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Gerechtigkeit als Fairness

John Rawls´ Konzeption als Projektionsfläche der gesellschaftlichen Realität in Deutschland

AutorHenri Vogel
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl61 Seiten
ISBN9783640293070
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Bachelorarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Politik - Politische Theorie und Ideengeschichte, Note: 1,0, FernUniversität Hagen, Sprache: Deutsch, Abstract: Die vorgelegte Bachelorarbeit befasst sich mit der Frage, ob Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften möglich ist, und welche Prüf- bzw. Legitimationskriterien für deren Bewertung angelegt werden können. Dazu bedient sich der Autor der Gerechtigkeitskonzeption von John Rawls, stellt diese in Zusammenhang mit neuen Erkenntnissen der Neuropsychologie und der Moralforschung und blickt auf dieser Grundlage dann anhand von Sekundärstudien auf die Chancen(un)gleichheit des Bildungssystems und die geringe soziale Mobilität in der deutschen 'Sperrklinken-Gesellschaft'. 'Mit diesem Dreierschritt ist die Gliederung und Absicht der sehr klar strukturierten und bestechend argumentierten Arbeit umrissen.' (Dr. S. P., Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. München) [Die Arbeitet wurde ausgezeichnet mit einem Förderpreis für herausragende Prüfungsleistungen auf der DIES ACADEMICUS 2009 in Hagen]

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Leseprobe

3      Gerechtigkeit – eine interdisziplinäre Betrachtung


 

Wie im Schlusssatz unter Punkt 2.4 angedeutet, halte ich es für dringend geboten, die zuvor von der politischen Philosophie angebotenen Gerechtigkeitskriterien nachfolgend einem „interdisziplinären Kreuzverhör“ zu unterziehen. Eine umfassende Darstellung der Erkenntnisse einzelner Forschungsgebiete erscheint mir dabei unumgänglich. Es wird sich zeigen, dass der Forschungszusammenhang zur hier gestellten Frage nach den in der Realität anwendbaren Kriterien einer gerechten Gesellschaft stets gewahrt bleibt.

 

3.1    Neuropsychologie und Moralforschung


 

