehr verschleiern, als er erhellt. Der Antiamerikanismus, den wir unterdessen beinahe schon als festen Bestandteil deutscher Political Correctness ansehen können – die deutsche Bundeskanzlerin reist sehr viel öfter und engagierter nach Moskau oder Peking als nach Washington –, hat nichts mit der Verteufelung des Jazz und dem Verbot der »Negermusik« im Dritten Reich zu tun. Fortdauernd verstörend wirkt etwas anderes: die Selbstverständlichkeit, mit der die Amerikaner für eine existentielle Unabhängigkeit eintreten, die ihnen mehr bedeutet als der gesellschaftlich garantierte Unterhalt. Was daraus resultiert, überragender Erfolg oder bedrohliche Not, weckt ethisch-moralische Vorbehalte, bei denen man im Zweifelsfall bereit wäre, für die grundsätzliche Absicherung den Verlust der Freiheit in Kauf zu nehmen.
Die Versteigerung demokratischer Freiheiten hat Tradition in Deutschland sowie in Österreich. Selbst das Menetekel der Reichstagswahl von 1933 wird darüber leicht vergessen. Als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nach ihrem ersten Wahlsieg 2005 erklärte, jetzt werde ordentlich »durchregiert«, schlug ihr Beifall von vielen Seiten entgegen. 2012 wünschten sich 56 Prozent der Deutschen eine Regierung, die sich mit starker Hand durchsetzt, dem Bürger »Orientierung« gibt und für seine materielle Absicherung sorgt. 1985 hatte der vom Allensbacher Institut für Demoskopie ermittelte Wert noch bei 40, 1994 bei 42 Prozent gelegen.
Offensiver als in den vergangenen Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts rückt derzeit wieder der soziale Aspekt in den Vordergrund der deutschen Demokratiedebatte. Dass dabei die mögliche Einschränkung bestehender Freiheiten verschwiegen wird, muss nicht verwundern. Politische Interessen bestimmen den Diskurs; und die Politiker wiederum wissen, dass sie mit Freiheitsappellen hierzulande so viel nicht ausrichten können – von der Auseinandersetzung um die Internet-Ausspähung ist später gesondert zu handeln. Das wirtschaftlich stärkste Land Europas hat keine Geschichte, die es mit der Demokratie verbinden würde. Das Verhältnis zu der politischen Ordnung, die seinen Bürgern gegeben wurde, ist theoretisch unterkühlt, bar jeglicher Leidenschaft: das Dilemma der geschenkten Demokratie.
Goethes Faust erklärt im ersten Teil seiner Tragödie dem Stubengelehrten Wagner:
»Was du ererbt von deinen Vätern hast,
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