Der erste prüfende Blick fällt auf einen ebenso nachvollziehbaren wie wesentlichen Hinweis auf eine Inkonsistenz der Rawlsschen Theorie. Er lautet, es würde ihr die normative bzw. legitimatorische Kompetenz fehlen, da Rawls „bei seiner Begründung der Gerechtigkeitsprinzipien einen Gerechtigkeitssinn voraussetzt, im Gerechtigkeitssinn aber schon ein normatives Leitprinzip, die Unparteilichkeit, enthalten ist“[56]. Noch dazu besteht ein Dilemma darin, dass Rawls die Stabilität von Gerechtigkeitsvorstellungen in einer Gesellschaft als Ergebnis gerechter Grundstrukturen und Institutionen der Gesellschaft erwartet. Ohne eine grundsätzliche entsprechende Disposition des Menschen zu gerechtem Handeln (im Sinne der Rawlsschen Kriterien) ist jedoch weder eine Entscheidung zugunsten dieser Kriterien hinter dem theoretischen Schleier des Nichtwissens, noch die Entstehung und Stabilisierung einer solchen Gesellschaft in der Realität plausibel. Dies führt direkt zur Suche nach einem nicht nur theoretischen „intuitiven Gerechtigkeitssinn“. Der Nachweis eines universellen angeborenen „Moralsinns“ würde diese Theorieprobleme auflösen. Es stellt sich also die Frage, ob moralisches, ob gerechtes Verhalten ausschließlich im kulturellen Kontext erlernt wird, oder auf einer anthropologischen Basis fußt. Wissenschaftler hegen tatsächlich schon lange den Verdacht, dass viele normative Elemente des menschlichen Zusammenlebens bereits im Zuge der Evolution quasi in der Biologie des Menschen angelegt wurden. Weltweite Aufmerksamkeit erregte diesbezüglich der Verhaltensforscher Frans de Waal und seine Mitarbeiterin Sarah Brosnan mit einem in der Zeitschrift „Nature"[57] publizierten Experiment mit Kapuzineraffen. Die beiden Forscher haben den Tieren Tauschgeschäfte beigebracht, bei denen es einen Leckerbissen für die Abgabe eines Tauschobjektes gab. Die Äffchen lernten, z.B. Kieselsteine oder Plastikspielzeug gegen ein Stück Gurke, oder gar eine besonders beliebte Traube zu tauschen. Wenn man einen der Affen jedoch beobachten ließ, wie im Käfig nebenan einer der Artgenossen für dasselbe Spielzeug nicht wie er eine Gurke, sondern die begehrten Trauben bekam, war es schnell um die Zufriedenheit des „ungerecht Behandelten“ geschehen. „In der Hälfte solcher Fälle feuerte der zu kurz Gekommene seine Gurke in die Ecke, oder er verweigerte schlicht die Annahme des Tauschgeschenks. Noch eindeutiger war die Reaktion, wenn der Nachbar seine Trauben bekam, ohne sein Plastikspielzeug hergeben zu müssen. Offenbar angewidert von der himmelschreienden Ungerechtigkeit, rebellierten vier von fünf der benachteiligten Affen.“[58] Rational ist ein solches Verhalten natürlich nicht, denn eine Gurke ist immer noch besser, als gar kein Leckerbissen. De Waal bezeichnet dies als Nachweis eines Sinns für Fairness.[59] Dies ist umso erstaunlicher, als es sich bei den Kapuzineraffen noch nicht einmal um Menschenaffen handelt. Aber warum sollte sich im Laufe der Evolution eine Sensibilität für Fairness durch natürliche Selektion herausgebildet haben? Eine Antwort darauf steht noch aus. Als Hinweis auf ein biologisches Erbe werten de Waal und Brosnan aber die Geschlechterunterschiede: „Fast immer sind es die Weibchen, die sich ungerecht behandelt fühlen und entsprechend reagieren. Den männlichen Kapuzineraffen ist Fairneß – zumindest wenn es um das Futter geht – weniger wichtig. Ein soziobiologisch durchaus plausibler Unterschied: Nahrung ist in den meisten sozialen Gesellschaften Sache der Weibchen, für Männchen geht es vor allem bei der Fortpflanzung um die Wurst.“[60] Auch in der menschlichen Psychologie ist die These der Geschlechtsunterschiede bei der Bewertung von Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit bekannt. Die Behauptung der US-amerikanischen Psychologin Carol Gilligan, nach der es beim Menschen eine typisch männliche (Gerechtigkeit) und typisch weibliche (Fürsorge) Moral gibt, wurde empirisch zwar nicht bestätigt[61]. Allerdings belegen Studien durchaus, dass z.B. die moralischen Werte von Mädchen viel stärker auf sozialen Idealen beruhen, während sich Jungen eher an materialistischen Zielen und Wettbewerbsdenken orientieren.[62] Dass dies ganz wesentlich von den Sozialisationsbedingungen abhängt, liegt nahe. Daraus die Unvergleichlichkeit von Mensch und Affe abzuleiten, wäre aber leichtfertig, da die Sozialisation hier ebenfalls eine Rolle spielt. So lassen sich z.B. junge, hierarchiegewohnte, futterneidische Rhesusaffen von älteren toleranten und freundlichen Makaken dauerhaft in ihrem Sozialverhalten beeinflussen und behalten dieses auch bei.[63] Der Vergleich zwischen Tier und Mensch erscheint trotzdem absurd, da es uns die menschliche Fähigkeit zur Reflexion ermöglicht, Situationen rational zu bewerten und unser Handeln danach auszurichten. Doch tun wir dies tatsächlich? Zumindest „Hirnscans legen den Verdacht nahe, dass unsere moralischen Urteile weniger auf rationalen Denkprozessen gründen, als vielmehr in emotionalen Intuitionen.“[64] Es sind verschiedene neuropsychologische Modelle, die derzeit darum konkurrieren, das ethische Handeln von Menschen zu erklären.

 

Ein grundlegender Ansatz der Moralforschung basiert auf der Ansicht des Psychologen Jean Piaget, der den Reifegrad eines Individuums als entscheidendes Kriterium betrachtete. Das hierauf basierende Stufenmodell von Lawrence Kohlberg identifiziert 6 Stufen des moralischen Urteilsvermögens angefangen vom reinen Egozentrismus kleinerer Kinder bis zur Orientierung an universellen Prinzipien, welche nur ethisch besonders reife Menschen erreichen.[65] Doch emotionale Einflüsse bleiben bei diesem Modell außen vor, und neuere Untersuchungen konnten bereits bei Dreijährigen die Fähigkeit zur Unterscheidung von moralischen Verfehlungen und sozialen Konventionen belegen.

 

Die neuere „sozial-intuitionistische“ Theorie des Wissenschaftlers Jonathan Haidt geht davon aus, dass der Mensch Sachverhalte automatisch und quasi intuitiv bewertet. „Rationale Begründungen spielen dabei eine untergeordnete Rolle.“[66] Den neuronalen Aufruhr zwischen den Schaltstellen für Emotionen einerseits und Arealen eher kognitiver Funktionen im menschlichen Gehirn andererseits untersuchte der Moralphilosoph Joshua Greene mit bildgebenden Verfahren, während er Probanden moralische Dilemmata durchdenken ließ. Ähnliche Untersuchungen des US-Wissenschaftlers Jorge Moll oder von Hauke Heekeren an der Berliner Charité weisen auf ein klar umrissenes neuronales „Moralnetzwerk“ hin. In diesem Netzwerk interagieren verschiedene Bereiche unseres Gehirns, wenn wir moralische Entscheidungen zu treffen haben.

 

 

Abbildung 2 (aus: Gehirn & Geist 1-2/2008, S.47)

 

Nach Greenes Konflikt-Kontroll-Theorie hilft der DLPFC, ethische Hürden zu überwinden, die u. a. von den ventromedialen Arealen aufgestellt werden. OFC und Amygdala sind ebenfalls Schaltstellen der emotionalen Bewertung. STS und PCC sind vor allem dann an Entscheidungen beteiligt, wenn es einen Bezug zur eigenen Person gibt. Der Psychologe und Primatenforscher Marc Hauser erklärt diese hirnphysiologischen Abläufe mit einem Ansatz, der an die Vorstellung des Linguisten Noam Chomsky von einer angeborenen Tiefengrammatik angelehnt ist. Chomsky geht dabei von einem grundlegenden Repertoire grammatikalischer Urregeln aus, die im Laufe der Evolution dauerhaft im Gehirn „verdrahtet“ wurden. Die Umwelt entscheide dann lediglich darüber, welche der komplexen menschlichen Sprachen auf dieser Basis erlernt werden. Dieses Erklärungsmodell lässt sich auch auf andere menschliche Fähigkeiten ausweiten. Das Grundverständnis für Objekte, Zahlen und Personen scheint ebenso angeboren zu sein. Nach Hauser besitzt der Mensch nach diesem Prinzip auch einen angeborenen Moralsinn. Eine Annahme, die auch Matthias Mahlmann von der FU Berlin und John Mikhail vom Georgetown University Law Center in Washington D.C. teilen. Mikhail war es auch, der in seiner im Jahr 2000 veröffentlichten Dissertation darauf hinwies: „Rawls was one of the first philosophers to notice the potential implications of Chomsky´s project for moral philosophy. In A Theory of Justice, he pointed to several structural similarities between the explicative or descriptive part of ethics and theoretical linguistics, and suggested that just as the latter studies aspects of linguistic competence, so the former should be directed toward investigating our moral competence, or what Rawls there called our ´sense of justice´ [Hervorh. im Orig.]”[67]  Auf dem heutigen Kenntnisstand können die Wissenschaftler – über das angesprochene neuronale Moralnetzwerk hinaus – die These vom Moralsinn mit weiteren Argumenten untermauern....

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